Kafka zum Beispiel

Literarische Beziehungen bei Johannes Bobrowski

Von Andreas DegenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Degen

I.

Im Archiv des ehemaligen Senders Freies Berlin findet sich der Fernsehmitschnitt eines Interviews, das Walter Höllerer am 29. Oktober 1962 mit Johannes Bobrowski in der Buchhandlung Schoeller auf dem Kurfürstendamm führte. Zwei Tage zuvor hatte sich auf der Jahrestagung der Gruppe 47 am Wannsee die Mehrheit der Teilnehmer unerwartet dafür ausgesprochen, den Preis dem einzigen Teilnehmer aus der DDR zuzusprechen, dem ganz im Osten der geteilten Stadt lebenden Lyriker Bobrowski. Ein zweites Fernsehinterview mit ihm liegt im Archiv des Fernsehens der DDR, aufgezeichnet im April 1965 in Berlin-Adlershof. In dem Gespräch Hermann Kants mit Bobrowski und Max Walter Schulz geht es um eine Lesereihe im Westberliner Studentenheim Siegmunds Hof, in der erstmals Autoren aus der DDR vorgestellt wurden. Die beiden Fernsehinterviews, die einzigen, die es gibt, wurden nie gesendet. Man sieht einen schweren, gedrungen wirkenden Mann, redend in fremdem, ostpreußischem Tonfall, dabei langsam seinen großen Kopf wiegend, mit unsicherem, manchmal panurgischem Blick. Durch offene, Zustimmung erwartende Formulierungen und einen konzilianten Humor umschifft er die Klippen der auf politische Bekenntnisse zielenden Fragen.

Nur innerhalb dieser drei Jahre, vom Oktober 1962 bis zum frühen Tod am 2. September 1965, stand Bobrowski in der literarischen Öffentlichkeit. Wie kein anderer Autor dieser Zeit wurde er in beiden deutschen Staaten geehrt und in beiden in Anspruch genommen: Er war eine Schlüsselfigur im mühsam beginnenden Dialog der deutschen Literaturen. Der Ruhm war nicht unwillkommen, aber aufreibend. Neben dem Brotberuf im Verlag, der Familie und den zahlreichen Besuchern entstanden in diesen Jahren zwei Romane, einige kurze Prosatexte und die Gedichte für den dritten Band Wetterzeichen. In den Erinnerungen der Freunde Christoph Meckel und Hubert Fichte war es eine rastlose Zeit der Prominenz, Geselligkeit und permanenten Erschöpfung.

II.

Geboren wurde Bobrowski im Krieg: am 9. April 1917 in Tilsit, einer deutschen, heute russischen Stadt am linken Ufer der Memel, keine 30 Kilometer entfernt vom damaligen Besatzungsgebiet Ober Ost. Sein Leben zerfällt in drei Teile: die 20 Jahre Kindheit und Jugend in der deutschen Exklave Ostpreußen, deren Landschafts- und Bildungserlebnisse sein späteres Schreiben grundieren. Diese Zeit wurde abgelöst von Reichsarbeitsdienst, Kriegsdienst und Gefangenschaft: 13 Jahre lang eine kasernierte Existenz, unterwegs zwischen Atlantik und Don, eine historische und biografische Zäsur der Zerstörung und des Verlustes, die später literarisch als unaufhebbare Gegenwartssituation der Fremde, Flucht und andauernden Heimatlosigkeit vorgestellt wird. Von 1950 an führte Bobrowski 15 Jahre lang am ländlichen Rand der Hauptstadt der DDR ein Leben als Lektor, Familienvater, Mitglied des Kirchenchores und, in den letzten Jahren, als Autor.

