Gestrandete und andere Menschen

Neun Erzählungen von Catalin Dorian Florescu

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach sechs umfangreichen Romanen und mehreren bedeutenden Literaturpreisen hat der 1967 in Temeschwar (Timişoara) geborene Zürcher Schriftsteller Catalin Dorian Florescu zum ersten Mal einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Vier werden in Der Nabel der Welt erstveröffentlicht, die anderen fünf stammen aus den Jahren 2001 bis 2006 und sind bereits in diversen Anthologien erschienen. Durchaus ungewöhnlich ist, dass es ein Vorwort gibt, in dem der Autor einige seiner Erzählungen selbst kommentiert. So bezeichnet er die 2001 entstandene titelgebende Kurzgeschichte nicht als solche, sondern als einen literarischen „Bericht über eine Entwurzelung“, in dem sich in konzentrierter Form „alle Elemente und Beweggründe meiner künftigen Prosa“ fänden, nämlich: „Aufbruch aus der Heimat, Suche nach Glück und Freiheit, Ankunft in einer unbekannten Welt und die erneute Sehnsucht, diesmal nach dem, was man zurückgelassen hat. Im Besonderen aber: die Resilienz des Menschen angesichts der Widrigkeiten des Lebens“. Die Tatsache, dass seine Protagonisten „auf die eine oder andere Art allesamt Gestrandete“ sind, erscheint ihm als „Klammer und Essenz für alle Geschichten des Bandes“. Ohne jeden Zweifel geben Florescus Selbstkommentare, die wohl auch auf seine Romane übertragbar sind, wertvolle Hinweise auf das, was sein Schreiben im Innersten zusammenhält. Zugleich sind es Anmerkungen, die den Blick des Lesers in eine ganz bestimmte Richtung lenken möchten und seinen Blickwinkel vielleicht sogar verengen können. Selbstverständlich hat sich Florescus Erzählkunst im Lauf der Zeit entwickelt und verändert. Das macht seine Sammlung abwechslungsreich, führt aber auch dazu, dass man vergleicht und abwägt – und nicht jedem der neun Texte dieselbe Qualität, Aktualität und Dringlichkeit zuerkennen mag. Es gilt zu unterscheiden und genauer hinzusehen.

Tatsächlich umkreist der kurze, autobiografisch grundierte erste Text bekannte Migrantenthemen: den Auszug aus Rumänien, das eher zufällige Ankommen am „Nabel der Welt“ – wie der Vater die Schweiz nennt –, das Bemühen um Anpassung an die Sitten des Gastlands, die Fremdheit der neuen Sprache und das „besondere Empfinden für Grenzen“. Insofern ist Der Nabel der Welt eine eher herkömmliche, deswegen aber nicht uninteressante Skizze eines Zustands der Vorläufigkeit zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Ihr folgt die 2016 entstandene Geschichte Ich muss Deutschland, deren Erzähler ein 1990 geborener rumänischer Grenzpolizist ist, der neuerdings vor allem syrische Flüchtlinge an der Einreise in den EU-Raum hindern soll. In dieser durch längere Dialogpassagen aufgelockerten Erzählung finden sich betrübliche Feststellungen zur rumänischen Gegenwart: „Der halbe Wohnblock ist ausgeflogen, lebt im Ausland, putzt österreichische Hintern, reinigt deutsche Zahnprothesen, erntet spanische Erdbeeren“. Die politische Situation gibt Anlass zu mancherlei Reflexionen über Grenzen sowie über den Umgang mit Flüchtlingen. Und natürlich spürt der junge Grenzer einen Syrer auf, stellt ihn und – lässt ihn laufen. Die etwas langatmige, politisch sehr korrekte Erzählung endet mit einer programmatisch gemeinten humanitären Geste: „Ich schnüre in Eile meine Schuhe auf und gebe sie ihm“.

