Von „Immensee“ zum „Schimmelreiter“ – vom Lyrischen zum Realismus

Zum 200. Geburtstag von Theodor Storm

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

„Ich bedarf äußerlich der Enge, um innerlich ins Weite zu gehen“ bekannte einmal Theodor Storm zu seinem eigenen literarischen Werk, das sich aber über alle Heimatkunst erhebt. „Er neige zur Husumerei“ hatte einst Theodor Fontane seinem Dichterfreund nachgesagt. Obwohl er sein hartes Urteil bald relativierte und Storm als großen Lyriker und Erzähler lobte, trug Fontane mit dieser Spöttelei nicht unwesentlich dazu bei, Storm lange Zeit als „Dichter der Gemütlichkeit“ und sein Werk der heimatlichen Enge zu bezichtigen. Es blieb schließlich Thomas Mann vorbehalten, Storms literarische Dimension zu würdigen. In seinem bekannten Essay aus dem Jahr 1930 bescheinigte er dem Werk „absolute Weltwürde der Dichtung“ und konstatierte zu seinem norddeutschen Dichterkollegen: „Er ist ein Meister, der bleibt“. Darüber hinaus galt ihm Storm auch als ein gelungenes Beispiel, wie sich die beiden Existenzen – Jurist und Künstler – vereinen lassen.

Doch zurück zu Theodor Storm, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird. Hans Theodor Woldsen Storm wurde am 14. September 1817 als erstes Kind des angesehenen Justizrates Johann Casimir Storm (1790–1874) und seiner Frau Lucie, geborene Woldsen (1797–1879), die einem Patriziergeschlecht angehörte, in Husum geboren. Da die nordfriesische Hafenstadt an der Nordseeküste zum dänischen Herzogtum Schleswig gehörte, war Storm von Geburt dänischer Staatsbürger. Trotz der provinziellen Abgeschiedenheit führte diese besondere politische Lage am Rande Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder zu nationalen Auseinandersetzungen zwischen deutsch gesinnten Schleswigern und national eingestellten Dänen.

Mit vier Jahren besuchte der kleine Theodor die sogenannte „Klippschule“ (eine Art Vorschule) der „Mutter Amberg“ – einer ältlichen Hamburger Dame –, ehe er ab dem neunten Lebensjahr die Husumer Gelehrtenschule besuchte, auf der die Schüler für die Universität vorbereitet wurden. Da dort jedoch nur geistige Hausmannskost geboten wurde, schickte ihn der Vater zur Vervollständigung seiner Schulbildung im Herbst 1835 für eineinhalb Jahre nach Lübeck auf das Katharineum, das später auch Thomas Mann besuchte. In einem Lübecker Freundeskreis lernte er Ferdinand Röse und Emanuel Geibel kennen. Mit dem späteren Dichter und Philosophen Röse, der ihn mit der Lyrik Johann Wolfgang von Goethes, Heinrich Heines und Joseph von Eichendorffs bekannt machte, verband Storm eine lebenslange Freundschaft. Währen der Schul- und Gymnasialzeit entstanden auch schon erste eigene lyrische Versuche, so wurde beispielsweise Storms Gedicht Sängers Abendlied 1834 im „Husumer Wochenblatt“ veröffentlicht.

Ostern 1837 begann Storm ein Jurastudium an der Landesuniversität in Kiel – wahrscheinlich nicht aus aus innerer Überzeugung heraus, denn er bekannte: „auch war mein Vater ja Jurist“. Später sollte er jedoch den Juristenberuf sehr ernst nehmen. Im Mai 1838 immatrikulierte sich Storm an der Friedrich-Wilhelms-Universität, verließ Berlin jedoch bereits nach drei Semestern und ging nach Kiel zurück. Er musste sein Examen an der Landesuniversität abschließen, um eine Bestallung als Advokat vom dänischen Staat zu erhalten. Während seines Studiums war er mit Theodor Mommsen befreundet, dem späteren Literaturnobelpreisträger, dessen 200. Geburtstag dieses Jahr ebenfalls begangen wird. Beide teilten sich sogar zeitweise die „Studentenbude“ und mit Mommsens Bruder Tycho brachten sie 1843 das Liederbuch dreier Freunde heraus. Die darin von Storm enthaltenen 41 Gedichte waren noch stark von Eduard Mörike, Heine und Eichendorff geprägt. Mit Theodor Mommsen nahm er außerdem das umfangreiche Projekt einer Märchen- und Sagensammlung in Angriff, deren erster Band Volksbuch für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg 1844 erschien.

