Suffragetten von heute

24 Autorinnen feiern 100 Jahre Frauenwahlrecht und erklären, was weiter zu tun bleibt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem an ihre Freundin Josephine von Knorr gerichteten Brief aus dem Mai 1852 zeigte sich die 21-jährige Marie von Ebner-Eschenbach überzeugt, „dass man aus jedem Buch etwas lernen könne, wie aus jeden [sic!] Menschen – wenn auch manchmal im Beobachten, wie man nicht sein soll, und nicht schreiben soll“. Herangereift zur Aphoristikerin hätte sie den Gedanken später wohl zu ein, zwei griffigen Sentenzen verdichtet. „Jeder Mensch ist zu etwas gut und sei es als abschreckendes Beispiel“ vielleicht oder „Selbst das größte Übel kann noch etwas Gutes bewirken“. Jedenfalls hätten solche Sinnsprüche noch heute eine gewisse Berechtigung.

Ihre Fassungslosigkeit über Trumps Wahlsieg etwa brachte Isabel Rohner und Rebecca Beerheide auf die Idee, ein Buch mit dem Titel 100 Jahre Frauenwahlrecht herauszugeben, um über das erreichte Ziel des Wahlrechts zu reflektieren und zu überlegen, wie es mit den Frauenrechten und der Emanzipation weiter gehen könnte und sollte. Bis zum Jubiläum ist es zwar noch eine Weile hin, der Band kommt dennoch keineswegs zu früh.

Die Herausgeberinnen haben Texte von zwei Dutzend Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Publizistik, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zusammengestellt. Wie sie versichern, ist so ein „im besten Sinne des Wortes perspektivenreiches Buch mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen“ zustande gekommen. Gelegentliche Wiederholungen waren allerdings nicht ganz zu vermeiden.

Die Autorinnen werden vor ihrem jeweiligen Beitrag vorgestellt, und zwar ausführlicher, als dies in den üblichen AutorInnenverzeichnissen am Ende eines Buches zumeist der Fall ist. Ebenso vielfältig wie die Wirkungsstätten, Fachgebiete und Zugriffe der Beiträgerinnen auf das Thema sind die Textsorten des Bandes. Sie reichen von Essays über Interviews bis hin zum Gedicht.

Die unterschiedlichen Sichtweisen lassen natürlich nicht zu, dass irgendjemand sie ausnahmslos teilen könnte. Aber es dürfte auch niemand das Buch zuschlagen, ohne sich Anregungen geholt oder etwas Neues erfahren zu haben. Wer hätte beispielsweise schon von Adolf Lette, dem Gründer eines Vereins zur Förderung der „Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts“ zur Mitte des 19. Jahrhunderts und seiner misogynen Ablehnung der „politischen Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen“ gehört? Sabine Lautenschläger, ihres Zeichens Direktorin der Europäischen Zentralbank, informiert gleich auf der ersten Seite ihres Beitrags darüber. Ihr eigentliches Anliegen ist aber darzulegen, dass Gleichberechtigung „kein Elitenprojekt sein darf, das sich in seinen Forderungen und seiner Sprache nur mehr an einen kleinen, exklusiven Kreis von Frauen richtet“. Zudem ist sie überzeugt, dass „wir noch lange nicht dort angekommen sind, wo wir sein sollten“. Das gilt, wie sie betont, auch für Männer. Die FDP-Politikerin und Justizministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberg ist ebenfalls der Auffassung, dass es „immer noch viel zu tun gibt“ und erläutert, „warum die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung so wichtig ist“.

