Freiheit von Furcht statt Furcht vor der Freiheit

Möglichkeiten des Handelns stehen im Zentrum von Hannah Arendts „Die Freiheit, frei zu sein“

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 2017 veröffentlichte Jerome Kohn in der Zeitschrift The New England Revue einen Text aus dem Nachlass Hannah Arendts in der Library of Congress in Washington unter dem Titel Die Freiheit, frei zu sein, mit dem Hinweis „A Lecture“, datiert „1966-67“. Im Januar 2018 erschien der Text bei Schocken Books unter dem Titel The Freedom to Be Free in dem Band Thinking Without a Banister, Essays in Understanding, Vol. 11. Es handelt sich möglicherweise um einen Vortrag vor dem Committee on Social Thought an der University of Chicago.

Der Text wurde zum Bestseller, Interviews mit dem Herausgeber erschienen im Deutschlandfunk und in der FAZ. Am 12. Januar 2018 erschienen, wurden die 36 Seiten in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung am 13./14. des Monats halbseitig gewürdigt; die Rezensentin erhielt am 19. Februar bereits die dritte Auflage als Rezensionsexemplar. Die Nähe zu On Revolution (New York, 1963) und Revolution and Freedom: A Lecture (Vortrag am Connecticut College, Oktober 1961) ist deutlich. Im Text wird auf ein eindeutiges historisches Ereignis verwiesen, den „Vorfall in der Schweinebucht“ (17.4. – 19.4.1961). Eine Datierung auf 1961 statt 1967 erscheint also durchaus sinnvoll. Den in der englischen und deutschen Ausgabe gewählten Titel Die Freiheit, frei zu sein leitet der Herausgeber Thomas Meyer von Henry David Thoreau her, obgleich Arendt auf Thoreau nicht eingeht, vertrat dieser doch genau das Gegenteil dessen, was Arendt betont: die innerliche, ja mönchisch sich in vermeintlicher Souveränität selbst isolierende Freiheit. Thoreau unterscheidet in dem von Meyer als vermeintliche Quelle Arendts herangezogenen Essay Life without principle (postum 1863) zwischen dem Befreitsein von politischen Tyrannen bei gleichzeitiger Untergebenheit unter einen ökonomischen und moralischen Tyrannen. Die Amerikaner seien einerseits zwar frei von König George, andererseits aber „weiterhin Sklave von König Vorurteil“. Darum „wird es Zeit, dass man sich um die res privata – den Zustand des Einzelnen – kümmert“.