Bobrowski wuchs in einer protestantisch-nationalkonservativ geprägten Familie auf, er besuchte in Königsberg das humanistische Gymnasium auf der Dominsel, zeichnete, musizierte, nahm Kompositionsunterricht und engagierte sich im Schülerbibelkreis. Er half beim Antiquar aus, wagte sich an die Lektüre des Königsberger Philosophen Johann Georg Hamann, suchte den Kontakt zu dem expressionistischen Dramatiker und Romancier Alfred Brust, etwas später zu Ina Seidel. Jeden Sommer fuhr er mit der Kleinbahn über die Memel, seit 1923 Grenzfluss zwischen dem Deutschem Reich und dem wieder selbständigen Litauen. Auf der anderen Seite des Stroms lebten im winzigen Flecken Motzischken am wild mäandrierenden Wiesenfluss Jura die Großeltern. Die Memeldörfer wurden für den bibliophilen Großstädter eine archaische Gegenwelt, scheinbar ursprünglich und unberührt von den politischen Entwicklungen. Hier in der weiten, flachen Landschaft lernte er die alteingesessene Mischkultur Preußisch-Litauens kennen – das Sprachengemisch, die elementare, heidnisch-christliche Frömmigkeit –, hier trat er in Holzhäuser, sah Flößer und jüdische Wanderhändler. Mit den Eltern, die Ende der 1930er-Jahre nach Berlin umzogen, trat er der Bekennenden Kirche bei. 1939 musste er in den Krieg gegen Polen, Frankreich, später überschritt er wenige Kilometer entfernt von jenen Memeldörfern die Grenze zum nun sowjetischen Litauen und zog, meist im Hinterland, als Gefreiter eines Nachrichtenregiments bis nach Nowgorod. Von dem geplanten Kunstgeschichtsstudium in Berlin konnte er nur ein Semester wahrnehmen, ein weiteres hätte den Eintritt in die NSDAP und eine Offizierslaufbahn zur Bedingung gehabt, was nicht infrage kam. Im Krieg erlebte er den Pogrom an der jüdischen Bevölkerung im litauischen Kaunas und die Schlachten südlich des Ilmensees mit. Angesichts der zerstörten Kirchen Nordrusslands veränderten sich seine literarischen Versuche, die Lektüre Friedrich Hölderlins und Friedrich Gottlieb Klopstocks wirkte sich erstmals sprachlich aus.

Nach der Kriegsgefangenschaft im Donezbecken kam er Ende 1949 als Kommunist zu den Eltern und der aus Motzischken stammenden Ehefrau nach Berlin zurück. Er arbeitete im kleinen Altberliner Verlag, die „alten metaphysischen Neigungen“ meldeten sich zurück, die ambitionierten lyrischen Arbeiten blieben in der Schublade. 1955 veröffentlichte Peter Huchel einige Gedichte des Unbekannten in der renommierten ostdeutschen Literaturzeitung „Sinn und Form“, einiges vermittelte er auch an westdeutsche Anthologien. Nach jahrelangen Bemühungen, in der DDR oder in der BRD einen Verlag für einen eigenen Gedichtband zu finden, erschien Anfang 1961 fast zeitgleich in Stuttgart und Ostberlin der Debütband Sarmatische Zeit, ein Jahr später folgte Schattenland Ströme. Bobrowski hatte seit den späten 1950er-Jahren gute Kontakte in die auflebende Literaturszene im Westen Berlins, beruflich wechselte er in das Lektorat des auf christlich-humanistische Literatur ausgerichteten Union Verlages der CDU der DDR. Die Literaturkritik attestierte seinen Gedichten sofort eine außerordentliche Qualität und ein eigenes Thema: die Deutschen und der europäische Osten. Dieses war mit einer großen persönlichen Spannung verbunden, fühlte er sich doch der heimatlichen Kulturlandschaft im nördlichen Ostpreußen, deren Verlust er als gerechte Konsequenz der deutschen Verbrechen verstand, unlösbar verbunden. In der politisch brisanten Frage der ehemals deutschen Ostgebiete wies er damit einen eigenständigen Zugang, jenseits von Tabuisierung (DDR) oder Revision (BRD), dem andere Autoren in der literarischen Erkundung ihrer Kindheitsorte folgten. Bobrowskis Gedichte und die seit 1961 folgenden Prosatexte stehen in der dreifachen Aussagedimension von persönlicher Aussprache, politischer Intention und geschichtsphilosophischer Deutung.

