Weltflucht

Naira Gelaschwilis Novelle ,,Ich fahre nach Madrid“ ist die verwunderliche Geschichte eines erschöpften Träumers und ein berührendes Plädoyer für die Kraft der Imagination

Von Johanna MangerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Manger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tun Sie mir bitte den Gefallen und sagen Sie, wenn jemand nach mir fragen sollte, dass ich auf einer Dienstreise bin…“ – ob die Reise nun nach Sochumi, Minwod, Kutaissi oder doch nach Madrid geht scheint für Sandro Litscheli ganz gleichgültig, denn seine Sehnsucht nach Ruhe und Abgeschiedenheit führt ihn geradewegs in das Krankenhauszimmer eines Tbilisser Vororts. Was auf den ersten Blick wie die Analyse eines von der hektischen Arbeitswelt erschöpften, psychisch kranken Mannes anmutet, entwickelt die georgische Schriftstellerin Naira Gelaschwili zu einem behutsam gezeichneten und zugleich verwundert-fragenden Portrait eines Mannes, der in jenem nummernlosen Krankenzimmer nicht nur Ruhe und Freiheit findet, sondern der Realität vor allem durch seine Fantasie zu entfliehen vermag.

Zum ersten Mal geschah es mit ihm vor dem Fernseher, als er den Satz vernahm: »Da fließt der Rustawi-Stahl!«, und später »Da wogt das grüne Meer!«, und auf dem Bildschirm waren grenzenlose Teeplantagen zu sehen. […] Er saß da und weinte. Dann kam es noch zum unwillkürlichen Lachen!

Was auch immer diesen merkwürdigen seelischen Zustand ausgelöst haben mag, Sandro Litscheli scheint in der Obhut seines allerengsten Freundes, des Chefarztes, nicht nur durch dessen regelmäßige Besuche, die freudigen Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit und den regelmäßigen Cognac-Genuss zu Kräften zu kommen. Vor allem findet er endlich Zeit, zu reisen: Zu den spanischen Inseln und nach Madrid. Selbstverständlich handelt es sich nur um imaginäre Reisen, zu erträumten aber so lebhaft geschilderten Orten, dass Tagtraum und Realität unmittelbar ineinander übergehen. Mag er dem Leser vielleicht etwas wunderlich erscheinen – Litscheli selbst nimmt sich und seine „sonderbare Anwandlung“ einfach hin, ohne den Versuch einer Selbstanalyse. Er lernt spanische Lieder zu singen, Gedichte vorzutragen und sammelt, überzeugt davon, eines Tages tatsächlich nach Madrid zu reisen, Gastgeschenke für alle, die ihn – so ist er sich sicher – dort erwarten würden. Dass sowohl der Chefarzt als auch sein psychisch erschöpfter Patient selbst dem Krankenhauspersonal zu verstehen geben, er leide unter einer schweren Krankheit, verschafft Litscheli die lang ersehnte Ungestörtheit. In Abwesenheit seines Freundes kommt es aber gerade durch diese Unwahrheit zu einem Missverständnis, das die Novelle tragisch und seltsam zugleich enden lässt.