Wesentlich mehr Überraschungen bietet die 2013 geschriebene, auf der Insel Sylt spielende Geschichte mit dem Titel Gestrandete, die recht umständlich und langweilig beginnt, plötzlich jedoch eine unerwartete Wendung nimmt. Denn die sehr deutsche und äußerst wohlhabende Ferieninsel, die allerdings ständig kleiner wird – „Sie wird kürzer und kürzer, wie eine alte Frau, die sich beeilt, besser in den Sarg zu passen“ –, mutiert, vorgewarnt durch einige schicksalsträchtige Vorzeichen wie zum Beispiel eine blutende Madonna, zur Insel Lampedusa. Eine „Armada von Schiffen“ taucht auf, und „Tausende“ afrikanischer Flüchtlinge bringen das Gewohnte durcheinander. Alles Wehklagen der Einheimischen – „Wir sind nicht mehr unter uns! Wir sind geliefert! Wenn die es bis hierher geschafft haben, schaffen es die nächsten auch“ – ist vergebens. Doch muss das national beinahe homogene, abgeschottete, wenig weltoffene Inselleben für immer Normalität bleiben? Der fluchterfahrene Ich-Erzähler, ein rumänischer Schweizer mit Gehörschaden, erlebt die Ankunft der Flüchtlinge ganz anders: „Das Summen im Ohr setzte aus“.

Neues und Spannendes bietet Russisches Roulette – keine Kurzgeschichte, sondern eine im Präsens gehaltene längere Erzählung mit stringenter Hinführung zum Knack- und Wendepunkt, harten Schnitten, plausiblen Rückblenden und einem nur scheinbar offenen, Florescus Generalthema „Gestrandete“ elegant variierenden Schluss. Sie spielt in Turin – im Vorwort spricht der Autor von seiner „Idee eines Romans mit Turin-Bezug“ – und schildert die Nöte und Verwirrungen eines Mannes, der sich zwischen Ehefrau mit Kindern und Geliebter entscheiden muss. Warum und wie dieser Simone an einen sich illegal in Italien aufhaltenden marokkanischen Gelegenheitsdieb namens Latif gerät und was sich aus dieser seltsamen Bekanntschaft ergibt, wird – mit Anleihen an bewährte Krimi-Dramaturgien – gekonnt und packend erzählt. Zurück nach Rumänien führt die 2004 entstandene Hochzeitsnacht, die den nach dem Sturz der Diktatur einsetzenden raschen Umbruch im Lande eindringlich schildert. „In diesem Land hieß man Menschen mit Brot und Salz willkommen… Aber nach Neunzehnhundertneunundachtzig hatten sich die Sitten geändert, man hieß Menschen auch mit dem eigenen Körper willkommen. Insbesondere, wenn er noch jung und glatt war, und der Gast aus dem erträumten Land kam“. Der Gast in Turnu Severin heißt Urs, und seine Frau soll die 23-jährige Nora werden. Für sie könnte Urs die Zukunft sein: „Sogar sein Pass glänzte“. Der Schweizer wiederum macht sich keine Illusionen über sein rumänisches Abenteuer: „Ihm war klar, dass das Geld und die Schweiz womöglich stärkere Argumente waren als seine Person“. Hauptthema der eindrucksvollen Erzählung ist die „Perspektivlosigkeit“, die in den 1990er-Jahren Millionen von Menschen zu schaffen machte, „bis nach Russland eigentlich“. Im Heimatland bleiben oder in den Westen ziehen – um diese Frage und um die Verluste, die mit beiden Optionen verbunden sind, dreht sich die Geschichte, die auch den Hintergrund des Ganzen beleuchtet, nämlich die bleiernen Jahre des Ceauşescu-Regimes. Ein ähnliches Thema hat der 2002 entstandene, nicht ganz so geglückte Text Der letzte Kunde der Nacht, der von sich mit Autoscheiben-Waschen durchschlagenden Straßenkindern wie Radu und seiner durch die Umstände zur Prostituierten mutierten Schwester erzählt. „Radus Geschichte spielt sich in einem fernen Land ab. Fern, aber nicht so fern, dass es nicht mehr Europa wäre. Und doch ist es ein Land, das für viele nicht existiert, denn aus Radus Land ist nie etwas Wichtiges gekommen. Eigentlich ist es ein abwesendes Land“.

