Der Italienwanderer und das Handwerk des Lebens

Über Michael Jaegers philologischen Essay „Salto mortale. Goethes Flucht nach Italien“

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 23. August 1786 schreibt Goethe an Charlotte von Stein aus Karlsbad einen Brief, ohne sein künftiges Reiseziel Italien zu verraten, einen Brief mit der Mitteilung, dass er noch eine weitere Woche bleibe. „Und dann werde ich in der freyen Welt mit dir leben und in glücklicher Einsamkeit, ohne Nahmen und Stand, der Erde näher kommen aus der wir genommen sind.“ Am 1. September beschwört er Charlotte: „Laß niemand mercken, daß ich länger aussenbleibe.“ Am nächsten Tag folgt eine letzte Mitteilung an die Freundin in Weimar: „Morgen Sonntags den 3ten Sept. gehe ich von hier ab, niemand weiß es noch. Niemand vermuthet meine Abreise so nah. […] Lebe wohl du süses Herz! Ich bin dein.“ Wann er sein Reiseziel für sich bestimmte, steht nicht fest. Sicher ist, dass Italien seit Langem das Land seiner Sehnsucht war. Im Juli 1786 hatte er an seinen Freund Jacobi nach England geschrieben: „wenn du wiederkommst, werde ich nach einer anderen Weltseite geruckt sein“. Niemand durfte etwas wissen, konspirativ ist das Vorgehen des Ministers vor und während seiner Flucht in den Süden, selbst Herzog Carl August, der den Urlaub genehmigen musste, erhält nur vage und nebulöse Andeutungen.

Michael Jaeger, der in den letzten beiden Jahrzehnten bedeutende Studien zum Werk und zur Biografie sowie zur Rezeption Goethes und zur Ideengeschichte der Moderne vorgelegt hat, unterzieht 200 Jahre nach dem Erscheinen der ersten beiden Bände der Italienischen Reise in seinem Essay Salto mortale. Goethes Flucht nach Italien, einem gleichsam „konversionsartigen Bruch“ des Schriftstellers und Ministers „mit seiner bisherigen Existenz“ und der „Flucht in ein neues Leben“, einer luziden philologischen und philosophischen Betrachtung.

Dabei begibt er sich auf Spuren, die in den Originaldokumenten der zweijährigen Reise zu finden sind, insbesondere die Charlotte von Stein zugeeigneten Reisetagebücher und die in dieser Zeit an sie gerichteten Briefe. Für diese über 1.700 Mitteilungen an seine Freundin Charlotte von Stein hätte Goethe „sämtliche Literaturpreise aller Zeiten“ verdient gehabt, urteilte einmal Siegfried Unseld. Die geheimnisumwitterte Reise nahm im Oktober 1786 ihren Anfang im böhmischen Karlsbad, wo Goethe sich seinerzeit zur Kur aufhielt. Die Briefe, die er im Herbst des Jahres auf seiner Flucht nach Italien schrieb, sind Dokumente einer traumatischen Trennung, aber auch die eines Menschen auf der Suche nach einem authentischen Leben und nach dem Glück.

Ihn trieb eine existienzielle Krise zur Flucht nach Italien, in zahlreichen unredigierten Papieren, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen ist davon die Rede. Sogar vom Sterben ist in seinen Briefen des Öfteren zu lesen; das, so Jaeger, werde „gemeinhin nicht mit seiner vermeintlich unbeschwert-heiteren Fahrt in den Süden in Verbindung gebracht“. Goethe habe bis auf wenige Ausnahmen in den erst 1816 und 1817 sowie 1829 veröffentlichten drei Bänden der Italienischen Reise den „Todesaspekt herausredigiert“, der einigen der zwischen September 1786 und Mai 1788 verfassten Briefe ihre düstere Grundierung verleiht. In gleicher Weise sei er auch mit der Originalkorrespondenz verfahren, in denen er seine in Weimar entstehende und von ihm nicht länger zu ertragende Lebenskrise anspricht, die auch zur Krankheit führte.

An Charlotte von Stein schreibt er im Dezember 1786: „Daß du kranck, durch meine Schuld kranck warst, engt mir das Herz so zusammen, daß ich dirs nicht ausdrucke. Verzeih mir ich kämpfte selbst mit Todt und Leben und keine Zunge spricht aus was in mir vorging, dieser Sturz hat mich zu mir selbst gebracht. Meine Liebe! Meine Liebe!“ Eine Woche vorher heißt es an Caroline und Johann Gottfried Herder: „Ich erhole mich nun hier nach und nach von meinem Salto mortale“. Er war am 29. Oktober in Rom eingetroffen, nach zwei vergeblichen Anläufen in den Jahren 1775 und 1779: „Ich fange nun erst an zu leben und verehre meinen Genius.“ Am 2. Dezember lautet es an Charlotte von Stein: „ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt von dem Tage da ich Rom betrat“, zwei Monate später in einem Brief an den Herzog: „ich lebe eine neue Jugend“.