Arendt indes wendet sich gegen eine auf Singularität setzende Perspektive auf den Freiheitsbegriff (Gedanken-, Willens-, Wahl- und Entscheidungsfreiheit, die philosophische Freiheit des „Ich will“). Sie will dagegen eine gemeinschaftliche und öffentliche Perspektive eröffnen im Sinne einer Handlungsfreiheit (Pluralität in der politischen Freiheit des „Ich kann“ bzw. „Wir können“ nach Arendt, auf der Basis von Montesqieu: „pouvoir faire ce que l‘on doit vouloir“). Dies basiert auf ihrer Anthropologie der „vita activa“ nach Aristoteles‘ Menschenbild des politischen und dabei sprachlich handelnden Lebewesens in Bezug auf eine gemeinsame Welt. Dadurch besagt der gewählte Titel eigentlich das Gegenteil des von Arendt Gemeinten. Sollte er in Analogie zu der aktuell wichtigen Formel „das Recht, Rechte zu haben“ gebildet sein? Arendt unterscheidet zwischen der Freiheit von Furcht („freedom from fear“) und der Freiheit von Not („freedom from want“). Letzteres als die soziale Frage ist nicht lösbar, ersteres aber sehr wohl. Die Freiheit von Furcht ist „der Wunsch nach Freiheit, also ein politisches Leben zu führen“, die Freiheit von Not dagegen ist eine „Befreiung“, die als „Rebellion“ zu bezeichnen ist. Die Freiheit von Furcht bedeutet eine dauerhaft wirksame Veränderung in Form der „Revolution“ als „der Zugang zum öffentlichen Bereich und die Beteiligung an Regierungsgeschäften“. Während die Armut, Not und Arbeitszwang nach dem Zusammenbruch der Monarchie im „alten Europa“ (für Amerikaner) auch in anderen Regierungsformen erhalten blieben, zielt die Freiheit von Furcht auf Menschenwürde, eine Freiheit und Gleichheit, die Arendt mit Jefferson „lovely equality“ nennt. Wenn „die Freiheit, frei zu sein“ in dem vorliegenden Text nicht nur einmal, sondern dreimal benannt wird, immer im Kontext der „Freiheit von Not“, als „Privileg einiger weniger“, als Marxscher Klassenkampf, ist sie gerade nicht das Thema dieses Textes, sondern ein notwendiges Übel. Ein Übel, mit dem sich die arrangierten, die auf eine andere Freiheit zielten, nämlich die Befreiung einiger, gerade der Armen, aus ihrer Nicht-Sichtbarkeit. Erst durch die Koppelung von „Freiheit und Politik“, wie in dem gleichnamigen, auch von Meyer herausgegebenen Aufsatz Arendts (Vortrag Zürich, 1958), ist die Freiheit gewonnen; denn Mut ist als politische Tugend nicht die eines Einzelnen, sondern der Gemeinschaft. „Der Mut befreit von der Sorge um das Leben für die Freiheit der Welt“, die andauern und überdauern soll, heißt es dort, und: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“.

Damit ist auch die Reflexion des Freiheitsbegriffs in den Kontext der Analyse des Revolutionsbegriffs gestellt. Arendt leitet die revolutionäre Kraft des Mutes, die sie unter allen Metaphern des Sturmes und des Stromes entdeckt, aus der Antike her. Es sind die Worte John Adams‘, mit denen sie die „Tugend des Politischen“ als „Leidenschaft für die öffentliche Freiheit“, mit Tocqueville als „gout“ und „passion“ leiblich intensiviert, beschreibt, in dem jetzt veröffentlichten Text wie schon in Über Revolution: „a desire to be seen, heard, talked of, approved and respected by the people around him“. Adams‘ Worte verstärkt Arendt durch die Definition „This public freedom is a tangible worldly reality, created by men to enjoy together in public – to be seen, heard, known, and remembered by others.“ Das meinte Aristoteles mit der sichtbaren Partizipation an „öffentlichen Angelegenheiten“ zum allgemeinen Wohl, im öffentlichen Reden.

Es hatte eine Logik, dass Thomas Meyer nach der Herausgabe von Freiheit und Politik jetzt diese Schrift veröffentlicht hat. „Freiheit ohne Politik gibt es eigentlich nicht“, weil sie, die Freiheit, gar keinen Bestand hätte, so Arendts Definition. Freiheit liegt in der öffentlichen Welt, nicht im Privatinteresse begründet. Die Menschen werden bei Arendt nicht „in den öffentlichen Bereich getrieben“, sondern suchen ihn auf, angespornt vom Engagement für das Gemeinwohl. Hier sind grundlegende Aspekte von Arendts Anthropologie berührt, ebenso wie sich Freiheit in der Anwendung politischer Wissenschaft in der Trias „Überlegung, Diskussion und Überzeugung“ zeigt, niemals „Überredung“. Nur so wird Freiheit „Zulassung aller zum öffentlichen Bereich sowie ihrer Beteiligung bei der Verwaltung der Angelegenheiten, die alle betreffen“.

Arendts „political science“ wurde immer wieder angegriffen, weil ihre Unterscheidung zwischen der Amerikanischen Revolution und der Französischen Revolution nicht verstanden wurde. Mit Hilfe dieses Textes kann die Differenz gut nachvollzogen werden, denn aus der Amerikanischen Revolution folgte eine Republik und aus der Französischen eine Despotie, weil die Amerikanische Revolution aus einer Übung im politischen Denken, Sprechen und Handeln in „town hall meetings“ gegründet ist und in Frankreich keine politischen Organe im Sinne von Miniatur-Athens entstanden. Die amerikanische Formel von „public happiness“ (als Ersatz für den Eigentum-Begriff John Lockes) ist dann als „public freedom“ zu deuten, im Sinne der aristotelischen Handlungstheorie einer „vita activa“ als politischer Tugend, die ethische und dianoetische Tugenden vereint.

Dass die Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Schrift zum aktuellen Zeitpunkt besonders produktiv ist, ist von allen Seiten in den Medien eindrücklich dokumentiert. Thomas Meyer, Autor des Nachwortes, hat durch seine beiden Arendt-Herausgebertätigkeiten bei Reclam, Wir Flüchtlinge (1943, 2016) und Mensch und Politik (1958 und 1960, 2017), bereits wichtige Arendt-Texte mit entsprechenden Hinweisen und Einordnungen zugänglich gemacht. Es ist zu wünschen, dass von diesen Texten ausgehend der Kosmos des Arendtschen Denkens entdeckt und vor allem nachvollzogen wird, wie sie im Schreiben für bestimmte Gelegenheiten wiederkehrende Begriffe, Zitate, Übersetzungen und Vermittlungsanstrengungen immer wieder neu komponiert und einen spezifischen situativ angepassten Verstehensprozess verfertigt, der auch durch einen ständigen bewussten Blick auf die Mehrsprachigkeit nur noch weiter gewinnen kann.

Die Frage für heutige Lesende ist, was Arendts Würdigung der Freiheit in dieser programmatischen Schrift für unser heutiges Demokratieverständnis bedeutet. Befinden wir uns nicht – wie Erich Fromm, ähnlich wie Arendt als Amerika-Exilant um einen geistigen, demokratischen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg bemüht, es 1941 formulierte - auf einer „Flucht vor der Freiheit“, wenn nicht wir selbst, dann doch viele unserer MitbürgerInnen, die wir nicht mehr für demokratisches Miteinander gewinnen können, die für die Demokratie verloren scheinen? Wie kann der Weg von der negativen Freiheit als Freiheit gegenüber äußerem Zwang, z.B. angepasstes Leben in diktatorischen, autoritären, faschistoiden Systemen, in eine positive Freiheit als produktive Freiheit, die Freude an politischen Tätigkeiten umfasst, umgewandelt werden? Nach Fromm ist die Unterscheidung Hegels entscheidend: die sogenannte negative Freiheit von Zwang ist nur der erste Schritt, die positive Freiheit für oder zur Selbstbestimmung der entscheidende zweite, Fromm vergleicht dies mit dem biblischen Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies, eine Apologie des Ungehorsams, der Rebellion zugunsten einer Individualisierung, die aber als Verantwortung ausgestaltet werden muss. Hierdurch wäre Arendts Differenz zwischen Befreiung (Rechte-Haben als Anfangsakt, conditio sine qua non der Freiheit) und Schaffung der Freiheit (Rechte-Gestalten als aktive Verwirklichung im Zugang zu dem öffentlichen Bereich und Beteiligung an der res publica, conditio per quam der Freiheit) immer noch weiter zu veranschaulichen. Fromm argumentiert, wie Arendt, anthropologisch, auch in der politischen Analyse des Nazismus als Passivität, auch Fromms historische Beispiele von Renaissance und Reformation bilden sinnvolle, parallele Untermauerungen von Arendts Konzentration auf die Revolutionen. Diese Hinweise sollen unterstreichen, wie sehr Arendts Text wichtige Fragestellungen im Kontext historischer und aktueller politischer Problemstellungen berührt und befruchtet: die „Flucht aus der Demokratie als Flucht vor der Freiheit“ trotz ihres Geschenktseins.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein.
Mit einem Nachwort von Thomas Meyer.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
dtv Verlag, München 2018.
64 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783423146517

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