Der Schriftsteller als Brückenbauer?

Heft 217 der edition text+kritik ist Navid Kermanis vielfältigem Werk gewidmet

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der eindringlichen Rede zum 65. Jahrestag des Deutschen Grundgesetzes, der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und der ernsthaften Überlegung überregionaler Tageszeitungen, ob er als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten in Frage kommt, hat der Medienrummel um Navid Kermani nachgelassen. Umso erfreulicher ist es, dass nun ein text+kritik-Band vorliegt, der sich bemüht, der Vielschichtigkeit besonders des Schriftstellers Navid Kermani nachzugehen. Hat die Germanistik in Großbritannien schon einen Sammelband zu Kermani vorgelegt, gab es in Deutschland außer vereinzelten Artikeln bisher wenige Anstrengungen, Kermanis Werk gerecht zu werden. Naturgemäß kann text+kritik diese Lücke im Angesicht eines mittlerweile schon recht breiten Œuvres nicht schließen. Dennoch liegen Artikel von erfreulicher Heterogenität vor, die zwar das Religiöse oftmals bedenken, aber dem massenmedialen Etikett vom ‚islamischen Intellektuellen‘ nicht folgen.

Wenn die literarischen Texte Kermanis, die der Band liefert, zwar repräsentativ für seinen Stil, aber kaum besonders originell sind, so greifen theoretische Reflexion und literarischer Text hier doch auf selten geglückte Weise ineinander. Der Band wird von Kermanis Gedenktext an Heinz Ludwig Arnold eröffnet ‒ was auch dem Ort nach plausibel ist und redaktionell eine schöne Entscheidung ‒, daran anschließend analysiert Thomas Anz Kermanis Poetik des Todes und kann sich ausführlich auf eben jenes Gedenken beziehen (Anzʼ Beitrag länger zu besprechen mag allerdings an diesem Ort unaufrichtig wirken). Ebenso stattet Walter Erharts Beitrag über Kermanis Neil Young den Leser mit dem notwendigen hermeneutischen Rüstzeug aus, um den danach folgenden und eher unscheinbaren Brief Kermanis an Youngs Manager in seiner Tiefenstruktur zu erfassen. Der Autor kondensiert hier sein persönliches Verhältnis zur Musik von Neil Young, indem er schildert, wie Ralph Molina seiner Tochter auf einem Konzert einen Drumstick schenkt. Dass es eben diese Tochter war, deren Koliken Kermani durch Neil Youngs Musik therapiert haben möchte, wie der Essay Das Buch der von Neil Young getöteten berichtet, mag noch manchem Leser vertraut sein, dass aber der unscheinbare Satz „All our changes were there“ in dem (natürlich englischsprachigem) Brief gleichsam eine Chiffre ist, die in konzentriertester Form enthält, was Kermani an Neil Young bewundert, kann nur der eingefleischte Neil Young-Fan oder ein aufmerksamer Leser von Kermanis Schriften bemerken. Walter Erhart weist darauf hin, dass der Autor die Liedzeile aus Helpless in Ungläubiges Staunen heranzieht, um die Faszination zu fassen, die von Bellinis segnendem Christus ausgeht, der auferstanden noch ausgezehrt aussieht: „All my changes were there“. Botschaft, Verrat, Kreuzigung und Auferstehung. Der Spur dieser Bedeutsamkeit folgt Erhart fundiert durch Kermanis gesamtes literarisches Schaffen und vereint philologische Versiertheit mit genauer Kenntnis von Youngs Werk. Erhart zitiert im Titel seines Artikels aus Sozusagen Paris, wo es heißt, dass der Bass in Neil Youngs Stücken für den Protagonisten ein „Grundton überhaupt des Lebens“ ist.

Dieser schwer in Worte zu fassende Grundton kann symbolisch einstehen für eine Tendenz von Kermanis Werk, wie es im Band präsentiert wird. Denn wenn der Grundton einerseits Ausdruck eines persönlichen Zugangs zur Musik von Neil Young ist (ein Zugang der fiktiven Protagonisten seiner Texte, die oftmals Navid Kermani heißen, und von Kermani selbst), so artikulieren sich hier auch religiöse und genauer mystische Vorstellungen von einer Wahrnehmungsebene hinter der vernünftig begreifbaren und sprachlich artikulierbaren Wirklichkeit. Diesem Grundton folgt Kermani mit einem Verfahren, dass insbesondere der Sufismus perfektioniert hat: das Denken in Paradoxien, das Verbinden von Gegensätzen – das deuten viele der Beiträge an, ohne explizit zu werden. In diesem tieferen Sinne darf man Kermani als Brückenbauer verstehen, als Denker, der Gegensätzliches zu verbinden weiß. Hier hört aber die Stichhaltigkeit dieses im Feuilleton so gern bemühten Bildes auf (das zuletzt Martin Schulz bei seiner Preisrede anlässlich der Verleihung des Marion Dönhoff-Preises exzessiv bemühte und natürlich an eine Verbindung zwischen Morgen- und Abendland dachte), denn Kermani möchte nicht von einer Seite auf die andere wechseln oder Getrenntes verbinden, ihm geht es stets darum, Widerstände auszuhalten, Paradoxien stehenzulassen (insofern eine Dialektik ohne Synthese). Wenn Thomas Anz feststellt, dass der Tod im Zentrum von Kermanis Werk steht, so lässt sich ergänzen, dass Kermani damit aber immer auf das Leben zielt. Michael Hofmann konstatiert in seinem Beitrag über die Liebe in Kermanis Werk, dass hier die zwischenmenschliche Liebe mit der mystischen Gottesliebe zusammengedacht – wenn auch nicht zusammengeworfen – wird, und Torsten Hoffman benennt in seinem Beitrag zu Kermanis Autofiktionen ein spezifisches Trennungsproblem: Vor allem in den jüngsten literarischen Werken inszeniert Kermani eine mehr als doppelbödige Poetik, welche die Grenzen zwischen Realität und Fiktion noch stärker verwischt, als es bei Autofiktionen ohnehin der Fall ist. Kermani verwische nicht nur die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, sondern anschließend verwische er noch das Verwischen.