Ganz anders die in St. Moritz verortete, in fünf Kapitel aufgeteilte Hotelgeschichte Die Augen der Alten, in Ich-Form vorgetragen von einem aus Rumänien stammenden Angestellten des „Palace“, das mit der Ankunft des russischen Millionärs Boris Nikitin seltsame und ungewohnt unruhige Zeiten erleben muss. In diesem Text geht es erneut um den Gegensatz zwischen meist armen Migranten mit weitem Horizont und den Reichen dieser Welt, die sich in St. Moritz herumtreiben: „Man bewegte sich in einem geschlossenen Kreis, wenn man es nicht Hamsterrad nennen wollte“. Es geht aber auch, und das ist neu, um die Erzählkunst und die Malerei – der aus ärmsten Verhältnissen stammende, das Licht und die Weite malende und später mit einem eigenen Museum geehrte Giovanni Segantini spielt hier eine wichtige Rolle, war er doch auch „ein Vagabund, ein Staatenloser, einer von unklarer Nationalität, wie man ihm nachsagte“. Nicht nur der Schluss dieser Erzählung macht ihre enge Verwandtschaft mit der Sylt-Geschichte Gestrandete deutlich – so wie es ist, ahnt der Leser, wird es auch in St. Moritz nicht bleiben.

Der Geruch der Welt handelt, wie Florescus jüngster Roman Der Mann, der das Glück bringt, von der „Suche nach Glück“, die zwei junge Migranten in Brügge zusammenführt – wobei die weibliche Figur, Ursula, eine muslimische Bosnierin, durch Krieg und Gewalt in ihrer Heimat schwerstens traumatisiert ist und eigentlich nur lesen, aber nicht mehr sprechen will. „Sie kam davon, aber nicht ihre Sprache. Jahrelang sprach sie nicht mehr. Schweigend kam sie nach Belgien“. Mit einem welthistorisch bedeutsamen Datum und entsprechend möglichen Lesererwartungen spielt der Titel der letzten Geschichte dieses Buchs: 11. September. Sie führt wiederum, diesmal in Zürich, zwei höchst unterschiedliche, vielleicht in ähnlichem Maße unglückliche Personen zusammen. Der verzweifelte Max Birner, kaum über 30, leidet an den Spätfolgen einer unversehens über seine Familien hereingebrochenen Tragödie  – schlimme Dämonen plagen ihn, „die schlimmsten von allen“. Rosalia aus São Paulo, schon etwas älter und von ihrem Aussehen her eine „Cher ohne Geld“, ist nach einer gescheiterten Ehe mit einem Schweizer ins Drogen- und Hurenmilieu geraten, wo die „Gestrandeten aus aller Welt“ ihr Unglück spazieren führen. Dass Rosalie und Max Wohnungsnachbarn sind und mit der Verzweiflung des jeweils Anderen in gewisser Weise gut umgehen können, stellt sich erst am Schluss dieser Erzählung heraus.

Der Nabel der Welt enthält, zusammenfassend gesagt, eine Reihe lesens- und empfehlenswerter Erzählungen, aber eben auch einige weniger gelungene Texte, deren Dramaturgie, deren Erzählrhythmus, deren bisweilen zu ausufernde, zu wenig verdichtete Sprache nicht wirklich überzeugen. Ob es eine gute Idee war, derart unterschiedliche Texte aus mehr als 15 Jahren in einem Band zu versammeln? Wie auch immer – dass Catalin Dorian Florescu zu den wichtigen deutschsprachigen Prosaautoren der mittleren Generation gehört, beweisen seine Romane. Auch dort lernt man ganz verschiedene „Gestrandete“ kennen, und auch dort berühren ihre letztlich der ungerechten Weltordnung seit 1990 geschuldeten Schicksale. Dass und wie der Autor das schafft, ist beachtlich.

Titelbild

Catalin Dorian Florescu: Der Nabel der Welt. Erzählungen.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
237 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406712517

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