Ein Gespenst geht um in der Botanik

Stefano Mancuso sucht in der Flora nach Intelligenz

Von Christian MilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Milz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gespenst geht um in der Botanik – seitdem ein gewisser Cleve Backster, seines Zeichens Fachmann für die Anwendung von Lügendetektoren, 1966 auf die kuriose Idee kam, den neu erworbenen Drachenbaum aus dem Supermarkt an den Galvanometer anzuschließen. Seine Sekretärin hatte unbedingt „etwas Grünes“ im Büro haben wollen und Backster nach einem arbeitsreichen Tag Pflanze und Detektor bis in die Nachtstunden hinein aneinandergeheftet. Beide verstanden sich auf Anhieb: Dracaena massangeana und Galvanometerinszenierten einen Spuk außersinnlicher Wahrnehmung, der Backster besessen machte, ihn das berufliche Renommee kostete und an den Rand des Ruins brachte.

Damit war die Büchse der Pandora geöffnet, die Mär von Pflanzen, die denken und empfinden in der Welt sowie der Backster-Effekt im Lexikon. In der Schulwissenschaft war man über den medialen Wirbel, den Peter Tomkins und Christopher Birds Bestseller-Recherche über Das geheime Leben der Pflanzen entfachte – sie hatten weitere „Backsters“ aufgestöbert – not amused. Man beeilte sich, die dubiosen Daten fühlender und hellsehender Pflanzen im Labor zu widerlegen, was auch prompt gelang. Damit war das Thema Verhalten der Pflanzenfür einige Jahrzehnte wissenschaftlich vom Tisch. Übrigens ein bezeichnendes Reaktionsmuster von Wissenschaftlern, denen der Mut einer Herde von scheuen Rehen eignet. Mittlerweile traut man sich in der Botanik wieder an das Thema heran. Pflanzen dominieren das Leben auf der Erde nicht nur quantitativ, wir hängen in jeder Hinsicht von ihnen ab: von der Sauerstoffproduktion angefangen über die Ernährung und Medizin bis hin zur fossilen Energiegewinnung. Dabei vollbringen sie erstaunliche Leistungen, die „Intelligenz“ und Charakter“ doch irgendwie ähneln. Schon Charles Darwin und sein Sohn Francis verglichen Pflanzenwurzeln mit einem Gehirn.

Die Thematik kommt an. Allein Stefano Mancuso hat vor der Pflanzenrevolution bereits zwei weitere Bücher veröffentlicht: Intelligenz der Pflanzen (zusammen mit Alessandra Viola) und Aus Liebe zu den Pflanzen. Sogar die Philosophie hat sich eingeschaltet. Emanuele Coccia versucht mit Die Wurzeln der Welt einen radikalen, an der Botanik orientierten kosmologischen Perspektivwechsel. Die konsequente Einbeziehung der Flora geht dem der Biologie so geläufigen Gedanken der „Anpassung“ freilich wie die Wühlmaus an die Wurzeln. An was soll sie sich angepasst haben? Dahinter steht die Vorstellung eines Lebewesens hier, einer Umwelt dort und der Wirkung des einen auf das andere, was im Bereich der Mikroevolution gültig sein mag, im Hinblick auf größere Zusammenhänge aber keinen Sinn ergibt. Darwins Trauma hieß, modern ausgedrückt, „irreduzible Komplexität“. Er konstatierte: „Ließe sich irgend ein zusammengesetztes Organ nachweisen, dessen Vollendung nicht möglicherweise durch zahlreiche kleine aufeinanderfolgende Modifikationen hätte erfolgen können, so müßte meine Theorie unbedingt zusammenbrechen.“ Mit Verlaub, bereits die gängige Erklärung des Giraffenhalses erfüllt dieses Kriterium. Im Hinblick auf einen Selektionsvorteil muss nämlich gelten: ganz oder gar nicht. Minutiöse Halszuwächse in großen Zeiträumen sind unter dem Gesichtspunkt der Selektion für die Katz. Zudem hat sich herausgestellt, dass der lange Hals der Giraffe eine höchst komplexe Organisation verschiedener Organe bedingt, da das Blut ins Gehirn muss, wenn selbiges oben weilt, dort aber nicht im gleichen Maße hereindarf, wenn dieses sich unten befindet, weil das Tier beispielsweise trinkt. Also auch hier: ganz oder gar nicht. Entweder alle Veränderungen gleichzeitig und perfekt abgestimmt oder aber kein Leben. Ich will gar nicht behaupten, dass die Biologie solche Zusammenhänge nicht unter Umständen mit dem gängigen Paradigma in den Griff bekommen kann, nur soll sie uns bitte schön nicht für dumm verkaufen. 

Nun steckt der sein Publikum unterhaltende Autor Mancuso in einem veritablen Dilemma. Er ist in (mindestens) drei miteinander konkurrierenden und teilweise inkompatiblen Paradigmen unterwegs: Darwins Materialismus, dem lebendigen Erzählen und einer sehr sympathischen Liebe zu Pflanzen. Wie weiland die Naturwissenschaftler im Zeitalter der Inquisition den Namen Gottes, muss er allenthalben Charles Darwin beziehungsweise Vater und Sohn beschwören, während die Narration unübersehbar mit „irreduzibler Komplexität“ liebäugelt, weil das nun einmal ihr angestammtes Metier ist. Mancuso hat erstaunliche Geschichten auf Lager und bedient sich dabei evolutionsbiologisch-scholastischer Erklärungsmuster, die zum Schmunzeln anregen oder unter der Hand gleichsam dämonisch Züge annehmen.

