Emotionale Primetime

Heinz Strunk begeistert mit „Jürgen“

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinz Strunk ist ein Universalkünstler. Schon 1993 wagte er sich mit seinem skurrilen Soloalbum Spaß mit Heinz erstmals an die Öffentlichkeit, 1995 verewigte er sich dann mit einem Querflötensolo auf dem Ärzte-Album Planet Punk. Es folgten die Jürgen-Dose-Show auf Radio Fritz und eine eigene Fernsehsendung auf VIVA. Als Mitglied des Humoristentrios Studio Braun machte Strunk den Telefonstreich vielleicht nicht salon-, aber zumindest wohnzimmerfähig. Mit Fraktus erfand er (vermeintlich) den Elektropop und revolutionierte gleichzeitig die deutschsprachige Mockumentary. Er wirkt in Filmen mit, tritt in Musicals auf und spielt Theater, arbeitet als „Experte für alles“ bei extra 3, verfasst in der Intimschatulle Kolumnen für die Titanic und engagiert sich politisch in der Satirepartei DIE PARTEI.

Seit 2004 schreibt Heinz Strunk auch noch Bücher. Seine literarische Karriere begann mit dem anekdotisch-autobiographischen Roman Fleisch ist mein Gemüse, der sich zwar hundertausendfach verkaufte, aber eher als Kult denn als Kultur wahrgenommen wurde. Mit Fleckenteufel legte er fünf Jahre später eine unappetitliche Geschichte über eine christliche Jugendfreizeit im Sommer 1977 nach – ein Buch, das von den vielen uninspirierten Feuchtgebiete-Nachfolgern noch der inspirierteste war. Mit seinem einfühlsamen Generationenportrait Junge rettet Freund aus Teich schwang sich Strunk 2013 dann erstmals zu großen literarischen Höhen auf und bewies endgültig, dass er viel mehr ist als nur der lustige „Heinzer“.

Sein letzter Roman, die beeindruckende Milieustudie Der Goldene Handschuh, wurde vom Feuilleton gefeiert, von den Lesern geliebt und von den Preisjurys bejubelt. Die Geschichte des mehrfachen Frauenmörders Fritz Honka war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, stand auf der Shortlist des Hubert-Fichte-Preises und gewann den Wilhelm-Raabe-Preis. Folgerichtig wurde Strunk auf Buchmessen, Branchentreffs und Verlagsfesten herumgereicht. Und darüber wunderte sich wohl niemand so sehr wie der Autor selbst, der sich über den Literaturbetrieb und seine Rolle darin immer wieder irritiert zeigte: „Ich bewege mich gelegentlich in kulturell extrem elitären Kreisen“, erklärt er etwa bei Fest & Flauschig, dem Podcast von Jan Böhmermann und Olli Schulz. „Das sind einfach Kreise, die ich jetzt mal so kennengelernt habe, aber wo ich mich natürlich null Komma null auskenne. Die haben eine gewisse instinktive Überlegenheit, was einige Dinge angeht, da komme ich sowieso nicht mehr rein. Auch aufgrund ihrer enormen Bildung. Da konnte ich mit meinem kleinbürgerlichen Hintergrund schwer mithalten.“ Strunk schafft es, auf dem Blauen Sofa über anspruchsvolle Literatur zu diskutieren und dabei den Eindruck zu erwecken, als säße er eigentlich lieber beim Herrengedeck in einer Kiezkneipe.

Mit Jürgen legt Strunk nun seinen sechsten Roman vor. Und bevor man dieses Buch aufschlägt, weiß man nicht, was man erwarten soll: Will er den Verkaufserfolg seines Erstlings toppen? Oder versucht er, in die literarischen Fußstapfen seines letztjährigen Meisterwerks zu treten? Er wählt keine dieser Alternativen und tut stattdessen, was man eigentlich von ihm erwartet: Er überrascht. Denn diese Geschichte über Männer und Frauen, über peinliche Flirtversuche und das Schattenreich der Eheanbahnungsagenturen, über die Leiden eines alleinlebenden Mittvierzigers passt nicht wirklich zu den bisherigen Werken des Autors. Dennoch entpuppt sich der Roman bei genauerem Hinsehen als echter Strunk: Das Buch besticht durch seinen bizarren Humor, fasziniert durch seinen authentischen Ton und glänzt durch seine schrulligen Figuren.