Was Ich fahre nach Madrid besonders lesenswert macht, ist die einfühlsame Erzählweise, mit der der Erzähler versucht, den sonderbaren Fall Litschelis und dessen merkwürdiges Wesen zu verstehen und zu beschreiben. Dies geschieht auf so sachliche, urteilsfreie und poetische Art und Weise zugleich, dass das Schicksal jenes Mannes und seine träumerische Weltflucht am Ende vollkommen verständlich erscheinen. Die über weite Teile objektive Haltung des Erzählers nimmt jedoch an einigen Stellen beinahe pathetische Züge an. „Jetzt aber werde ich erst einmal die vorgebrachten Anmerkungen gruppieren und sie nacheinander beantworten.“ So werden – einer systematischen Erörterung gleich – mögliche Vorurteile, die die Leser Sandro Litscheli gegenüber haben könnten, nacheinander dementiert. Dabei entwickelt sich die Verteidigungsrede für diesen gebildeten und staunenden Träumer, der in seinem Krankenzimmer Papiervögel faltet, Kopfstände auf dem Fensterbrett macht und Skizzen von Spaziergängern im Park anfertigt, zu einem Plädoyer für die Freiheit des dichterischen Denkens und der Gedanken überhaupt. Vor dem Hintergrund der Unfreiheit in der Zeit des sowjetischen Regimes, in der die Erzählung entstand, die erstmals 1982 in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde und auf heftige Kritik seitens des Regimes stieß, wird solch ein geistiges Aufbegehren umso interessanter und nachvollziehbarer. Dass die Kraft der Imagination nicht nur als eine Form des geistigen Widerstands sondern als eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gefühl innerer Freiheit angesehen werden kann, wird vor allem auch durch die Ansichten des Erzählers deutlich. Dieser reflektiert beinahe essayistisch über die Bedeutungen von „Ferne“ und die Sehnsucht nach ihr oder die Frage danach, welche Realität intensiver erlebt werden könne – die tatsächliche oder die des Traumes. Letztlich verliert er sich selbst in der Traumrealität, wenn er sich vorstellt, wie die Göttin Dehar in ihrer Galerie „nur die echten, aber unsichtbaren, nie geschaffenen Meisterwerke der Kunst“ sammelt und ihre Existenz beinahe flehentlich herbeisehnt: „Oh, du mächtige Gottheit Dehar! Ich will, dass es dich gibt!“

Die Geschichte und das sonderbare Wesen Sandro Litschelis rücken so oftmals in den Hintergrund. Sie werden zum Ausgangspunkt für das Nachdenken über allgemeine, philosophische Fragen und Aspekte des menschlichen Daseins, die immer wieder deutlich machen, wie notwendig das Träumen und die Vorstellungskraft im hektischen, ermüdenden Alltag sind. Was durch die wieder erwachten, lebhaften Erinnerungen an die Vergangenheit und die für die Zukunft erträumten Reisen nach Spanien als heilende Flucht aus der Gegenwart in Erscheinung tritt, lässt zugleich immer wieder eine Vorahnung des Todes entstehen. Nicht nur kommt Litscheli irgendwann zu dem Schluss, dass er in Wirklichkeit wohl nie nach Madrid reisen wird, auch anhand der von ihm erlernten Gedichte lässt sich eine gewisse Melancholie und vielleicht der Wunsch, selbst aus der Welt „fortzufliegen“, ablesen.

Die Geschichte Litschelis und vor allem seine Liebe zu Spanien wird als ein Beispiel der „Völkerbefreundung“ und der Liebe der Nationen untereinander angeführt. Dies mag ohne den geschichtlichen Hintergrund der Separationsbestrebungen einzelner kaukasischer Völker während der 80er Jahre etwas idealistisch überformt erscheinen. Insgesamt schafft es Gelaschwili jedoch gerade durch ihre einfache, immer wieder poetische Sprache eine berührende Geschichte zu erzählen und dadurch den Zugang zu ihren philosophischen Überlegungen zu erleichtern. So wird das Imaginäre, Träumerische zu einer „Realität“, die nicht nur lebendig beschrieben wird, sondern auch beim Lesen erfahren werden kann, was die Novelle ganz abgesehen vom historischen Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu einem zeitlosen Werk macht. Ich fahre nach Madrid ist ein kleines Kunstwerk voller Melancholie und humorvoller Leichtigkeit, über das man zuweilen schmunzeln und sich wieder und wieder wundern kann.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Naira Gelaschwili: Ich fahre nach Madrid. Novelle.
Mit einem Nachwort von Jörg Sundermeier.
Übersetzt aus dem Georgischen von Lia Wittek und Mariam Baramidse.
Verbrecher Verlag, Berlin 2018.
90 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323088

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