Die Zeichensprache des Akazienlaubs

Die Übersetzerin Julia Schiff legt einen beeindruckenden Überblick über ungarische Lyrik in einer zweisprachigen Ausgabe vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die sogenannten kleinen Sprachen, vom Baltikum bis zum Balkan, haben es naturgemäß schwer, von ihren mächtigen Nachbarn zur Kenntnis genommen zu werden. Das gilt im politischen Leben ebenso wie im kulturellen Bereich.

Von den literarischen Gattungen scheint die Lyrik am besten geeignet, in der Vermittlung sprachloser Nachbarschaft gute Dienste leisten zu können. Einer der bekannteren ungarischen Dichter, György Petri, hat in seinem Gedicht Über die Poesie eine wunderbare Definition geliefert, die bezeichnenderweise den engen gesellschaftspolitischen Bereich überschreitet und die Form einer grundsätzlichen Lebenseinstellung angenommen hat:

Wenn Situationen und Gedanken / klar aufeinander hinweisen, / ohne daß das eine auf das andere / zurückzuführen wäre: // kein Wort / über Schlußfolgerung, über Notwendigkeit, / so weißt dennoch / ˗ wie die Bäume auf ihre Wurzeln ˗ / das eine auf das andere hin // ˗ unfaßbar: / dann hat die Poesie ihr Ziel erreicht.

Die Bandbreite der im eigenen Land traditionell hoch angesehenen ungarischen Lyrik ist weit und reicht von persönlichsten Reflexionen bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Anliegen.

Der Herausgeberin und Übersetzerin Julia Schiff ist es auf vorzügliche Weise gelungen, in ihrer repräsentativen Anthologie diesen Anforderungen gerecht zu werden. Seit Jahrzehnten macht Schiff mit unermüdlicher Ausdauer auf ungarische Autoren aufmerksam.

Die vorliegende Sammlung Streiflichter. Fénycsóvák umfasst die Jahrgänge zwischen 1921 und 1981 und lässt sich in drei grobe Gruppen aufteilen: Jenen Biografien, die noch von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gestreift wurden, folgen die Prägungen durch die Jahrzehnte der realsozialistischen Diktatur, während die jüngste Autorengruppe in Zeiten einer zunehmenden Globalisierung geboren wurde und sich letztlich vor ähnlichen Herausforderungen gestellt sieht, wie im übrigen Europa.

Julia Schiff hat gut daran getan, sich bei dieser Zusammenstellung von ihrer persönlichen Intuition leiten zu lassen. Es sollte weder eine Dokumentation entstehen noch einer wie auch immer gearteten literarischen Schule der Vorzug eingeräumt werden. Im Mittelpunkt der Auswahlkriterien sollte die Qualität der Texte stehen, nicht mehr und nicht weniger. Auf diese Weise ist es zu erklären, dass vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten in einem Band versammelt sind, die in ihren politischen Einstellungen zum Teil diametral auseinander liegen. In der Zusammenschau überrascht die thematische Vielfalt ebenso wie der Reichtum an sprachlichen Bildern und Formen.

Neben der wohl bedeutendsten ungarischen Lyrikerin des 20. Jahrhunderts, Ágnes Nemes Nagy, die während der stalinistischen Herrschaft Publikationsverbot hatte, finden sich Vertreter einer eigenwilligen katholischen Moderne wie János Pilinszky aber auch etwa Verse von András Fodor, der in der Phase des realen Sozialismus einige Jahre als hoher Funktionär ein Amt im ungarischen Schriftstellerverband innehatte.

In einer reflexiven Verschränkung gelingt Éva Petrőczi in Als wärʼs für die Prüfung… ein betörendes Liebesgedicht. Auf subtile Weise verschmelzen Eindrücke der Kindheit mit kaum zu zügelnden Gefühlsregungen einer erwachsenen Frau:

Als wär‘s für die Prüfung, genauso ˗ / (spotte nur über mich, / die Schülerin mit ergrautem Haar!) / genauso erlerne ich für dich aufs Neue / die Künste meiner Kindheit: / ohne Berechnung vergossene / Tränen, / die bräunliche Dämmerung / totgeglaubten / dichten Tannenwalds, / Fährten vom Wild, Waldhimbeer-Aroma / und die Zeichensprache des Akazienlaubs: / die liebliche, sanft bebende / Bewegung grüner Hände. // Ja. Besonders dies. // Ich liebe dich. So wie duʼs mir erlaubst. / Und zügle zur Akazienblatt-Regung / den Orkan.

Neben Gedankenlyrik von Imre Oravecz oder Haikus von Imre Babics werden auch erzählende Langgedichte vorgestellt, die wie etwa in Ruine von András Visky über mehrere Seiten hinweg Bilder der Vergänglichkeit meditiert, um zu einem lakonischen Schlussvers zu gelangen: „Verlassene Schneckenhäuser in der prallen Sonne: die fehlerlosen Spiralen der endlosen Leere.“

Ein Bio-bibliografisches Verzeichnis sowie zwei Nachwörter erleichtern den Zugang zu einer durchaus eigenwilligen literarischen Welt, in der die Vielfalt der Formen wie auch der exotisch anmutende Reichtum an Farben und Motiven auf indirekte Weise Auskünfte über ein wechselvolles Schicksal in der europäischen Geschichte erteilen. Sowohl die persönlichen Anmerkungen der renommierten ungarischen Lyrikern Orsolya Kalász wie auch der kurze literaturhistorische Überblick von Árpád Hudy tragen zusätzlich hilfreich dazu bei, bislang verborgene Wege und Zugänge freizulegen.

Titelbild

Stiftung Lyrik Kabinett: Streiflichter. Fénycsóvák. Eine Anthologie ungarischer Gedichte. Zweisprachig ungarisch-deutsch. Ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Julia Schiff.
Mit Nachworten von Orsolya Kaláz und Árpád Hudy.
Stiftung Lyrik Kabinett, München 2018.
217 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776476

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