Wiederholung und Variation
Ilma Rakusas Rede zur aufzählenden Lyrik
Von Michael Duszat
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseListen, Litaneien, Loops ist der Abdruck einer im Mai 2016 gehaltenen Rede der Autorin Ilma Rakusa und ist in der Reihe „Münchner Reden zur Poesie“ erschienen. Der Zweck der Rede ist die Vorstellung mehrerer Listengedichte und deren anschließende kritische Beurteilung, und zwar, wie Rakusa schreibt, „immer mit Blick darauf, wo der poetische Mehrwert dieses oder jenes Gedichtes liegt“.
Dass die Rednerin ein persönliches Interesse an der aufzählenden Liste hat, macht sie durch eine autobiografische Herleitung deutlich: „Es begann in der Kindheit, als ich mich an Gedichten, die mir Mutter aufsagte oder vorlas, nicht satt hören konnte“. Wie in diesem ersten Satz geht es insgesamt relativ feierlich zu in Rakusas Rede. Das wirkt gelegentlich etwas albern, wie etwa in der folgenden Passage: „Oh ja, ich bin oft über Mutters Stimme eingeschlafen, im Bett, auf den Strandfelsen von Barcola, glücklich. Selbst wenn ich krank war, wirkte das süße Gift der Gedichte.“
Im Rest des Textes führt uns Rakusa durch eine kurze Geschichte der Listengedichte, von sumerischen Lobgedichten über mittelalterliche katholische Preislieder bis ins 20. Jahrhundert. Hauptsächlich aus diesem stellt sie einzelne Gedichte auszugsweise oder komplett vor und kommentiert sie anschließend. Die Liste aller DichterInnen, von denen Rakusa ein, manchmal auch zwei Gedichte vorstellt und (mit einer Ausnahme) lobt, umfasst (in der Reihenfolge, in der sie vorkommen) Paul Éluard, Friederike Mayröcker, Velimir Chlebnikov, Inger Christensen, Danilo Kiš, Heimrad Bäcker, Günter Eich, Ernst Jandl, Robert Lax, Nora Gomringer, Joseph Brodsky, Armin Senser, Thomas Kunst, Lucas Cejpek und Margret Kreidl.
Die Besprechungen lesen sich zum großen Teil wie normales Feuilleton, das heißt Rakusa versucht ihre LeserInnen durch den unmittelbaren Ausdruck eigener Leseerfahrungen vom Wert des Besprochenen zu überzeugen. Zum Beispiel fällt es der Kritikerin beim Lesen „schwer abzubrechen“, sie findet ein Gedicht „faszinierend“ oder „liest mit gespannter Neugier“; ein Gedicht „entfaltet eine betörende Musikalität“ und ist „von suggestiver Kraft“; eines „entbehrt nicht der Komik“; ein anderes „vermag zu überzeugen“; und ein wieder anderes ist „nicht eindeutig zu interpretieren“.
Wenn Rakusa versucht, ihre Wertungen in Analyse zu überführen, setzt sie gerne Pathos und Buzzwords ein, so zum Beispiel in ihrer Deutung eines Gedichtes von Velimir Chlebnikov: „Durch seine Selbstreferentialität vollzieht das Gedicht eine Volte ins Subversive, dekonstruiert den feierlichen Anrufungsmodus und das Genre selbst“. Und zu den „litaneienhaften Gedichten“ schreibt sie zwar einleuchtend, aber umständlich formuliert: „Da sie strukturell auf Wiederholung basieren, liegt ihr Potential in der Entfaltung dessen, was variiert“, was wohl einfach heißen soll, dass auch bei einer Litanei Wiederholen ohne Abwechslung nicht sehr interessant ist.
Die angesprochene Verbindung von Wiederholung und Variation betrifft praktisch alle im Buch vorkommenden Gedichte. Es handelt sich um den wohl wichtigsten Gedanken des Buches zu einer Poetik der lyrischen Liste. Wie Rakusa an anderer Stelle treffend sagt, geht es bei aufzählenden Gedichten immer um die eigentümliche „Verbindung von Muster und Musterstörung, Serialität und Improvisation, Strengheit und Phantasie“. Auch der im Untertitel angesprochene Gegensatz von „Inventar“ und „poetischer Anrufung“ passt in diese Reihe von Spannungen, die sich bei vielen Listengedichten ergeben.
Wie genau solche Spannungen zu Stande kommen, warum die Form des Listengedichtes so häufig praktiziert wird und gleichzeitig so ungewöhnlich erscheint, und was genau die zentralen Begriffe voneinander unterscheiden könnte – was also eine Liste ausmacht, was eine Litanei im Gegensatz zu einem litaneihaften Gedicht sein könnte, oder was ein Loop im Gegensatz zu einer Wiederholung ist –, das erfahren wir nicht. Indem Rakusa ihr Publikum durch eine persönliche Auswahl von Listengedichten führt, erreicht sie immerhin, dass sich die Vielfalt der Form am Ende etwas besser absehen lässt. Wer danach weiter forschen möchte, kann weitere Aspekte und Thesen zur literarischen Liste sowie viele weitere Beispiele für aufzählende Lyrik in Umberto Ecos Die unendliche Liste und Sabine Mainbergers Die Kunst des Aufzählens finden.
|
||