Die Schriftstellerkollegin Nora Bossong unterstreicht ebenfalls jenen Grundton von Kermanis Schriften, getrennte Bedeutungssysteme zusammenzudenken, kritisiert allerdings dieses Verfahren bei der Marion-Dönhoff-Preisrede, in der Kermani bei aller Kritik an Trumps Amerika dessen Wähler in den ländlichen Gebieten in Schutz nimmt und gegen Ende Bob Dylan spielt, um das andere Amerika auch ästhetisch zur Sprache kommen zu lassen. Sie fürchtet hier eine ästhetische Manipulation der Zuhörer, welche die notwendige, nüchterne Debatte gefährde. Ähnliche Schwierigkeiten hat Felix Heidenreich, der in dem lesenswerten Briefwechsel mit Klaus von Stosch seine Position verteidigt, dass viel beachtete Gebet am Ende der Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels infiltriere einen säkularen Kontext mit religiösen Gesten – verhandelt wird grundsätzlich die Frage, ob der Rechtsstaat sich auf eine religiöse Auseinandersetzung einlassen kann. Beide zuletzt genannten Beiträge sind insofern spannend, als sie mehr mit Kermani denken, als über ihn. Es mag poetologisch schön und geglückt sein, Gegensätze auszuhalten und in Paradoxien zu denken, aber wie lässt sich daraus eine allgemeine Rechtsprechung ableiten und auf interkulturelle Krisen auch rechtsstaatlich reagieren? Dieses Problem zu lösen, kann allerdings schwerlich Kermanis Aufgabe sein.

Gefehlt hat in diesem Kontext ein Artikel, der die utopische Dimension von Kermanis Denken verhandelt, die – wie könnte es auch anders sein – dezidiert auf säkulare Demokratie und Spiritualität zugleich setzt. Wie das Grundgesetz nach Kermani Wirklichkeiten geschaffen hat, durch die Kraft des Wortes, so vermisst er im gegenwärtigen Diskurs gerade den Blick auf das utopische Projekt, das Europa war, bevor es eine Verhandlungssache zwischen Rechtsstaaten wurde. Das ist nicht zuletzt ein romantisches Projekt und es verwundert immer wieder, dass Kermani selbst nie auf Novalisʼ Idee des Romantisierens zu sprechen kommt.

Es geht ihm gerade in seinen literarischen Texten konkret – und das kommt in den Beiträgen auch zu kurz – um die Kunst des richtigen Lebens in einer Welt, die oft genug falsch erscheint; hier zeigt sich die Wirkung Adornos, dessen Minima Moralia Kermani wie eine Bibel herumgetragen haben möchte.

Zwei Beiträge gehen nicht der paradoxalen Struktur von Kermanis Werk nach. Einmal der rhetorisch fundierte Beitrag von Gustav Seibt, der Kermanis Rede zur 65. Jahresfeier des Grundgesetzes präzise analysiert und auf die Strategien griechischer und römischer Rhetorik verweist, die hier großartig genutzt werden (dabei lässt sich vermuten, dass Kermani deutlich stärker durch die schiitische Rhetorik geprägt ist – und nicht so sehr durch die arabische Rezitationskunst, wie Seibt vermutet −, deren auch gegenwärtige Wirksamkeit er in seinen Texten oft genug betont); außerdem findet sich ein Beitrag Claudia Kramatscheks zu Kermanis Reportagen. Leider konnte Kramatschek den gerade erschienen Band Entlang den Gräben nicht mehr rezipieren, vielleicht hätte auch sie sonst stärker auf die paradoxe Verbindung von Fiktionalität und Faktualität verwiesen, wie sie Kermanis Reportagen zunehmend (und in Entlang den Gräben am deutlichsten) grundieren. Vom Besucher zum Berichterstatter hat Kermani eine Figur entwickelt, die vom Modus des Berichtens immer stärker zur Form der Einfühlung und des persönlichen Erlebens wechselt. Aber auch Kramatschek betont, dass im Zentrum der Reportagen die Menschen und ihr Leben stehen, nicht so sehr die politischen Mechanismen. Bedenkt man den Stellenwert, den die Reportagen schon quantitativ in Kermanis Œuvre einnehmen, hätte man hier auch gerne noch einen weiteren Artikel gelesen. Es wird deutlich, dass ein Band einfach nicht genügen kann. Sympathisch wird dieser von Norbert Lammert geschlossen, der Kermani einen Widerspruch nicht ersparen möchte, den der Schriftsteller scheinbar doch schlecht aushält: die Freundschaft zu einem Politiker – denn hier vermischen sich Bedeutungssysteme, bei deren Symbiose Kermani laut Lammert befürchte, sein für den Intellektuellen wichtiges subversives Image zu gefährden. Insgesamt bietet der Band eine Vielschichtigkeit, die dem Werk des Autors durchaus gerecht wird, und liefert insbesondere eine erfreuliche Vielfalt an Perspektiven, die Kermanis Bedeutsamkeit weit über die Grenzen literaturwissenschaftlicher Fachdiskurse unterstreichen.

Titelbild

Hannah Arnold / Steffen Martus / Axel Ruckaberle / Michael Scheffel / Claudia Stockinger / Michael Töteberg / Hermann Korte: Navid Kermani. Heft 217.
Gastherausgeber: Torsten Hoffmann.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2018.
95 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869166681

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