III.

1959 wendete sich Paul Celan, von Erich Arendt vermittelt, brieflich an den fast unbekannten Bobrowski, der Briefwechsel zwischen beiden brach jedoch bald ab. Bobrowski hatte Celans Schreiben seit Mitte der 1950er-Jahre aufmerksam und mit Vorbehalten verfolgt, dies gilt umgekehrt für Celan in den folgenden Jahren. Mit keinem zweiten Autor der Gegenwart hat sich Bobrowski so intensiv auseinandergesetzt, seine späte Lyrik hat davon zweifellos profitiert. Dennoch finden beide Autoren weder persönlich noch poetologisch zueinander. Auf der einen Seite der zufällig die Vernichtung überlebende deutsch-jüdische Autor aus der Bukowina, auf der anderen Seite der ostpreußische Protestant mit Wehrmachtsvergangenheit. Der eine, vom Surrealismus beeinflusst, weist die Literatursprache als verbraucht und korrumpiert ab durch eine sperrige, stimmungslose Schreibweise. Der andere hat sich am hohen Ton der naturmagischen Dichtung und der Oden Klopstocks und Hölderlins ausgebildet, er vertraut auf die emotionale Affizierung durch Sinnlichkeit, die involvierende und zuletzt aufklärende Wirkung sprachlicher Faszination. Bobrowski stützt sich dabei auf die Sprachtheologie Johann Georg Hamanns, des Königsberger Freundes und philosophischen Antipoden Immanuel Kants. Hamanns hermeneutisches Diktum „Rede, daß ich dich sehe“ ist Bobrowski Leitspruch: Form als immanenter Kommentar, der Stil lässt den Sprechenden sichtbar werden, die Aussage entsteht im Prozess des tentativen Verstehens. Es geht ihm um eine Dichtung, die Prozesse des Erinnerns, des imaginativen Transformierens in die Gegenwart überführt. Vergangenes als Zeugnis einer zugleich historisch-konkreten wie paradigmatischen existentiellen Erfahrung.

Auch Celan hat Hamann gelesen, auch er hat sich zu dessen Diktum verhalten. Er stimmte, im Vernichtungs-Bewusstsein einer grundlegend veränderten Situation nur sehr eingeschränkt zu: „‚Rede, daß ich dich sehe‘ –: auch dieses Wort gilt nur noch als Ausnahme. – Schweige, daß ich nicht völlig erblinde. Schweige dich an, damit du dich erblickst.“ Eine Poetik emphatischer Rede oder eines emphatischen Schweigens, der Verweis auf Kontinuitäten oder auf Kontinuitätsbrüche. Beides zeigt Differenzen zwischen Bobrowski und Celan in ihrem literarischen Selbstverständnis an. Schwerer wogen die unterschiedlichen Biografien. Celan spricht Bobrowski die Legitimation ab, in Gedichten aus der Position eines Juden zu sprechen. In seinem Gedicht „Hüttenfenster“ wendet er sich, wie Hendrik Birus nachweist, verdeckt an den einstigen Briefpartner: Über den „Schwarzhagel“ deutscher Gewehrkugeln heißt es: „und sie, die ihn säten, sie/ schreiben ihn weg/ mit mimetischer Panzerfaustklaue!“ Davon nichts wissend und Celans Position erstaunlich verkennend, widmet Bobrowski diesem das Gedicht „Wiedererweckung“, das ganz auf die belebende und erneuernde Kraft der Sprache setzt.

IV.