Nach dem bestandenen juristischen Examen (1842) ließ sich Storm als Advokat in Husum nieder und arbeitete zunächst in der Kanzlei seines Vaters, ehe er im März 1843 eine eigene Rechtsanwaltspraxis eröffnete. 1846 heiratete er seine Cousine Constanze Esmarch (1825–1865), die Tochter des Bürgermeisters von Segeberg. Trotzdem hatte Storm kurze Zeit nach der Hochzeit eine Affäre mit der 18-jährigen Senatorentochter Dorothea Jensen (1828–1903). Die Leidenschaft ging so weit, dass er sogar eine Ehe zu dritt in Erwägung zog. Nachdem die Angelegenheit sogar zum Stadtgespräch wurde, verließ Dorothea Husum und durch die Geburt von insgesamt sieben Kindern entwickelte sich in den nächsten Jahren eine tiefe Beziehung zwischen den Eheleuten. Erst der Tod seiner Frau Constanze im Jahr 1865, der Storm in eine schwere Lebens- und Schaffenskrise stürzte, ermöglichte ihm als Witwer eine gemeinsame Verbindung mit seiner früheren Geliebten.

Nach dem Liederbuch dreier Freunde und zahlreichen Veröffentlichungen in Zeitschriften und Almanachen trat Storm 1851 mit einer selbständigen Buchausgabe, den Sommergeschichten und Liedern, an die Öffentlichkeit. Darunter befand sich die frühe Novelle Immensee, die wie ein in Prosa aufgelöstes Gedicht wirkt und wesentlich zum Bekanntwerden des jungen Dichters beitrug. Mit keinem anderen Werk hatte er zu seinen Lebzeiten so viel Erfolg wie mit dieser Liebesgeschichte. Die Nachfrage war so groß, dass bis 1888 insgesamt 30 Auflagen gedruckt wurden. Ein Jahr später erschien die erste Sammlung seiner Gedichte, darunter das bekannte Die Stadt:

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

In diese Zeit fiel auch die Entstehung des Märchens Der kleine Häwelmann, das Storm für seinen ersten Sohn Hans geschrieben hatte.

Während der Schleswig-Holsteinischen Volkserhebung (1848–1852), die in ganz Deutschland eine Welle der nationalen Begeisterung auslöste, engagierte sich Storm für die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins. Da er nach dem dänischen Sieg und der Herstellung der alten politischen Ordnung nicht bereit war, eine Loyalitätserklärung gegenüber der Dänischen Krone abzugeben, wurde ihm 1852 die Advokatur entzogen.

Was blieb Storm übrig? Er bemühte sich um eine Stelle im Justizdienst im ihm eigentlich verhassten Preußen. Nach mehreren Reisen und Vorstellungen bekam er 1853 endlich eine Stelle als Gerichtsassessor am Kreisgericht Potsdam. Der Wechsel ins preußische Exil gestaltete sich jedoch als ein schwieriger Neubeginn, denn die Einarbeitung in das für ihn unbekannte preußische Justizsystem war mühsam; zudem war die Besoldung äußerst dürftig („im fortwährenden Kampf um den täglichen Schilling“) – bis August 1854 sogar gänzlich ohne Gehalt. Um die inzwischen fünfköpfige Familie zu ernähren, war er auf die regelmäßigen Geldüberweisungen des Vaters aus Husum angewiesen.

Storm, der in Potsdam und Berlin bereits vor allem als Lyriker bekannt war, schloss in dieser Zeit Freundschaften mit Theodor Fontane, Joseph von Eichendorff, Paul Heyse, Adolf Menzel und dem Kunsthistoriker Franz Theodor Kugler. In der literarischen Gesellschaft „Tunnel über der Spree“ und in dem Freundeskreis „Rütli“ wurde über Literatur diskutiert. Obwohl Storm dem großstädtischen Literaturbetrieb wenig abgewinnen konnte, erhielt er hier kritische Anregungen für sein späteres Schaffen; vor allem Fontane forderte eine Literatur, die das wirkliche Leben widerspiegelte.

