Der Solitär und die Tradition
Christian Riedels Studie verfolgt Traditionslinien in Peter Kurzecks Erzählkosmos
Von Carina Berg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGut drei Jahre nach dem Tod von Peter Kurzeck liegt nun die erste literaturwissenschaftliche Monographie zum erzählerischen Werk des Frankfurter Autors vor. Das Anliegen von Riedels Studie ist es, der Feuilletonrezeption Kurzecks als singulärer Autor in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ein differenzierteres Bild gegenüberzustellen. Peter Kurzeck, der stets als ein äußerst idiosynkratischer Erzähler und Solitär der deutschen Literaturlandschaft – eigentlich als ein Geheimtipp – wahrgenommen worden ist, sei ein Autor, dessen Werk sehr wohl auf verschiedene Traditionslinien rekurriert.
Auf den ersten Blick mag diese These banal klingen, denn kein Autor, keine Autorin schreibt in einem Vakuum der Einflusslosigkeit. Doch ist gerade dieses Aufzeigen von Einflüssen, das kritische Verorten von Texten in Traditionslinien Aufgabe der Literaturwissenschaft, die damit über Meinungen und erste Einordnungen durch einen literaturkritischen Diskurs hinausgeht. Riedels Analyse überzeugt durch einen großen Beobachtungs- und Detailreichtum, der vielfältige Anschlussmöglichkeiten eröffnet.
Argumentativer Aufhänger der Studie ist eine kritische Sichtung der Feuilletondiskussion, denn Kurzecks Werk ist – wie es wohl für einen Gegenwartsautor, der zwar zahlreiche Preise gewonnen und Aufmerksamkeit in überregionalen Medien erfahren hat, üblich ist – akademisch wenig rezipiert worden; Riedel füllt hier eine Lücke der germanistischen Forschung. Im Falle von Peter Kurzeck haben Kritiker immer das Solitäre und das Unzeitgemäße seines Schreibens betont. Zwar wurden Kurzecks utopischem Erinnerungsprojekt zwischen realistischer Darstellung und poetischer Überhöhung schnell die Etiketten ‚oberhessischer Proust‘ beziehungsweise ‚oberhessischer Joyce’ angehängt, doch sah man ihn meist als einen Sonderling der deutschen Gegenwartsliteratur (was in den allermeisten Fällen natürlich als euphorisches Lob gemeint war).
Riedel versucht, dieses Bild geradezurücken und es mit fundierten literaturwissenschaftlichen Überlegungen zu konfrontieren. Er widmet sich drei großen Themenkomplexen, die er als konstitutiv für Kurzecks Poetik sieht: der Idylle, der Theorie der Frühromantik und dem Blues. Man trifft hier also auf gattungs- und motivgeschichtliche, literaturhistorische, literaturtheoretische und intermediale Aspekte. Diese Heterogenität ist jedoch nur eine scheinbare und in der Sache begründet: Kurzecks Erzählen ist grenzüberschreitend und oszilliert zwischen Chronik und Utopie, Moderne und Vormoderne, Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Regionalismus und Universalismus.
Die stellenweise sehr feingliedrige Analyse verbindet die drei einzelnen Hauptaspekte zu einer ersten Gesamtschau von Kurzecks Autorenpoetik. Die Idylle, die von Riedel als ein Motiv und Kippbild verstanden wird, welches das paradoxe Verhältnis zwischen einem idealisierten Innenraum (die eigene Wohnung oder die Erinnerung an Kindheitsmomente) und einer defizitären Außenwelt versinnbildlicht, wird in die Tradition Jean Pauls aber auch Wilhelm Raabes gestellt, mit welcher eine naive Idyllik transzendiert wird. Im Alten Jahrhundert scheinen idyllische Momente nie von Dauer und sind nur im Moment des Erzählens präsent: Sie werden entweder in Erinnerung gerufen, weil sie vergangen und nicht mehr einholbar sind, oder sie hat es überhaupt nie gegeben.
