Der Puls der Zeit

Oliver Nachtwey analysiert in seinem Band „Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“ präzise die gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

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Groß waren Mitte 2016 die Verwunderung und das Erstaunen über Ton und steigende Beliebtheit eines Donald Trump im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Noch vor seiner Wahl zum mächtigsten Staatsoberhaupt der Welt wurde dann gar der „Brexit“ desillusionierende Realität. Spätestens nach diesen beiden Wahlergebnissen, die zuvor von vielen für äußerst unwahrscheinlich gehalten worden waren, stellten sich viele die Fragen: Wer waren die vermeintlich Verzweifelten und Abgehängten, die hier ihre demokratische Macht demonstrierten, und warum waren es so viele? Wäre all das auch in Europa denkbar? War nicht der Wohlstand – trotz Finanzkrise – seit Jahrzenten  gestiegen? Hatte nicht die Bevölkerung der westlichen Industrieländer ihren Lebensstandard beständig steigern können? Letztlich war allerdings zumindest Trumps Wahlsieg auch zu großen Teilen einer keineswegs von Armut bedrohten Mittel- oder gar Oberschicht zu verdanken – umso verwunderlicher die Zustimmung zu einer so rückwärtsgewandten, isolationistischen Politik. Waren durch Digitalisierung und Globalisierung die Nationen und ihre Güter etwa nicht immer näher zusammengerückt, immer vertrauter geworden? Hatte die Modernisierung nicht das Leben angenehmer gemacht? Was war passiert?

Der Sozialforscher Oliver Nachtwey untersucht in seiner Studie Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne mit Blick auf Deutschland und Europa genau diese Fragen – und damit auch die gesellschaftliche Ausgangssituation (nicht nur) der Bundestagswahl 2017. Konzise und anhand zahlreicher Belege skizziert er eine Interpretation der sozialen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte: von der „Sozialen Moderne“ und ihrem Versprechen beständigen sozialen und finanziellen Aufstiegs über eine Zeit der Stagnation bis hin zu Aspekten „regressiver Modernisierung“ und des sozialen Abstiegs der jüngsten Zeit.

Nachtwey fasst die „soziale Moderne“, die sich durch eine stabile Demokratie mit sozialen Absicherungen, gestiegener sozialer Mobilität und weitverbreitetem Normalarbeitsverhältnis (unbefristete Vollzeitbeschäftigung mit Kündigungsschutz und Sozialversicherungspflicht) ausgezeichnet habe, als abgelaufen auf. Hatte diese Periode mit ihren hohen Wachstumsraten bis nach dem Krieg noch für die Verminderung „vertikaler Ungleichheit“ zwischen den Klassen gesorgt, allerdings zum Preis der Vergrößerung „horizontaler Ungleichheit“ auf Kosten von Frauen und Migranten, sei danach eine lang anhaltende – und noch immer andauernde – Phase sehr niedrigen bzw. stagnierenden Wirtschaftswachstums eingetreten.

Diese durch die Finanzialisierung, also das Übergreifen der Logik der Finanzmärkte auf die Produktionsökonomie, angeheizte Entwicklung habe zu einer gegenläufigen Dynamik geführt. Vermehrte Reprivatisierungen, eine Verminderung sozialstaatlicher Absicherungen und die Aufweichung des Normalarbeitsverhältnisses sind einige der Aspekte einer nun einsetzenden ‚regressiven Modernisierung‘. Dieser dialektisch schillernde Begriff umfasst positive und negative Facetten: Die Flexibilisierung der Arbeit hat, angefeuert durch die Annexion des Individualismus durch den Neoliberalismus, auch größere Ungleichheit und ein wachsendes Prekariat mit sich gebracht. „Autonomie wurde gegen Sicherheit, Teilhabe gegen soziale Gerechtigkeit getauscht.“ Was früher den Aufstieg sicherte (Abitur, Universitätsabschluss), tut dies heute nicht mehr notwendigerweise.