Zu jener Zeit vor seinem „Todessprung“ war er weit davon entfernt, aus seinem Dasein ein Kunstwerk zu machen, sein amtliches Wirken in Weimar schien ihm wie das des Sisyphos, der den Stein vergeblich hinaufwälzt, oder wie Ixion, der das in sich kreisende Rad bewegt. An Charlotte von Stein schreibt er: „Ich bin recht zu einem Privatmenschen erschaffen und begreife nicht wie mich das Schicksal in eine Staatsverwaltung und eine fürstliche Familie hat einflicken mögen.“

Jedenfalls trägt Goethe in das Charlotte von Stein zugedachte Reisetagebuch im Oktober 1786 auf dem Weg von Bologna nach Florenz ein, „daß ich einen Plan zu einem Trauerspiel Ulysses auf Phäa gemacht habe“, und damit auf jene Stellen in Homers Epos hinweist, in denen sich Odysseus aus Sturm und Schiffbruch rettet. Für Jaeger bleibt Odysseus trotz dieser ausdrücklichen Homerassoziationen eine verdeckte Identifikationsfigur des Wanderers auf seiner Reise in den Süden, die er in den drei Bänden der Italienischen Reise nur noch anklingen lässt, wenn er von seinem Rettungs- und Heilungserlebnis spricht. Deutlich wird die Rettung des zweiten Ulysses allein in den Originaldokumenten der Reise.

Keiner durfte von Goethes Plänen genauere Kenntnis haben, es wurde von ihm ein Schweigeregiment errichtet, dem sich vor allem der Cammer-Calkulator Philipp Seidel, sein Vertrauter, Sekretär und Briefträger, zu unterwerfen hatte. Er wurde eingeweiht, zu seinem Komplizen, und aufs Verleugnen und Verschweigen eingeschworen. „Wenn jemand nach mir fragt, so sag: ich käme bald!“ Im gleichen Brief wird ihm verdeutlicht, dass sein Reiseziel Rom eine kurzfristige Rückkehr nach Weimar ausschließt; unter dem Ingognito Johann Phillip Möller wurde eine Adresse für postlagernde Sendungen eingerichtet. Unter diesem Namen empfing er auch die Geldsendungen, die ihm nachgeschickt wurden. Für Charlotte von Stein musste das Schweigen Goethes merkwürdig, verletzend, letztlich als Zumutung erscheinen. Auch das angekündigte Reisetagebuch, dessen Ankunft in Weimar sich immer wieder verzögerte, vermochte daran nichts mehr zu ändern.

Rüdiger Safranski schreibt in seiner Goethe-Biografie davon, wie das Würdevolle und Steife des Weimarer Dichter-Daseins mit dem Alterswerk Faust auffällig kontrastiert, in dem „er sich […] auch als kühner und sardonischer Mephisto, der alle Konventionen sprengt“, zeige. Das Steife und Trockene abzulegen, das gelang Goethe in Italien. Seine Geheimhaltung hatte, so Safranski, einen präzise zu benennenden Zweck: Er wollte die Entscheidung für Italien unabhängig treffen, zuvörderst vom Herzog. Zur rationalen Funktion gesellte sich noch die der Mystifikation: „Die Geheimhaltung schützt den Zauberkreis höherer Bedeutsamkeit. So auch bei der Reise nach Italien.“ Er wollte einfach nicht die „Wunderkraft des Ortes“ durch unzeitiges Bereden gefährden.