Trotz dieser persönlichen Kontakte wurde Storm in Potsdam, das er verächtlich als „Militär-Casino“ bezeichnete, nicht heimisch; die hektische Atmosphäre der Stadt war der Husumer nicht gewöhnt. Im Juli 1856 erhielt er endlich eine feste Anstellung im preußischen Justizdienst – er wurde nach Heiligenstadt im Eichsfeld versetzt. In der katholischen und idyllischen Kleinstadt wohnte bereits sein Bruder Otto und betrieb eine Gärtnerei. Im Gegensatz zu Potsdam begann für Storm in Heiligenstadt ein ruhigerer Lebensabschnitt, hier fand er die von Husum gewohnte Beschaulichkeit. Die Familie nahm am gesellschaftlichen Leben der Stadt teil und machte viele Ausflüge in das thüringische Umland. Nach der in Potsdam geborenen Tochter Lisbeth kamen hier zwei weitere Töchter (Lucie und Elsabe) hinzu – auf die finanzielle Unterstützung aus Husum blieb man so weiterhin angewiesen.

Insgesamt acht Jahre verbrachte Storm in Heiligenstadt, die er als die glücklichste Zeit seines Lebens bezeichnete. Seine juristischen Arbeiten ließen ihm genügend Zeit und Muße für sein literarisches Schaffen. Mit Novellen wie Auf dem Staatshof (1859), Drüben am Markt (1861), Veronica (1861), Im Schloss (1862) und Auf der Universität (1863) gelang ihm der Durchbruch zu einer Novellistik, in der Storm immer mehr auf das Lyrikhafte verzichtete und jetzt verstärkt soziale Themen aufgriff. Sie wurden gewissermaßen zum Vorbild für seine späteren Prosawerke. Durch die Veröffentlichung der Novelle Im Schloss, der Lebensgeschichte einer jungen Adligen, 1861 in der populären Massenzeitschrift „Die Gartenlaube“ erreichte Storm außerdem eine große Leserschaft im ganzen deutschen Kulturraum.

Nach elf Jahren im preußischen Exil gab Storm die berufliche Sicherheit eines Beamten auf und kehrte Anfang 1864 in seine geliebte Heimat zurück. Mit dem Deutsch-Dänischen Krieg waren Schleswig und Holstein von Preußen besetzt worden – Storm landete also wieder in Preußen. Es war eine triumphale Heimkehr. Ohne sein Wissen hatte man ihn in Husum zum Landvogt gewählt. Doch für das Amt des höchsten Verwaltungs- und Justizbeamten im Landkreis, das der Familie endlich finanzielle Sicherheit brachte, fehlten ihm zunächst alle Erfahrungen. Trotz dieser beruflichen Anspannungen fand er genügend Zeit, seine literarischen Aktivitäten weiterzuentwickeln und so entstanden 1864 drei Märchen: Bulemanns Haus, Der Spiegel des Cyprianus und das heute noch bekannte Die Regentrude.

Das allgemeine Glück war jedoch nicht von langer Dauer. Am 20. Mai 1865 starb seine Frau Constanze an den Folgen der Geburt der Tochter Gertrud. Storm, der sich in seinen Werken oft mit Aberglauben auseinandersetzte, sah in dem Tod seiner Frau eine Opfergabe, die er für seine Heimkehr bringen musste. Den schweren Schicksalsschlag verarbeitete er in mehreren Gedichten, die Thomas Mann in seinem Essay als „die durchdringendsten Trauer- und Abschiedsgedichte“ der deutschen Lyrik bezeichnet.

Tiefe Schatten
In der Gruft bei den alten Särgen
Steht nun ein neuer Sarg,
Darin vor meiner Liebe
Sich das süßeste Antlitz barg.

Zunächst wurde eine Betreuerin für die Kinder und den Haushalt gefunden, doch dann trat Storms Jugendliebe Dorothea Jensen wieder in sein Leben, die inzwischen eine „verblühte Blondine“ geworden war. Nach Ablauf des Trauerjahres heirateten die beiden am 13. Juni 1866. Die Sorge um die Entwicklung seiner verwaisten Kinder hat sicherlich den Entschluss zur Wiederverheiratung befördert, doch für Dorothea wurde die ungewollte Mutterrolle für die sieben Stiefkinder (die sie nach Storms Willen „Tante“ nennen mussten) zu einer Belastung. Erst die Geburt der gemeinsamen Tochter Friederike (1868) milderte etwas den Stiefmutterkonflikt. In einer seiner schönsten und bekanntesten Novellen Viola tricolor (1873) behandelte Storm die Integration einer neuen Ehefrau in eine bestehende Familie. Neu in der Literatur war, dass hier die Spannungen aus der Perspektive der Frau geschildert wurden.