Der Idee des ‚Fahrstuhleffekts‘ aus den 1980er Jahren, der zufolge Arm und Reich immerhin gemeinsam im Fahrstuhl nach oben fahren, setzt Nachtwey für die Gegenwart die Metapher der Rolltreppe entgegen, die nun jedoch nach unten fährt. Kollektiv betrachtet seien die Arbeitnehmer auf dem absteigenden Weg. Die Wohlhabenden befinden sich bereits auf höheren Ebenen und bleiben dort, weiter unten rennt man gegen die Rolltreppe an. Der Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert sich – eine Beobachtung, die mittlerweile bereits die große Mehrheit der jungen Europäer macht. Diese neue Realität (zumindest der gewachsenen Gefahr) des sozialen Abstiegs zeitige die Rückkehr der sozialen Frage und ein neues Aufbegehren.

Dabei formuliert dieser äußerst ausführliche und präzise Band weniger die Prophezeiung eines solchen neuen Aufbegehrens als dessen Beschreibung und die seiner Gründe. Nachtwey begreift so unterschiedliche Bewegungen wie Occupy, die Parteien Podemos und Syriza, aber auch Pegida als Akteure dieses Aufbegehrens, das sich nun vermehrt über die sozialen Medien formiere und dezentral organisiere. Was diese Bewegungen verbinde, sei „die Wahrnehmung, dass bestimmte soziale Versprechen, die moderne Gesellschaften lange zusammenhielten, nicht länger eingehalten werden.“ Es gehe um die Sicherung von Aufstiegschancen und die Wahrung des bereits erreichten gesellschaftlichen Status, aber auch um Fragen der Anerkennung und Wertschätzung einzelner Gruppen in einer pluralistischen Gesellschaft.

In seinen Ausführungen streift Nachtwey die unterschiedlichsten Aspekte und bindet diese in seine Theorie vom neuen Abstieg mit ein. So sind in seinen Augen beispielsweise auch postdemokratische Dynamiken und die um sich greifende Gentrifizierung Teil dieser größeren Entwicklung – als Folgen, aber auch Katalysatoren. Ihm gelingt damit eine umfang- und facettenreiche Analyse der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Problemlage nicht nur in Deutschland, die auch die zahlreichen Verknüpfungen einzelner, oft isoliert betrachteter, Problemfelder aufzuzeigen im Stande ist. Wer die Mechanismen hinter den politischen und sozialen Veränderungen in der westlichen Welt der jüngsten Vergangenheit verstehen will, kommt an diesem Band nicht vorbei.

Nachtwey beschließt seinen Text mit einer Warnung. Die neu entstandenen, scheinbar schichtübergreifenden, grunddemokratischen Formen des Aufbegehrens können ein gegenläufiges Moment bereits in sich tragen: ein neues binäres Klassenbewusstsein, das sich in der „Kontrastierung einer Elite und der Bevölkerungsmehrheit“ manifestiere. In der Abstiegsgesellschaft bereite dies auch den Weg für eine autoritäre Strömung, „die sich der liberalen Grundlagen unserer Gesellschaft entledigt.“

Wir können im Jahr 2017 beinahe jeden Tag beobachten, welche politischen und gesellschaftlichen Folgen eine solche Gesinnung haben kann, insbesondere wenn ihr in persona der Weg ins mächtigste politische Amt der Welt gelungen ist (wenn auch die Tragweite heute getroffener Entscheidungen wohl erst in kommenden Jahren spürbar sein wird). Die Antwort auf die Frage nach den Auswegen aus dieser Situation hin zu einer „solidarischen Moderne“ bleibt Nachtwey letztlich schuldig. In Kenntnis der Herausforderungen und Probleme ist es nun wohl an uns allen, in diese Richtung zu wirken, ohne in die Falle des Autoritären zu tappen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
264 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126820

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