Dass er sich (wie beispielsweise auch Daniel Chamovitz, Was Pflanzen wissen) begrifflich am menschlichen Erleben orientiert, ist dabei noch das wenigste. In Pflanzenrevolution erzählt Mancuso, wie sich der Samen der Ur-Futterwicke in Form, Größe und Farbe an den Linsensamen anpasste, weil es ihm nicht gefallen habe, von den Bauern aussortiert zu werden. Kann man nachvollziehen. Mais, Weizen und Reis hätten sich zu supereffizienten Pflanzen entwickelt und ein Ernährungsmonopol etabliert, so werde beispielsweise der Kohlenstoff des durchschnittlichen US-Amerikaners zu 69 Prozent vom Mais dominiert.

Das alles liest sich übrigens plumper, als es gemeint ist. Nur geraten sich die unterschiedlichen Paradigmen ins Gehege und verursachen gelegentlich ein intellektuelles Kuddelmuddel, das der Leser durchaus als Zumutung empfinden darf. Dem Botaniker im Labor mag die Konsistenz seines Orientierungsrahmens egal sein, das Publikum darf mehr erwarten. In Die Intelligenz der Pflanzen erzählt der Autor, wie die Orchideen die Insekten an der Nase herumführen. Tarnfähigkeit von Tieren wie dem Chamäleon sei gegen die von Orchideen wie Ophrys apifera rein gar nichts: Die Blüten der Bienen-Ragwurz imitierten beispielsweise perfekt die Form von Solitärbienen – also nicht staatenbildender Bienen und ahmten nicht nur deren Form, sondern auch die Gewebebeschaffenheit und flaumige Körperoberfläche der Biene und sogar ihren Paarungslockduft nach. Die Orchidee verführe die Drohne also durch dreifache Mimikry: Sie täusche erstens ihren Sehsinn durch Form und Farbe, zweitens ihren Tastsinn durch eine flaumige Oberfläche und drittens ihren Geruchssinn durch Pheromondüfte. Bei so viel Täuschung müsse die Drohne geradezu in die Falle gehen. Wenn die Ragwurzen blühen, paarten sich manche Drohnen lieber mit Blüten als mit einer anderen Biene.

Doch woher kennt die hinterhältige Orchidee den Sex der Solitärbiene so genau? Wieso hat diese Pflanze den vermeintlich langen, langen Weg über „zahlreiche kleine aufeinanderfolgende Modifikationen“ bis zu der perfekten Nasführerei überstanden, ohne auszusterben? Die dreifache Täuschung ist notwendige Bedingung für das Funktionieren der Falle. Wenn der Skeptiker nun versucht ist, die Keule der „irreduziblen Komplexität“ zu schwingen, dann wird die pflanzliche Schöne freilich auch diesbezüglich zum Biest. Bedauerlicherweise enthält uns der Autor diese Pointe vor. Unser blumiges „Model“ leimt die sexbesessene männliche Biene nämlich mehr oder weniger nur aus Jux und Tollerei. Es geht dabei eher um eine hübsche kleine Intrige der Flora gegen die Fauna als um die effektive Reproduktion – die in der Tat hierzulande bedroht ist. Und nun der Gag: In Bezug auf Nachwuchs hat die exzentrische kleine Orchidee eine zweite, exklusive Variante entwickelt. Dabei krümmen sich ihre Pollinienstiele nach unten und bringen so die Pollinien mit der Narbe in Berührung. Ophrys apifera verlässt sich nicht auf ihre ausgepichten Verführungskünste. In der Regel bestäubt sie sich selbst.

Mancusos Hypothese: Pflanzen und Tiere hätten sich evolutionär in die entgegengesetzte Richtung entwickelt und erstere dabei einen so einzigartigen und von letzteren weit entfernten Weg eingeschlagen, dass sie für uns zum Sinnbild von Andersartigkeit geworden seien und genauso gut Außerirdische sein könnten, so grundlegend unterscheide sich ihr dezentral funktionierender Organismus von unserem. Überspitzt ausgedrückt, sucht Mancuso auf seine Weise im Reich der Flora nach UFOs, die die Welt retten können. Dabei mag irgendwann einmal mehr herauskommen als Klettverschluss und Co.. Der Autor bringt durchaus interessante Ansätze vernetzt-modularer, am Pflanzlichen orientierter technischer Möglichkeiten zur Sprache, die seitens der Wirtschaft noch links liegen gelassen werden, offenbart aber andererseits, welch dünne Bretter die Evolutionstheorie bohrt. Denn im Grunde genommen belegt Mancuso erzählenderweise durchgehend das Gegenteil seiner Ausgangshypothese. So entgegengesetzt die evolutionäre Entwicklung bei Tieren und Pflanzen seines Erachtens verlaufen sein mag, so untrennbar, manchmal geradezu dämonisch verschränkt, ist die sogenannte Koevolution der beiden Stränge auch: siehe Ophrys apifera.

Titelbild

Stefano Mancuso / Alessandra Viola: Die Intelligenz der Pflanzen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Christine Ammann.
Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
188 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140303

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Titelbild

Stefano Mancuso: Pflanzenrevolution. Wie die Pflanzen unsere Zukunft erfinden.
Übersetzt aus dem Italienischen von Christine Ammann.
Verlag Antje Kunstmann, München 2018.
253 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783956142338

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