Nach der endgültigen Angliederung Schleswig-Holsteins an Preußen im Sommer 1866 (Storm sprach verbittert von einer „Vergewaltigung seines Heimatlandes“) wurde die Verwaltung des Landes nach preußischem Muster reformiert und damit auch Storms Landvogtei aufgehoben. Er hatte nun die Wahl zwischen Landrat oder Amtsrichter; er entschied sich für das Richteramt, auch weil er sich hier mehr Unabhängigkeit und mehr Zeit für seine literarischen Arbeiten erhoffte. Diese neugewonnene Freiheit nutzte er zunächst für die Herausgabe der Sämmtlichen Schriften (1868), außerdem stellte er das Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie (1870) zusammen. Storm strebte dabei eine Anthologie frei von „lyrischem Schund“ an, von dem es in den zahlreichen zeitgenössischen Gedichtauswahlen nur so „wimmelte“. Der Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 sowie die von oben verordnete Reichsgründung hatten Storms Preußen-Abneigung („Bismarcks Junkerregiment“) weiter gesteigert.

Das Jahrzehnt von 1870 bis 1880 sollte für den Schriftsteller zu seiner fruchtbarsten Schaffensperiode werden, die mit der Novelle Draußen im Heidedorf (1872) begann. Sie basiert auf einem authentischen Gerichtsfall aus dem Jahre 1866. Hier schlug Storm einen eher epischen, handlungsstarken Erzählstil an, wie er selbst betonte: „Ich glaube darin bewiesen zu haben, dass ich auch eine Novelle ohne den Dunstkreis einer bestimmten ‚Stimmung‘ […] schreiben kann.“

Auch in den meisten der nachfolgenden Novellen wie Viola tricolor (1873), Psyche und Im Nachbarhause links (1875), Aquis submersus (1875/76), Carsten Curator (1877), Renate (1877/78) oder Die Söhne des Senators (1879/80) überwiegt die realistische Darstellung, die sich durch eine genaue Beschreibung der Figuren und der Umwelt auszeichnet. Die spannungsgeladene Handlung steht in diesen Werken im Vordergrund, während die Naturbeschreibungen in den Hintergrund treten oder zu Elementen der Handlung werden. Darüber hinaus thematisiert er in ihnen gesellschaftliche Veränderungen seiner Zeit.

In diese Schaffensperiode fällt auch Pole Poppenspäler (1873/74), eine seiner bekanntesten Novellen, die heute noch zum festen Kanon der Schullektüre gehört. Sie war eine Auftragsarbeit für die neu gegründete Zeitschrift „Deutsche Jugend“. Storm hatte sich im Vorfeld intensiv mit dem Thema der Jugendliteratur beschäftigt und war zu der Erkenntnis gekommen: „wenn du für die Jugend schreiben willst, darfst du nicht für die Jugend schreiben.“ Und tatsächlich fand er eine Form, die sowohl Jugendliche als auch Erwachsene ansprach.

Storm, der schon seit geraumer Zeit daran dachte, seine Juristenlaufbahn aufzugeben, wurde 1880 auf eigenen Wunsch pensioniert. Trotz seiner literarischen Erfolge wollte er noch einmal einen Neuanfang wagen. Der Pensionär richtete sich in Hademarschen seine „Altersvilla“ ein. Befreit von den Amtspflichten konnte er sich nun hier ganz seinem reifen Alterswerk widmen, zum Beispiel den Novellen Hans und Heinz Kirch (1881/82), Zur Chronik von Grieshus (1883/84), Bötjer Basch (1885/86) oder Ein Doppelgänger (1886). Einige dieser Novellen sind mit den Problemen seines Familienlebens eng verknüpft.

1884 reiste Storm noch einmal nach Berlin und traf dort alte Freunde. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich jedoch in den nächsten Jahren; trotzdem unternahm er im Mai 1886 eine zweiwöchige Reise nach Weimar mit seiner Tochter Elsabe, die hier ein Musikstudium aufnahm. Nach Hause zurückgekehrt begann Storm mit der Niederschrift des Schimmelreiters, nachdem er zuvor schon umfangreiche Quellen (unter anderem über Fragen des Deichbaus) intensiv studiert hatte. Die Sage um den gespenstischen Deichgrafen, die jedoch nicht an der Nordsee, sondern an der Weichsel angesiedelt ist, kannte er wahrscheinlich schon seit seiner Jugendzeit. Der Schimmelreiter sollte Storms letzte Novelle werden. Im Dezember starb sein ältester Sohn Hans an den Folgen von Alkoholismus. Anfang 1887 wurde bei Storm selbst Magenkrebs diagnostiziert. Niedergeschlagen verfiel er in tiefe Schwermut:

So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verlässt dich alles Hoffen,
Bist du es endlich, endlich weißt,
Dass dich des Todes Pfeil getroffen.