Allerdings macht die frühere sozialdemokratische Familienministerin Manuela Schwesig aus guten Gründen darauf aufmerksam, dass „Rechte das eine sind, ihre tatsächliche Durchsetzung etwas anderes“. So wichtig das Wahlrecht auch sei, nicht minder wichtig seien daher „Bewegungen außerhalb der Parlamente“. Besonders „inspirierend“ findet sie noch heute „die kreative Kraft, mit der die Suffragetten den Kampf um das Frauenwahlrecht auf die Straße und in die Öffentlichkeit getragen haben“. So etwas von einer Parlamentarierin und ehemaligen Bundesministerin zu hören, verwundert angesichts der militanten Aktionen der Suffragetten. Weniger erstaunlich ist vielleicht, dass hier und da ein leiser Hauch von Wahlkampf ihre Ausführungen durchweht. Auch die Grünen-Politikerin Claudia Roth kann der Versuchung nicht widerstehen, einige Wahlkampftöne anzuschlagen. Cornelia Möhring wiederum, die frauenpolitische Sprecherin der Linken, lobt die orthodoxe Marxistin Clara Zetkin zur „zentralen Kämpferin für das allgemeine Frauenwahlrecht“ hoch, während ihr ‚bürgerliche‘ Feministinnen wie Hedwig Dohm oder Anita Augspurg nicht der Rede Wert sind.

Die professorale CDU-Politikerin Rita Süssmuth, von der viele meinen, dass sie in der falschen Partei sei, berichtet aus ihrem feministischen Kampf im Parlament, in der Partei und auf der Regierungsbank, bei dem sie sich über viele Jahrzehnte hinweg als unermüdliche Streiterin erwies und manchen Erfolg, etwa die verfassungsrechtliche Aufnahme der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder das Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, zu verzeichnen hat. Selbstverständlich hat auch sie erkannt, dass noch lange nicht alles erreicht ist, und verlangt, es solle endlich „Schluss mit den Trippelschritten“ sein, denn „das Bravheits-Gebot ist völlig untauglich“, wenn es gilt, feministische Forderungen durchzusetzen. Eine Erfahrung, die vor mehr als 100 Jahren auch schon die Suffragetten machen mussten.

Die Historikerin Nikola Müller zeichnet die Geschichte des 70-jährigen Kampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland konzis nach, beginnend mit der nach der 1848-Revolution von Louise Otto initiierten Frauen-Zeitung bis hin zur Erringung des Wahlrechtes 1918. Dabei tritt Müller der verbreiteten Auffassung entgegen, dass Frauenrechtsforderungen für die Zeit des Ersten Weltkrieges gänzlich zum Erliegen kamen. Das sei nur in den ersten beiden Kriegsjahren der Fall gewesen. Dann aber sei das Frauenwahlrecht schon wieder offen gefordert worden, und zwar selbst vom eher zurückhaltenden Bund deutscher Frauen. Maßgeblicher für die Wiederaufnahme feministischer Forderungen aber sei Müller zufolge der von Marie Stritt gegründete Deutsche Reichsverband für Frauenstimmrecht gewesen.

Auch Ulrike Guérot  blickt in die Historie zurück. Die Professorin für Europapolitik erinnert daran, dass die Männer „ihr Privileg“ wählen zu gehen, „nicht freiwillig hergegeben“ haben. „Hergegeben“, wie Guérot formuliert, haben sie es ja eigentlich nicht. Sie besitzen es schließlich noch immer, nur teilen sie es nun mit den Frauen. Guérot verneigt sich ebenfalls sehr zu Recht vor den Suffragetten, „ihrem Mut, ihrer Entschiedenheit und ihrer Resolutheit“. Sie fordert dazu auf, ihr Erbe „bewusst und mutig nicht nur zu verteidigen, sondern fortzuführen“. Erwähnenswert ist ihre Interpretation der Pussy Hats auf dem Women’s March gegen Trump. Es handele sich um „eine Anspielung auf die phrygische Mütze, die eigentlich an Stierhoden erinnert und die sich Amazonen auf den Kopf gebunden hatte, als sie vor 2000 Jahren die Thraker besiegten“. Ob dieser Krieg wohl historisch verbürgt ist?

Auf historischem Feld sicher bewegt sich jedenfalls Kerstin Wolff, wie die Mitarbeiterin des Archivs der deutschen Frauenbewegung in dem aufgenommenen Interview unter Beweis stellt. Sie weist darauf hin, dass die Flügel der Frauenbewegung auch früher nicht weniger heftig miteinander stritten als heute. Wolff mahnt an, trotz aller Differenzen weiter miteinander zu reden und „zu schauen, was gemeinsam konkret umgesetzt werden kann“.