Das gilt vor allem für Jürgen Dose, den Protagonisten und Titelhelden des Romans. Jürgen ist verzweifelter Junggeselle und unverbesserlicher Optimist in Personalunion. Gemeinsam mit seinem Freund Bernd, mit dem ihn eine ausgeprägte Hassliebe verbindet, quält er sich durch die drei Kreise der Alleinstehendenhölle: Singlebörse, Speed-Dating und Partnervermittlung. Die Leser begleiten Jürgen zur ersten Verabredung mit Onlinebekanntschaft Manu, beobachten ihn bei erfolglosen Eroberungsversuchen im Supermarkt und folgen ihm nach Breslau, wo heiratswillige Traumfrauen scharenweise auf deutsche Männer warten sollen. Während er sich nach Polen träumt, wird seine Situation in Deutschland immer prekärer: Im Schlaf wird Jürgen von Erinnerungen an seine Kindheit heimgesucht, auf der Arbeit wächst der Stress und daheim gibt es auch nur Probleme. Er wohnt zwar nicht mehr bei seiner Mutter, aber dafür seine Mutter bei ihm. Seit einem Unfall ist sie bettlägerig; Jürgen übernimmt die Pflege pflichtbewusst, aber nicht besonders herzlich. Seinen Job als Tiefgaragenpförtner bezeichnet er hingegen als „Traumberuf“.

Strunk zeichnet diesen Charakter mit liebevoller Hingabe. Jedes Detail stimmt. Die Rituale, an die sich Jürgen klammert, sind glaubwürdig, seine Lebensweisheiten der Realität entnommen, seine Sprache lebensnah. Das zeigt sich besonders am nostalgischen Regiolekt, in dem der Ich-Erzähler seine Biographie verfasst: Kleine Jungen nennt er „Steppkes“, die Krankheit seiner Mutter „Maleschen“, und seinen besten Freund hat er nicht vor vielen Jahren kennengelernt, sondern „anno dunnemals“. Der Autor hält sich bei alledem vornehm zurück und betrachtet die Aktionen seines Protagonisten kopfschüttelnd aus der Distanz. Und so kalauert sich Jürgen ungehindert durch seine Geschichte, schließlich ist er der ungekrönte König des Sinnspruchs: „Luftschlösser brauchen keine Baugenehmigung“, weiß er etwa, oder: „Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht“. In solchen Momenten spielt der Text mit seiner Nähe zum albernen Trash, verlässt jedoch nie die Gefilde gelungener Rollenprosa.

Strunk erzählt so einfühlsam über diese Figur, weil er sie schon seit Jahren kennt. In den Neunzigern widmete er ihr eine Radioshow, in den Zweitausendern die kauzige Sketch-CD Trittschall im Kriechkeller – Jürgen Dose erzählt aus seinem Leben. Hier sind bereits einige Figuren, Motive und Kapitel des Romans angelegt. Ende März 2017 erscheint außerdem das Album Die gläserne MILF, das Strunk als „Soundtrack zum Roman“ ankündigt. Die Hörprobe, die auf der Website des Rowohlt Verlags abgerufen werden kann, klingt vielversprechend: Jürgen wird hier unter anderem als „Ravioli-Typ“ bezeichnet – „außen weich und innen weich.“

Als solcher nähert sich Jürgen dem Thema „Frauen“ eher theoretisch:

Damit der Flirt nicht im Frust endet, sollte man aufmerksam die Körpersprache der Frau registrieren. Denn Körpersprache (wozu auch die Gesichtsmimik zählt) hat gegenüber der gesprochenen Sprache einen Vorsprung von Hunderten Millionen Jahren (Evolution). Der Mensch ist zunächst einmal ein nonverbales Wesen, wobei das Gesicht viel wichtiger ist als der Körper (Face-Body-Advantage). Es macht zwar nur fünf Prozent unserer gesamten Körperoberfläche aus, ist aber in Sachen nonverbaler Ausstrahlung Klassenprimus.

Der Anhang verdeutlicht, dass solche Sätze tatsächlich existierenden Ratgebern entlehnt sind. Bücher wie Nina Deißlers Mission Traumfrau oder Matthias Pöhms Ich kann euch alle haben. Der entschlüsselte Verführungscode stehen Pate für Jürgens Erkenntnisse über die Frauenwelt. Dadurch lesen sich Teile des Romans wie das Lehrbuch eines Experten, der auf seinem Fachgebiet hoffnungslos versagt hat; das Buch lässt sich also als eine Abrechnung mit selbsternannten Experten, überheblichen Gurus und Bauernfängern aller Art verstehen.