Angesichts des baldigen Todes erlahmte seine literarische Arbeit völlig. Daraufhin drängte ihn die Familie zu einer neuerlichen Untersuchung, einer Scheinuntersuchung bei einem Husumer Arzt, der die ursprüngliche Diagnose nicht bestätigte. Mit dieser Vortäuschung schöpfte Storm neue Hoffnung und konnte trotz quälender Schmerzen den Schimmelreiter bis zum Frühjahr 1888 beenden, der dann im April- und Mai-Heft der „Deutschen Rundschau“ abgedruckt wurde. Mit diesem Meisterwerk über den Deichgraf Hauke Haien krönte er sein Künstlerleben. Wenige Wochen später starb Theodor Storm am 4. Juli 1888. Drei Tage später wurde er in der Familiengruft auf dem Friedhof St. Jürgen in Husum beigesetzt – zwar unter großer Anteilnahme der Bevölkerung, aber ohne geistlichen Beistand. Grund dafür war Storms persönliches Vermächtnis „Auch bleib der Priester meinem Grabe fern“, das er bereits 1863 in seinem Gedicht Ein Sterbender geäußert hatte, und das nun von seiner Familie respektiert wurde.

Theodor Storm war in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine singuläre Erscheinung. Anders als seine großen Schriftstellerkollegen Theodor Fontane, Wilhelm Raabe oder Gottfried Keller hatte er sich völlig dem Roman verweigert. Sein Medium war neben der Lyrik die Novelle, die er als „Schwester des Dramas“ ansah. Die Novelle schien Storm am besten geeignet, in der Prosa „das wirklich Poetische darzustellen“.

Keine Frage, Storms Werk wurzelt in der Abgeschlossenheit seiner nordfriesischen Heimat. War Theodor Storm deshalb ein Heimatdichter? Über seine Provinzialität wird mitunter bis heute gespottet, dabei war Regionalität ein Wesensmerkmal des poetischen Realismus (Mark Brandenburg (Fontane), Niedersachsen (Raabe) oder Schweiz (Keller)). Vielfach wurde Storm auf biedermeierliche Rückwärtsgewandtheit oder auf heimatliche Beschränktheit reduziert; man übersah dabei, dass er mit höchstem Kunstanspruch die Vergangenheit in die Gegenwart zurückholte. Nicht die bürgerliche Idylle war sein Thema, sondern deren Bedrohung durch die Auflösung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

War Storm ein unpolitischer Dichter? Die politischen Bewegungen seiner Zeit hinterließen sicher nur wenig Spuren in seinem Werk, doch mit wachem Verstand verfolgte er die gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Bestrebungen um ein eigenständiges Schleswig-Holstein im Deutschen Bund hatte er vehement unterstützt, was ihm schließlich elf Jahre im preußischen Exil einbrachte.

Trotz zahlreicher Gedichte und Märchen sowie knapp 60 Novellen wird Storms Werk – im Vergleich zu seinen Dichterkollegen – häufig als schmal bezeichnet, wobei gern übersehen wird, dass dies über viele Jahre hinweg neben seiner beruflichen Tätigkeit entstand. Ein Grund für diesen Eindruck ist sicherlich, dass in den letzten Jahrzehnten seine (bekanntesten) Novellen zumeist in Einzelausgaben als schmale Bändchen veröffentlicht wurden. Die beiden vierbändigen Gesamtausgaben seiner Werke (herausgegeben von Peter Goldammer, Aufbau Verlag, Berlin 1982 beziehungsweise von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1987/88) erschienen letztmalig 1996 respektive 1998. Leider war der 200. Geburtstag von Theodor Storm kein genügender Anlass für die deutschen Verlage, um eine Neuauflage herauszubringen. Aus der Reihe der zahlreichen Jubiläums-Publikationen soll hier nur der Dokumentationsband Theodor Storm zum 200. Geburtstag: Aufsätze, Untersuchungen, Dokumente von Karl Ernst Laage erwähnt werden, der mit den letzten Forschungsergebnissen der Storm-Gesellschaft bekannt macht. Leider kann der renommierte Literaturwissenschaftler und langjährige Vorsitzende der Storm-Gesellschaft das Storm-Jubiläum nicht mehr erleben, denn er verstarb am 11. Juli im Alter von 97 Jahren.