Ein Mischwesen der besonderen Art

Der von Judith Keilbach und Thomas Morsch herausgegebene Sammelband „Zwischen Raubtier und Chamäleon“ macht erstmals Gertrud Kochs vielfältige Arbeitsfelder zugängig

Von Michael BurgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Burger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gertrud Koch gehört zu den renommiertesten und am meisten publizierenden Autor_innen der deutschsprachigen Filmwissenschaft. Ihre Impulse für die feministische Filmtheorie, beispielsweise in Form ihrer Dissertation Was ich erbeute, sind Bilder und als Herausgeberin der Zeitschrift Frauen und Film, sind ebenso richtungsweisend wie ihre Arbeiten zur Bildpolitik des Films, etwa ihre Überlegungen zur medialen Sichtbarkeit des Judentums und ihre vertiefenden Gedanken zu der von der Kritischen Theorie proklamierten Kulturindustrie. Der vorliegende Sammelband mit Aufsätzen Kochs bündelt die Diversität ihrer akademisch-publizistischen Tätigkeit sowohl in inhaltlicher als auch zeitlicher Hinsicht.

Neben einem Vorwort der Herausgeber_innen und einem Einleitungstext von Gertrud Koch sind die Aufsätze in fünf Kategorien aufgeteilt: „Kultur der Massenmedien“, „Bilder und Politik“, „Erinnern und Vergessen: Der Holocaust im Film“, „Der Körper und sein Schatten“ und „Zeigen, Berühren, Bewegen: Film und Affekt“, wobei die Texte den Zeitraum von 1990 bis 2012 abdecken.

Absolut lesenswert präsentiert sich Kochs Einleitung „Zwischen Raubtier und Chamäleon“, die dem Sammelband zugleich den Titel gibt. Darin wird die Rolle der Filmwissenschaft, angesichts der zunehmenden Digitalisierung und einer gewissen Obsoletheit einer akademischen Disziplin, die sich mit einem scheinbar aussterbenden Medium beschäftigt, verhandelt. Dafür bedient sich Koch eines eindrucksvollen und starken Bildes: Die Geschichte der Filmwissenschaft ist eine zwischen Raubtieren, die durch die voranschreitende Technisierung die Disziplin stets herausfordern, und Chamäleons, die sich der Umwelt permanent anpassen. Die Filmwissenschaft ist damit nicht eine teleologische Erzählung der Technik, sondern ihre Aufgabe besteht darin, die Pluralität der ästhetisch und filmtechnisch verhandelten Diskurse kritisch zu reflektieren.

Dieser einleitende Text skizziert dadurch die Programmatik des Sammelbandes und die Filmwissenschaft wird als per se interdisziplinär ausgewiesen. Diese Interdisziplinarität spiegelt sich auch in den Bezugnahmen Kochs wider, die von einem hohen theoretischen Wissen und Verständnis zeugen. So werden filmwissenschaftliche, (film-)philosophische, medientheoretische, psychoanalytische und kulturtheoretische Ansätze mit einbezogen, um die Probleme, die sich der Filmwissenschaft stellen, auch auf andere Gebiete auszuweiten, um Fragestellungen unter veränderten Bedingungen zu reformulieren und zu konturieren, ohne zugleich die Lösung woanders her zu beziehen.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Aufsatzreihe mit „Gefallen ohne Gefälligkeit: Der Film als Massenkunst“ beginnt, in dem Koch der Frage nachgeht, inwiefern Film eine Kunst sei. Anhand der diametralen Positionen von Theodor W. Adorno und Stanley Cavell sowie Samuel Becketts Film und den Komödien der Marx Brothers wird der Film dahingehend eingeordnet, dass er als Medium keinerlei Auskunft über seinen Kunstcharakter aus sich selbst heraus geben kann. Gerade aus der Oszillation zwischen Kunst und Kommerz bezieht der Film seine Eigentümlichkeit und sein ästhetisches Potenzial. Schon hier wird ihr Zugang deutlich: Filme sind keine hermetisch abgeschlossenen Werke, sondern sie sind stets eine Aufforderung, sich umfassend mit außerfilmischen Themen auseinanderzusetzen.

Dieser Umstand schlägt sich auch sprachlich-argumentativ wieder. Oftmals lässt Koch die Ambivalenzen, die durch einen Film eröffnet werden, bestehen, um so die konstitutive Offenheit, die sie den Filmen attestiert, im Schreiben über Film wiederzugeben. Damit erzeugen auch die Aufsätze eine außertextuelle Dimension, die nach weiterer Diskursivierung verlangt, um den Dialog aufrechtzuerhalten.

