Die Welt ohne mich

Letzte Einsichten eines Katzenliebhabers von Genki Kawamura

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist höchstwahrscheinlich kein Zufall, dass in Japan im Jahr 2012 zwei Bücher zum Thema „Katzen als Sterbebegleiter“ Bestseller wurden. Hiro Arikawas Satoru und das Geheimnis des Glücks handelt von einem moribunden jungen Mann, der sich mit seinem Kater auf eine letzte Reise begibt. Kawamura Genkis (川村元気) Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden beschreibt einen Katzenliebhaber, Besitzer des Feliden Weißkohl, der vom Arzt die Auskunft erhält, an einem Gehirntumor erkrankt zu sein und nur noch wenig Zeit auf Erden zu haben. Beide Bücher erschienen im japanischen Original als Reaktion auf die Dreifachkatastrophe von Fukushima und können deshalb als Post-Desaster-Literatur (japanisch shinsaigo bungaku) gelten – in einer besonderen Variante, stellen diese Werke doch eine Literatur nach „Fukushima“ dar, ohne „Fukushima“ zu erwähnen.

Der Teufel im Aloha-Hemd

Als der Protagonist dieser Katzengeschichte mit der Diagnose Gehirntumor im Endstadium konfrontiert wird, zieht er die Bilanz seines relativ kurzen Lebens – in Form einer schriftlichen Aufzeichnung seiner letzten sieben Tage. Der Mann ist Postbote und bezeichnet sich selbst als langweiligen Typen, schreibt aber so flott wie ein Werbetexter. Seine traurige Situation beinhaltet den Tod seiner Mutter, die vor vier Jahren an einem Tumor starb, nachdem zuvor der von ihr geliebte Kater Eissalat dieser Krankheit erlag. Weißkohl, sein Nachfolger und ein Findelkind wie dieser, erinnert ihn an die Mutter und an die Zeiten, in denen die kleine Familie noch intakt war – mit dem Vater hat der kranke Postbote schon länger keinen Kontakt mehr. Von seiner früheren Freundin trennte er sich vor sieben Jahren und verbringt also viel Zeit alleine, wobei der vierbeinige Sozialpartner entscheidend dazu beiträgt, dass er trotz allem noch nicht den Humor verloren hat.

Eine überraschende Entwicklung nimmt die Geschichte, als plötzlich der Teufel im Zimmer des Todkranken erscheint und ihm einen Pakt anbietet. Für jedes Ding, das er von der Welt verschwinden lässt, dürfe der Mann einen Tag länger auf Erden weilen. Der Postbote willigt notgedrungen ein – weg mit allen Telefonen. Am Mittwoch verschwinden die Filme, am Donnerstag die Uhren. Der Teufel, an sich schon ein merkwürdiger Geselle in Gestalt des Postboten, hat es vermutlich auf die menschliche Medienumgebung abgesehen – wobei der Doppelgänger ein Aloha-Hemd trägt. Zunächst erweist sich der Verlust der Dinge als schmerzlich, setzt aber auch ein Nachdenken in Gang, das den Protagonisten auf manches aufmerksam macht, was er im Alltag nicht beachtet hat. So kommt er zu essentiellen Einsichten: „Erst jetzt, nachdem ich dem Fluss der Zeit entstiegen war, erkannte ich, was lebenswichtig gewesen wäre.“ Er trifft seine ehemalige Freundin, lässt Szenen aus der Vergangenheit Revue passieren, die er nun – als zwangsweise Gereifter – anders bewertet. Aus dem Verhalten der Mitmenschen zieht er, bedingt durch den Schnellkurs in der Schule des Todes, die richtigen Schlüsse, wie er generell seine Haltung in vielen Bereichen ändert. Nicht zuletzt korrigiert er seine Wahrnehmung gegenüber Katzen, die bislang auf menschlicher Fehleinschätzung und Überheblichkeit beruht hatte.

Dergestalt gereift, überwindet der Held seine Egoismen – zuletzt auch den, um jeden Preis am Leben zu bleiben. Denn als der Teufel nach den Telefonen, Filmen und Uhren alle Katzen von der Welt verschwinden lassen will, stimmt der Protagonist dem nicht mehr zu und verzichtet auf einen weiteren Tag der teuflischen Lebensverlängerung. Er rettet damit Weißkohl und alle anderen seiner Art. Am Ende seines Lebens ist ihm zudem völlig klar, wie er die letzten Stunden verbringen möchte. Für den Teufel bedeutet es natürlich eine schwere Enttäuschung, dass der Postbote den diabolischen Pakt aufkündigt.

Anleitung zum Loslassen

Im Text heißt es anlässlich des letalen Unfalls eines Freundes: „Es war das erste Mal, dass wir so unmittelbar mit dem Tod konfrontiert waren.“ Die Metapher des Unfalls weist in japanischen Texten nach dem 11. März 2011 meist auf die Erfahrung der Endlichkeit des Seins hin, eine erschreckende Erfahrung für die in der Mehrzahl an relative Sicherheit gewöhnte japanische Bevölkerung. Die literarische Umsetzung steht häufig im Zeichen von Trost und Versöhnung mit einem grausamen Schicksal.

Kawamura möchte dem Leser die Vorgaben in reduzierter Sentimentalität darbieten. Er arbeitet zwar mit allen emotionalisierenden Kunstgriffen, durchbricht dies jedoch mit spöttischen Wendungen. Selbstironie ist seinem Helden nicht fremd; ohnehin ist diese Art von Galgenhumor ein gängiges Merkmal japanischer (meist filmischer) Medienformate. So lässt er den Postboten, im Übrigen eine der beliebten „Retrofiguren“ der japanischen Gegenwartsliteratur, die die Materialität von Sprache in ihrer auf Papier geschriebenen Form und von Kommunikation verkörpert, während des Treffens mit seiner Freundin denken: „Ich hatte ihr einen Tod aufgedrängt wie ein schlechter Regisseur, der sich damit brüstet, sein Film werde ‚zu Tränen rühren‘.“  

Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden perpetuiert den Modus der japanischen Tragikomödie. Ein Leser, der noch keine Erfahrung mit diesem Format hat, wird das Buch wahrscheinlich als durchaus erbauliche Lektüre empfinden. Ob er es als gewinnbringende Belehrung in Bezug auf die auf dem Buchcover aufgeworfenen Fragen, „was ein gutes und erfülltes Leben ausmacht“ oder was im „Leben wirklich zählt“, würdigen kann, bleibt zu bezweifeln. Liest man nämlich zwei Beispiele dieser neuen Literatur aus Japan, drängt sich das Schema in den Vordergrund. Dann denkt man möglicherweise, dass ein solch wohlfeiler Trost, weltweit vermarktet vom Verlagskonsortium Random House, irgendwie teuflisch abgefeimt ist.

Titelbild

Genki Kawamura: Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
C. Bertelsmann Verlag, München 2018.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783570103357

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