In seiner kleinen Schrift Goethe, Faust und der Wanderer schildert Jaeger, wie Mephisto Faust – in dem in Italien dem Text neu hinzugefügten Bruchstück – noch schnell zuruft: „Indessen mache dich zur schönen Fahrt bereit!“ Mephisto fasst das Geschehen, das in Rom ins Manuskript eingefügt wurde, zusammen und beglückwünscht Faust zum Bruch mit seiner alten Existenz und zur „Wiedergeburt“: „Ich gratuliere dir zum neuen Lebenslauf!“

Goethes italienischer Salto mortale, seine Wiedergeburt und zweiter Geburtstag in Rom und finden nach Jaeger „ihre dramatische und zugleich mephistophelisch-zynische Entsprechung in Fausts kühnem Schritt zum neuen Lebenslauf und mithin in Fausts Wiedergeburt“, eine in der Tat unglaubliche Übereinstimmung von Lebens- und Werkgeschichte. Das römische Emanzipationsunternehmen erhält seine Dramatik vor dem Hintergrund der verzweiflungsvollen Flucht aus der widersprüchlichen Beziehung Goethes zu Charlotte von Stein, seines Willens, den Künstler in sich wiederzuerwecken, einige liegengebliebene Werke wie Tasso, Iphigenie, Egmont abzuschließen, Neues zu beginnen und Abstand von seinen Amtsgeschäften in Weimar zu bekommen.

„Das Schlüsselwort der römischen Wiedergeburt lautet freilich Ruhe“, konstatiert Michael Jaeger in seiner umfangreichen Studie Wanderers Verstummen. Goethes Schweigen. Fausts Tragödie:

Es ist mit dem Glückserlebnis der gestillten Italiensehnsucht von dem Augenblick an verknüpft, da der Reisende in die Lichtgefilde der Alpensüdseite tritt. Hier verbindet es die Wiedergeburtsidee mit dem zweiten autobiographischen Grundprinzip der Italienischen Reise und fügt mit dem – der Überlieferung religiöser Konfessionsschriften entlehnten Konfessionsschriften entlehnten – Konversionsschema der „Wiedergeburt“ das an Platons Höhlengleichnis erinnernde philosophische Motiv der Anagnorisis hinzu, des Wiedersehens der wahren Urbilder also.

In Goethes Lebensgeschichte bedeutet dies die Wiedererlangung seiner Identität und Authentizität, seines wieder beruhigten Selbstbewußtseins. Er sei „auf das Niveau“ der „eignen Existenz zurückgebracht: Nun bin ich hier und ruhig, und wie es scheint, auf mein ganzes Leben beruhigt. Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume meiner Jugend sehʼ ich nun lebendig.“ Anders als in Rom, wo er in der Künstlerkolonie  zurückgezogen lebte, zog es ihn dann in Neapel in die „bessere Gesellschaft“. Wie Johann Heinrich Wilhelm Tischbein dort, öffnete der Maler Philipp Hackert in Neapel die Türen. Danach erfolgte die Reise nach Sizilien; Palermo, Taormina und Umgebung werden durchwandert. Wie in Rom die Kunst, so war es in Neapel und auf Sizilien vor allem die Natur, die ihn gefangen nahm. Die bereits eingeübte „Schule des Sehens“ wurde fortgesetzt. Nach seiner Rückkehr blieb er noch bis April 1788 in Rom. Jenseits der Alpen begann auf seinem Rückweg das schlechte Wetter. „Der Abschied aus Rom hat mich mehr gekostet als es für meine Jahre recht und billig ist“, schreibt er an den Herzog. Für die Alpen kaufte er sich einen Hammer, damit „werde er an den Felsen pochen um des Todes Bitterkeit zu vertreiben“.

Am 18. Juni 1788 kehrte Goethe schließlich nach Weimar zurück. Er hatte sich während der Kutschenfahrt noch einige Maximen für sein künfiges Leben notiert. Er wirkte gesprächiger und weniger zurückhaltend als früher, doch ließ er sich weder bei Hofe noch in seinem Bekanntenkreis über sein Verhältnis zu Charlotte von Stein aus, beide fanden nicht mehr den rechten Ton, er wusste wohl selber nicht, wie sich ihr Verhältnis in Zukunft entwickeln würde. Wo sie in ihren wechselseitigen Gelegenheitsschreiben das Pronomen nicht vermeiden, wechseln sie zwischen distanzierter und freundlich-liebenswürdiger Anrede. In ihrem letzten überlieferten Schreiben zu seinem Geburtstag am 28. August 1826 nennt sie ihn „Geliebter Freund“. „Aber beim Sie ist es geblieben“, wie Albrecht Schöne in seinem Buch Der Briefschreiber Goethe bemerkt.

Am 22. Juli 1788 begann dann eine andere gemeinsame Geschichte: Christiane Vulpius hatte als Bittstellerin für ihren Bruder Christian bei ihm vorgesprochen. Das Buch der Unruhe blieb für Goethe nie ganz geschlossen.

Titelbild

Michael Jaeger: Salto mortale. Goethes Flucht nach Italien.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
133 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783826064135

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