Kochs Texte entfalten vorwiegend dann ihre argumentative Wirkmacht, wenn sie sich direkt auf Filme bezieht und sie in einen größeren gesellschaftlichen, sozialen und politischen Kontext einbettet. So verhandelt sie anhand von John Fords The Man Who Shot Liberty Valance den paradoxen, von Jaques Derrida festgestellten Charakter des Rechts, da jenes Gewaltlosigkeit proklamiert, selbst aber nicht ohne Gewalt in der Umsetzung auskommt. Oder auch die Verschränkung von Todesmotiven und verschiedenen musikalischen Rhythmisierungen in Dancer In The Dark von Lars von Trier, in der sich das Visuelle und das Auditive unweigerlich verzahnen.

Kern des Sammelbandes sind sicherlich die Texte zu Filmen über den Holocaust und über die Verhandlungen von jüdischer Identität. Zentral erscheint hierbei die Fragestellung, wie eine Erinnerungspolitik, die die Toten nicht mythisch überhöht, die Gräuel darstellbar machen kann. Wo Adorno noch meinte, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, plädiert Koch für die Notwendigkeit einer künstlerischen Position, da durch sie Unerfahrbares ins Feld des Erfahrbaren rückt, was sie anhand von Claude Lanzmanns Shoah, Art Spiegelmanns Comic Maus und Steven Spielbergs Schindlers Liste – als Negativbeispiel – exemplifiziert. Und dennoch haben Koch und die Kritische Theorie eins gemeinsam: Es geht um ein intervenierendes Schreiben gegen das Vergessen, um ein Erinnern, das nicht sentimentalisiert und lähmt, sondern sich aktiv-kritisch mit den produzierten und fiktionalisierten Bildern des Holocaust beschäftigt.

Neben diesen anschaulichen Texten thematisiert der Band auch Kochs theoretische Überlegungen zum Medium Film. Ihr Ansatz einer politischen Ästhetik in „Bilderpolitik im Ausgang des monotheistischen Bilderverbots und die Begründung einer politischen Ästhetik“ ist gleichermaßen elaboriert und erkenntniserweiternd, wenn von Platon kommend über Immanuel Kant bis zu Georges Didi-Huberman eine Politik des Bildes eingefordert wird. Ebenso löst sie in „Zwischen Berührungsangst und Schutzfunktion“ Sigmund Freuds Begriff des Tabus aus seinem psychoanalytischen Kontext und erweitert es auf mediale und kulturelle Dispositive. Hier zeigt sich jedoch ein kleiner Nachteil an Kochs offener Schreibweise, wenn die teilweise sehr abstrakten Gedankengänge mangels sprachlicher Präzision nicht immer ganz schlüssig erscheinen. 

Darüber hinaus weisen einzelne Beiträge kleinere Schwächen auf. Der Text zu Animationsfilmen wirkt durch seine Bezugnahmen auf Siegfried Kracauer, Henri Wallon und Sergei Eisenstein antiquiert, da die neuere Forschung nicht berücksichtigt wird, wodurch die These des Experiments hätte anschaulicher gemacht werden können. In „Von der Tierwerdung des Menschen – zur sensomotorischen Affizierung“ vermisst man surrealistische Theorien und Perspektiven, die sich dezidiert mit diesem Themenkomplex beschäftigt haben, wenn von der Durchlässigkeit der Grenze zwischen Mensch und Tier die Rede ist. Ebenso widmet sich Koch in ihrem Text zu Alexander Kluges Affinitität zur Oper nicht der werkinhärenten Diskrepanz Kluges, die auf der einen Seite einem Gesamtkunstwerk Wagner’scher Prägung ablehnend gegenübersteht, auf der anderen Seite die Oper aber glorifiziert.

Dies alles fällt jedoch nur unwesentlich ins Gewicht, da der Band stets zum (Mit-)Denken einlädt, was durch die angenehme Sprachwahl und Verständlichkeit grundgelegt ist. Koch gelingt es, die Komplexität einzelner Filme und Theoreme auf den Punkt zu bringen, Ästhetik und Ethik aufeinander zu beziehen und die Verflechtung des Films mit anderen Künsten aufzuzeigen. Der Sammelband ist ein Beweis dafür, dass Koch zu einer der wichtigsten Stimmen in der deutschsprachigen Filmwissenschaft zählt. Weder Raubtier, dass alle Diskussion beendet, noch ein Chamäleon, das in der Unsichtbarkeit verschwindet, sondern ein Mischwesen von ungeahnter Prägnanz und Offenheit.

Titelbild

Gertrud Koch: Zwischen Raubtier und Chamäleon. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur.
Herausgegeben von Judith Keilbach und Thomas Morsch unter Mitarbeit von Julia Rintz und Michael Ufer.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
359 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770558360

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