Johannes Bobrowskis Stimme ist eine der markantesten in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit. Nicht laut und allgegenwärtig, aber durchdringend und faszinierend bis heute – trotz ihrer Dunkelheit, trotz entlegener Namen und Orte, auf die sie sich beruft. Diese Stimme richtet sich an einen Hörer, an dessen Fähigkeit, zeichenhaften Konstellationen eine akute Bedeutung zu entnehmen. Die zwischen 1952 und 1965 entstandenen Gedichte und die Anfang der 1960er-Jahre hinzukommenden Prosaarbeiten bezeugen höchste sprachliche Präzision und ein ungebrochenes Vertrauen in die Sinnlichkeit des Wortes. Er befragte die literarischen Traditionen neu, auf ihre Modernität hin. Er ging zurück zu Georg Trakl, zu Hölderlin und Klopstock, um originäre Ausdrucksformen zu gewinnen. Seine Sprache ist unverwechselbar, souverän. Der unterströmige Rhythmus und Klang seiner Texte, ihre Suggestion eines unmittelbaren Dialogs über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg, führen den Leser in die zerklüfteten Geschichtslandschaften Osteuropas. Bezeichnet werden sie mit dem antiken Namen Sarmatien – ein Vielstrom- und Vielvölkerland. Aus den Bildungserlebnissen und den prägenden historischen Erfahrungen zwischen 1933 und 1949 reifte Mitte der 1950er-Jahre das lyrische Großprojekt, die gesamte, seit der Antike als Sarmatien bezeichnete Großregion zwischen Ostsee und Schwarzem Meer in ihrer Geschichte kaleidoskopartig in einem Gedichtzyklus zu versammeln; er sprach von einem „Sarmatischen Divan“. Vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit gab Bobrowski seinem mythopoetischen Sarmatien den geschichtsphilosophischen Status der Einheit: eine Symbiose verschiedener Kulturen, die in ihrem Zusammenleben durch nationale Polarisierung bedroht wurden. Die Verbindung von Verlust und Schuld, Trauer und Sühne grundiert diese Gedichte. Haus und Heimat gehören der Vergangenheit an, die Gegenwartsebene der Texte wird von Trennung, Einsamkeit und eingeschränkter Sprachlichkeit bestimmt. Der im Prozess des Gedichtes sich realisierende Augenblick des Erinnerns und Imaginierens antizipiert eine Fiktion von Gegenwärtigkeit, die außerhalb des ästhetischen Erlebens so nicht besteht:

Blau.
Die Lüfte.
Der hohe Baum,
den der Reiher umfliegt.
Und das Haus,
einst, wo nun der Wald
herabkommt,
klein und weiß
das Haus, und der grüne Schimmer,
ein Weidenblatt.

Außerhalb der Sprache ist die Existenz des Sprechers im Gedicht oder der Perspektivfigur in der Erzählung von Heimatverlust, Flucht und Wanderschaft bestimmt – ein traditionelles Selbstverständnis von Autoren, das Bobrowski zur Darstellung seiner spezifischen historischen Konstellation heranzitiert: „Mit diesem Bewußtsein“, notierte er, „konzipiere ich eine Überschau des unwiderruflich Vergehenden für einen Raum, in dem diese Bindungen an den Lebensraum besonders tief verstanden worden sind: aber als ein Reisender, wenn Sie wollen Wanderer, ein nicht mehr Dazugehöriger, als einer, der kommt und weggeht“. Bobrowskis Motivkomplex von Wanderschaft, Flucht und Fremde speist sich aus verschiedenen Quellen und erlaubt vielfältige Anschlüsse: Außer auf die eigene, paradigmatisch verstandene Biografie weist er literarisch auf Hölderlin und die Romantik, religiös auf die Erwartung der Wiederkunft Christi, philosophisch auf ein Unbehaustsein als Signatur der Moderne.

V.