In den ansonsten realistischen Roman webt der Autor einige Absurditäten: Da ist von einem Diabetikertier die Rede, von der Mikropilzkrankheit und von spontaner Selbstentzündung. Dadurch wirkt der Text, der eigentlich erschreckend lebensnah ist, stellenweise surreal. Strunk ironisiert damit das Frauenbild seines Protagonisten, kritisiert die Objektifizierung eines Geschlechts und entlarvt die Lebensphilosophie eines Menschen, der versucht, die Liebe in Formeln zu berechnen. In einer Welt, in der die zwischenmenschliche Anziehungskraft auf angelesene Bonmots reduziert wird, muss man eben jederzeit damit rechnen, dass ein Mensch plötzlich Feuer fängt.

Weil der Gesamteindruck so positiv ist, fallen die kleinen Schwächen des Romans kaum ins Gewicht. Dennoch irritiert, wie Strunk ständig neue Figuren einführt, um sie nach wenigen Seiten wieder fallenzulassen. Viele seiner Charaktere sind so kurzlebig wie Bekanntschaften aus dem Onlinedating: Seinem mysteriösen Bekannten Herrn Owusu, seinem ehemaligen Nachbarn Herrn Schrahn oder seinem Vorgesetzten Herrn Schmidt widmet er jeweils nur eine kurze Anekdote, bevor er sie wieder vergisst. Zwar verzichtet Strunk absichtlich darauf, alles Erwähnte am Ende durch einen roten Faden zu verbinden, doch verwundert diese Entscheidung in Anbetracht des ansonsten runden Gesamtbildes. Außerdem ist ein Klischee, das der Autor bewusst einsetzt, noch immer ein Klischee. Insgesamt ist Jürgen aber trotzdem ein wundervolles Buch, in dem sich Strunk wieder einmal als humorvoller Beobachter, talentierter Sprachkünstler und begnadeter Charakterschmied erweist.

Während die Fragen, die vor der Lektüre im Raum standen, damit beantwortet sein sollten, bleibt die Ungewissheit über das weitere Schicksal dieses Romans. Es wird spannend sein, zu beobachten, wie Presse, Preisjurys und Publikum Jürgen aufnehmen, denn daran wird man erkennen können, welche Rolle die Themenwahl für die literaturkritische Bewertung eines Buchs spielt und wie wichtig die Beschaffenheit eines beschriebenen Milieus für die Chancen eines Romans im Kreis der Hochliteratur ist. Denn natürlich ist Jürgens Liebessehnsucht ein bisschen weniger existenziell als Fritz Honkas Suche nach Mordopfern. Der goldene Handschuh war extremer in seiner Darstellung, abgründiger in seinen Themen und radikaler in seiner Sprache – was jedoch vor allem den dargestellten Figuren zuzuschreiben ist. Jürgen ist gemäßigt, weil der Protagonist ein gemäßigter Charakter ist. Doch sollten sich die Leser davon nicht über die Qualität dieses Romans täuschen lassen, schließlich hat es insgesamt ganz ähnliche Vorzüge wie Strunks Opus Magnum: Jürgen und Der goldene Handschuh teilen sich die gelungene Situationskomik, den ausgefeilten Sprachwitz, die facettenreiche Komposition des Protagonisten und einen Plot, der die allgemeine Abgründigkeit der Welt wirkungsvoll veranschaulicht. Hier wie dort trifft der Autor den Ton des studierten Milieus perfekt. Doch wird ein Buch auf die Shortlist gesetzt, das einen verzweifelten Mittvierziger zum Protagonisten macht anstatt einen berüchtigten Frauenmörder? Sind Romane über das Hamburger Singleleben ebenso preisverdächtig wie über Absturzkneipen auf der Reeperbahn? Es bleibt abzuwarten. Das Feuilleton dürfte sich mit diesem Buch schwer tun. Strunks Leserschaft hingegen wird es lieben – und zwar völlig zu Recht.

Titelbild

Heinz Strunk: Jürgen. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
255 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035747

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch