Es schlummert in dir

„Neujahr“ – Juli Zehs Roman über das Kinder-Haben und Kind-Sein

Von Carla SwiderskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carla Swiderski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das „Es“ steht bei Sigmund Freud für das Unbewusste im Seelenleben, für das, was sich dem Zugang des bewussten „Ich“ genauso wie dem regulierenden „Über-Ich“ entzieht, die im Freudschen Modell zusammen mit dem „Es“ die Trias des menschlichen Seelenapparats bilden. „Es ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit“, sagt Freud in seiner Vorlesung Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. „Dies unpersönliche Fürwort scheint besonders geeignet, den Hauptcharakter dieser Seelenprovinz, ihre Ichfremdheit, auszudrücken.“ Das dachte sich anscheinend auch Juli Zeh, deren neuer Roman Neujahr sich mit Verdrängung und Traumata, mit den aus den Tiefen der Psyche aufsteigenden Ängsten, schlicht dem „ES“ auseinandersetzt, aber auch mit der Frage nach frühkindlicher Prägung, nach den Weichenstellungen im Leben.

Henning, der Protagonist, wird nach der Geburt seines zweiten Kindes von heftigen Panikattacken heimgesucht. Sie scheuchen den jungen Vater unermüdlich auf und lassen ihn kaum zur Ruhe kommen. Schließlich scheint Henning schleichend die Handlungsmacht abgegeben zu haben – an „ES“, das „ihn bewohnt“ wie ein „Tier, ein Parasit, ein Alien, das demnächst seine Bauchdecke durchstoßen wird“. Die folgenden Entscheidungen werden dann auch weniger von Henning als von einer ihm unbekannten ‚inneren Führung‘ getroffen. Er hat „plötzlich“ das Bedürfnis, nach Lanzarote zu reisen, und bucht schließlich ohne Absprache mit seiner Frau Theresa ein kleines Reihenhaus in Playa Blanca für die vierköpfige Familie, wo sie die Weihnachtszeit verbringen. Eine „spontane Idee“ führt ihn am Neujahrstag zu einer Radtour den angrenzenden Vulkan hinauf. Hier begegnet er seinem wenige Jahre jungen Ich, dem nun die personale Erzählstimme durch ein traumatisches Erlebnis folgt, das Henning bislang offenbar erfolgreich verdrängt hat.

Kunstvoll blättert sich das aktuelle Leben von Henning in Reflexionen und kurzen Szenen während der schweißtreibenden, den Rhythmus vorgebenden Fahrradfahrt auf. Die Beziehung zu Theresa, der Versuch einer gleichberechtigten Arbeitsaufteilung, die Rolle als Vater, der Job, die Work-Life-Balance, über all das denkt Henning nach, während er sich aufs Atmen und Treten konzentriert. Mit zunehmendem Kampf gegen die Steigung des Vulkans, dem immer unerträglicher werdenden Durst durch die sportliche Anstrengung in der sengenden Sonne, dem Flirren der kargen, lavageprägten Insellandschaft streuen sich Momente der Entrückung, der Täuschung, des Irrationalen in Hennings Gedanken und ermöglichen schließlich, dass er sich dem lange verborgenen Moment der Traumatisierung öffnet. So übernimmt im zweiten Teil des schmalen, symmetrisch aufgebauten Romans das (innere) Kind die Führung durch die lange zurückliegenden Ereignisse. Die Erzählung hält sich nicht mit einer langsamen Rekonstruktionsarbeit auf, sondern springt direkt in das circa 30 Jahre zurückliegende Geschehen.

Das ist spannend geschrieben und führt einen tief in die kindliche Psychologie hinein. Zugleich entsteht durch den plötzlichen Zeitsprung eine soghafte Wirkung, da man quasi live bei der Ausprägung von „ES“ dabei ist. Was schließlich zu der permanent im Hintergrund stehenden Frage führt, inwiefern die kindliche Logik dem Denken des Erwachsenen immer noch zugrunde liegt und seine Handlungen und Entscheidungen (unterbewusst) bestimmt. Auf welche Weise ist die Kindererziehung mit der eigenen Kindheit verknüpft? Gelingt ein erfülltes Familienleben, wenn die traumatischen Erlebnisse aus frühesten Jahren unaufgearbeitet in einem schlummern? Diese Überlegungen verbinden die beiden Romanhälften und machen die komplexe Figurenpsychologie aus. Allerdings werden durch ebendiese Handlungsführung die anfangs aufgeworfenen gesellschaftlichen Themenkomplexe des Familienlebens, des Eltern-Kind-Verhältnisses, der Gleichberechtigung in der Beziehung, der Erfüllung im Beruf, dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung auch auf eine rein individuelle Ebene zurückgespielt. Die zu Beginn gelegte Fährte eines gesellschaftsanalytischen Panoramas läuft damit ein wenig ins Leere und wird durch ein ganz auf das Private konzentrierte Persönlichkeitsporträt ersetzt, was im reduzierten Schlussbild des Romans besiegelt wird. Das ist durchaus legitim, auch wenn es die selbst mit erschaffene Erwartungshaltung etwas enttäuscht.

Mit Neujahr knüpft Juli Zeh indirekt an ihren Roman Nullzeit (2012) an, in dem ebenfalls im kanarischen Setting auf Lanzarote die Lebensentwürfe der Protagonisten fernab der deutschen Gesellschaft auf die Probe gestellt und mit dem sportlichen Erlebnis des Tauchens gegengeschnitten werden. In beiden Romanen zeichnet sich deutlich ein individualpsychologisches Interesse ab, das den von Freud benannten dunklen, unzugänglichen Teil der Persönlichkeit auszuleuchten versucht. Die in Neujahr eingeführte Bezeichnung „ES“ für den ichfremden Part im Inneren des Selbst sendet neben Freud nun auch einen ganz leisen Wink in Richtung Stephen Kings Es (1986), von dem letztes Jahr eine Neuverfilmung die Kinos füllte. Diese konzentriert sich auf die von „Es“ verkörperten Ängste der Kinder, was, wie aus dem Roman bekannt ist, zu anschließend lange verdrängten traumatischen Ereignissen führt, die schließlich bei den Erwachsenen wieder hochgespült werden. Derselbe Horror liegt den Panikattacken von Henning zugrunde, auch wenn Zeh in ihrem Roman ein anderes Genre und eine ganz andere, nicht weniger vorantreibende Erzählweise gewählt hat.

Titelbild

Juli Zeh: Neujahr. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
191 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875729

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