Die frühere Femen-Aktivistin Zama Ramadi ist eine der Feministinnen, die sich in gegenwärtigen Flügelkämpfen besonders streitlustig positionieren. Sie nutzt ihren Beitrag, um kräftig gegen den „elitären, oft akademischen Pseudo-Feminismus“ auszuteilen, womit sie offenbar auf Intersektionalitätsfemnistinnen zielt, die den Postcolonial und Critical Whiteness Studies nahe stehen. Nicht ganz zu Unrecht wirft sie ihnen vor, „das Erreichte der Ur-Feministinnen mit Füßen treten“, indem sie „durch ihren Kulturrelativismus den religiös und kulturbedingten Zwang zur Unterdrückung der Frauen rechtfertigen und fördern“. Nun zeigt sich Ramadi zwar überzeugt, das eine „vernünftige Diskussion“ ebenso nottut wie „eine differenzierte Betrachtung eines jeden Problems“, da nur ein „offener, klarer Meinungsaustausch“ ermögliche, eigene Positionen zu hinterfragen. Für eine Versachlichung der Auseinandersetzung wenig hilfreich sind jedenfalls Verbalinjurien wie Ramadis eigene Rede von der „Idiotie dieser Pseudo-Feministinnen“. Allerdings hält sich die Gegenseite auch nicht eben vornehm zurück und bezichtigt so ziemlich alle und jede des Rassismus, die ihren islamophilen Kulturrelativismus nicht teilen.

Christa Stolle, die Vorsitzende von Terre des Femmes, ist alles andere als eine Verfechterin eines solchen Kulturrelativismus. Vielmehr prangert sie seit Jahrzehnte die Menschenrechtsverletzungen an, die tagtäglich an unzähligen Frauen überall auf der Welt begangen werden. So auch in ihrem Beitrag.

Auch die beiden Herausgeberinnen haben jeweils einen Text beigesteuert. Die Journalistin Rebecca Beerheide geht in ihrem statistisch unterfütterten Beitrag der Frage nach, ob Frauen anders wählen.  Ihre Kollegin Tina Groll ist sich sicher: „Fakt ist: Frauen wählen anders als Männer“. Isabel Rohner, die zweite Herausgeberin, erinnert an ihre Namensbase Theresia Rohner, der es zu danken ist, dass die Appenzellerinnen seit 1990 endlich auch das kantonale Stimmrecht erhalten haben. Kurz zuvor hatten die Männer des Kantons eine entsprechende Gesetzesänderung noch abgelehnt, da „Frauen lieber in den Spitälern die Nachttöpfe leeren und Hinter putzen sollten“, statt wählen zu gehen. Theresia Rohner reichte nach der Abstimmung Klage ein und bekam vom Bundesgericht Lausanne mit all ihren Geschlechtsgenossinnen das Recht zugesprochen, als Frau wählen zu dürfen. Die Herren des Kantons aber waren so erzürnt, dass sie eine Zeit lang Polizeischutz erhalten musste.

Abschließend wirbt Ulrike Helmer, in deren Verlag das Buch erschienen ist, für zwei wirklich lesenswerte Publikationen ihres Hauses: die Politische Schriften für und wider die Frauen aus der Feder Fanny Lewalds und vor allem für Antje Schrupps Biografie Victoria Woodhulls.

Um abschließend noch einmal auf ‚den Donald‘ zurückzukommen, sei ein Wort Friedrich Hölderlins zitiert. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, versicherte er schon vor gut 200 Jahren. Doch „rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“, wie der Lyriker vielleicht noch hoffte, der Pariser Kommunarde Eugène Pottier 1871 in einer später vertonten Hymne auf die Internationale Arbeiter Assoziation aber schon wusste. Und von alleine wächst es auch nicht, das Rettende. Oder wie Sabine Lautenschläger formuliert: „Was bisher erreicht wurde, kam nicht von selbst. Und was noch erreicht werden muss, wird auch nicht von selbst kommen.“

Titelbild

Isabel Rohner / Rebecca Beerheide (Hg.): 100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht … und weiter?
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2017.
204 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783897413986

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