Mehr als aus dem Erlebnis osteuropäischer Landschaft speist sich Bobrowskis Dichtung aus Literatur. Es gibt kaum einen Text, der sich nicht auf den eines anderen bezieht: „Literatur wird geschaffen, weil es bereits Literatur gibt“, heißt es 1961 in Bobrowskis Vortrag über Lyrik in der DDR, der die Prämissen des eigenen Schreibens erkennbar werden lässt. Nicht zuletzt in der Reaktion auf Literatur oder bildende Kunst verschiedenster Epochen ist Bobrowskis Dichtung, entgegen ihrer scheinbaren Hermetik, grundsätzlich dialogisch. Die Wahl des offen oder verborgen aufgesuchten und literarisch eingeholten Autors ist nicht willkürlich, sondern durch den Gegenstand des Textes motiviert. Der zitierte oder alludierte Text fungiert nicht nur als prägnantes Bild oder gelungene Darstellungsvariante, mit ihm wird zugleich dessen Autor als Zeuge einer konkreten historischen Realität aufgerufen. Diese über das Sprachimmanente ausgreifende Dialogizität betrifft nicht nur die Leitsterne Klopstock und Hölderlin, oder – für die Prosa – die versuchsweise Verortung innerhalb eines durch Robert Walser, Isaak Babel und Hermann Sudermann umrissenen narrativen Möglichkeitsraumes, sondern beispielsweise auch Franz Kafka. Eine 1936 angelegte „Aufstellung meiner Bücher“ zeigt, dass der Königsberger Gymnasiast Kafka früh, durch die Erstausgaben von Der Heizer und Das Urteil, begegnet ist. In seiner späteren Berliner Bibliothek befinden sich die anderen Texte Kafkas in Ausgaben der Vorkriegs- und Nachkriegszeit, so dass ihm das Gesamtwerk einschließlich der Tagebücher der Jahre 1910 bis 1923 zugänglich war. Anstreichungen und einige Anmerkungen belegen eine genaue Lektüre, auch hat ihn der an biografischen Realien interessierte Kafka-Forscher, Freund und spätere Verleger Klaus Wagenbach auf dem Laufenden gehalten. Für Bobrowski kann Kafka „nur aus der Situation des Judentums verstanden werden“.

Bislang unbemerkt blieb, dass seine experimentelle Prosa Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch in ihrem markanten sprachlichen Gestus von Kafka inspiriert worden ist. Der Anfang 1964, wenige Wochen nach Beginn des Auschwitz-Prozesses niedergeschriebene Text zitiert formal dessen 1912 in der Sammlung Betrachtung publizierte Skizze Der plötzliche Spaziergang. Beide Großstadt-Texte bestehen aus einem ersten überdehnten, in seiner syntaktischen Komplexität unüberschaubaren Satz, dem ein knapper, syntaktisch wie semantisch nachsetzender zweiter Satz folgt. Während Kafka in der grammatikalischen Akkumulation von neun Wenn-Konjunktionen die Bedingungen für den Aufbruch zu einem abendlichen Spaziergang auftürmt, begibt sich Bobrowskis Prosaminiatur über sieben Als-Konjunktionen in die historische Suchbewegung nach den Anfängen jener kollektiven Verhaltensweise, die das im Mittelpunkt stehende Verdrängen der Gerüchte über „Massenmorde an Juden“ ermöglicht hat. Die sprachgestische Suche nach der Ursache verläuft gespalten, schizophren, wie das thematisierte Verhalten: Während die immer neuen Als-Konjunktionen dieses Verhalten auf die außerordentlichen Umstände von Diktatur und Krieg einzugrenzen versuchen, wird gegenläufig immer deutlicher, dass es sich derart nicht eingrenzen lässt: „als es also war wie schon immer“. Kafka wird durch Bobrowski, vermittels des formalen Zitates des „Plötzlichen Spaziergangs“, hineingenommen in die Frage nach den sozialen Bedingungen der Möglichkeit des Holocaust und – als Anfangssätze eines „Deutschlandbuchs“ – den historischen Ursachen der deutschen Spaltung (!): als ein prätextueller Kronzeuge für jenen national- und geistesgeschichtlich-geschichtsvergessenen Umgang mit deutschen Kulturgütern jüdischer Herkunft, wie er in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in beiden deutschen Staaten üblich war. Poetologisch ähnlich verfährt Bobrowski in dem zeitgleich entstanden Prosatext Im Guckkasten: Galiani. Vermeintlich ein stilistisches Capriccio über das Venedig des 18. Jahrhunderts, verweist er im ostentativen Verschweigen des venezianischen Ghettos auf die Unzulänglichkeit einer bestimmten Form von Kulturgeschichte.