Das zweite Großkapitel zum Romantikbezug in Kurzecks Werk hätte daher vielleicht auch programmatisch dem Idyllenkapitel vorangehen und jenes motivieren können, geht es Riedel dort schließlich um eine Aktualisierung von Theoriestücken der Jenenser Romantik wie zum Beispiel der Forderung nach der Poetisierung des Lebens und einem triadischen Geschichtsverständnis, als deren motivisches Symptom die Idylle implizit verstanden wird. Riedel stellt Kurzeck als einen im Kern romantischen Autor dar. Dies ließe sich jedoch weniger an konkreten intertextuellen Referenzen, die die Texte zwar in begrenztem Maße liefern, als an der Grundspannung im Umgang mit Alltäglichem und Wunderbarem festmachen.
Bei Kurzeck sei die Grenze zwischen dem eigenen Leben und der Kunst durchlässig und erfülle so die poetologischen Forderungen Schlegels und Novalis‘. Auch sieht er im Alten Jahrhundert eine der Frühromantik verpflichtete triadische Erzählstruktur realisiert, die in einer ‚Heimkehr in die Kunst‘ gipfele. An dieser Stelle lädt die Analyse zu einer weiterführenden Diskussion ein, besonders weil Riedel den letzten zu Lebzeiten veröffentlichen Roman Vorabend als eine ‚Aufhebung zwischen Poesie und Leben‘ versteht und Kurzeck damit als eine Art Vollender der frühromantischen Programmatik sieht. Dies ist gewiss eine überzeugende Sicht auf das Erzählen im Alten Jahrhundert, die die gesetzte Aufgabe erfüllt, Kurzeck als einen Autor zu verstehen, der sehr wohl in einer literarischen Tradition steht und diese produktiv zu nutzen weiß. Gleichwohl drängen sich hier narratologische Fragen nach dem Status des Erzählers und dem Erzählten auf, da das Alte Jahrhundert als stark autobiographisch gefärbter Romanzyklus ein konsequentes Verwirrspiel zwischen Fakt und Fiktion treibt, dessen eine denkbare Auflösung eine ‚Heimkehr in die Kunst‘ ist, diese die Lektüre aber teilweise um ihre autobiographisch-realistische oder zumindest autofiktionale Dimension beschneidet.
Das abschließende Kapitel beleuchtet im Rahmen einer gattungstheoretischen- und historischen Auseinandersetzung mit dem Blues den Themenkomplex um Wahrheit, Authentizität und Mündlichkeit bei Kurzeck. Riedel legt hier dar, wie Kurzeck verschiedene Blues-Motive in seinen Romanen verarbeitet. Seinen Texten wurde von der Kritik schon immer eine besondere Musikalität zugesprochen, sowohl die elliptisch-drängende und äußerste repetitive Sprache als auch eine (minimal)musikalische Komposition immer wiederkehrender Sätze und Episoden wurden als Belege herangezogen. Riedel fundiert und differenziert diese Diagnose durch eine akribische Recherche, die zum einen aufzeigt, wie ein Wahrhaftigkeits-Diskurs und bestimmte Motive wie Wanderschaft, Lohnarbeit und ewige Geldknappheit aus der Blues-Tradition übernommen werden, zum anderen aber auch deutlich macht, wie stark diese Verwendung der dichterischen Lizenz Kurzecks unterliegt, was letztlich die Generalthese von Kurzeck als einem realitätsbearbeitenden Autor stützt, der Alltagsschnipsel in einem frühromantischen Gestus poetisiert.
Leider verstellt Riedels Gebrauch – oder eher Missbrauch – von unzähligen ausufernden und den eigentlichen Fließtext überschattenden Fußnoten streckenweise die Möglichkeit, sich auf seine gut informierte und präzise formulierte Argumentation einzulassen. Vielleicht aber, so könnte man einwenden, ist Kurzeck, diesem notorisch abschweifenden Erzähler und obsessiven Archivar, auch nicht anders beizukommen als sich selbst als Kommentierender ebenfalls einer digressiven Form zu bedienen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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