VI.

Bobrowskis Platz in der Literaturgeschichte und in den Regalreihen wissenschaftlicher Bibliotheken, auch mancher Liebhaber, ist unbestritten. Ein bekannter Autor ist er deswegen aber nicht. Sein schmales Werk liegt seit langem in einer vierbändigen, auch Nachlasstexte, Entwürfe, Reden, Interviews und Selbstzeugnisse berücksichtigenden Werkausgabe vor, später ergänzt um zwei Erläuterungsbände, eine minutiöse Lebenschronik, einen Katalog seiner nachgelassenen Bibliothek, eine Publikation seiner Sammlung liebster Gedichte und einige Briefwechsel. Vor wenigen Wochen ist die von Jochen Meyer herausgegebene ausführlich kommentierte vierbändige Edition sämtlicher Briefe des Dichters hinzugekommen. Zu Bobrowskis beiden Romanen Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater und Litauische Claviere gibt es jeweils eine Oper, der erste Roman wurde 1980 von Horst Seemann verfilmt. Bobrowskis Werk ist editorisch umfassend erschlossen, einzelne Buchausgaben beim Verlag Klaus Wagenbach oder der Deutschen Verlagsanstalt sind lieferbar. Der Forschung stehen zudem ein umfangreicher Ausstellungskatalog des Marbacher Literaturarchivs, zahlreiche Monografien, Konferenzbände und Aufsätze zu Verfügung, die aktuelle Gesamtbibliografie auf der Homepage der Johannes-Bobrowski-Gesellschaft weist mehr als 1.000 Titel auf. Dennoch ist Bobrowski nach wie vor eine Art Geheimtipp, von wenigen gekannt, gelesen und nicht wieder aus der Hand gelegt. Nur für kurze Zeit, in der Mitte der 1960er-Jahre, war das anders. Als Bobrowski mit nur 48 Jahren 1965 starb, beklagten die Zeitungen beider deutscher Staaten ausführlich den Verlust eines großen Autors, auch die Londoner „Times“ veröffentlichte einen Nachruf. In der DDR wurde sein Werk für jüngere Autoren wie Christa Wolf, Sarah Kirsch, Wulf Kirsten oder Ingo Schulze zu einem Orientierungspunkt bei dem Versuch, sich eigenständig eine moderne Poetik zu entwickeln. Zum 50. Todestag im Jahr 2015 gedachte man seiner in vielen Tageszeitungen: von der „Jungen Welt“ über die „Süddeutsche Zeitung“ bis zur „Welt“; Joachim Gauck würdigte Bobrowskis literarisches Werk und seinen kritischen Umgang mit deutscher Geschichte in einer Rede. Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse sah das Schwerpunktland Litauen in Bobrowski das Verbindende zwischen beiden Literaturen, in Kaliningrad erschien anlässlich des 100. Geburtstages des Königsberger Dichters eine neue russische Übersetzung in kleiner Auflage. Als Volker Koepp in seinem jüngsten, Bobrowskis 100. Geburtstag gewidmeten Dokumentarfilm Wiederkehr die Leiterin des Stadtmuseums in Bobrowskis Geburtsstadt Tilsit/Sowetsk fragt, ob sie in Sarmatien lebe, antwortet sie nach einigem Zögern: „Nein. In Sarmatien gibt es keine Grenzen.“