Das Programmheft als Erweiterung des Bühnenraums

Toshio Hosokawa, „Erdbeben. Träume“. Libretto von Marcel Beyer. Nach Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“, Uraufführung Oper Stuttgart 2018

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Das Programmheft ist ein Format, das im Medialitäts- und Materialitätsdiskurs von Schrift und Text schlichtweg durchs Raster gefallen zu sein scheint und dem bislang primär Einzeldarstellungen gelten. Bei Besprechungen von Aufführungen in den Feuilletons und in einschlägigen Kultursendungen wird es in der Regel nicht erwähnt, und es gehört auch nicht zu dem Typus von Schriften, die in literaturkritik.de rezensiert werden.

Wenn hier eine Ausnahme – vielleicht aber auch: ein Anfang – gemacht wird, bedarf das einer Begründung. Die ist vielfältig, im Grunde aber sehr einfach: Noch erwirbt fast jeder Besucher einer Aufführung, seien es Opern, Theaterstücke, Konzerte oder andere Veranstaltungen, ein Programmheft, das in der Regel als Erinnerungsstück aufbewahrt wird. Diese individuelle Wertschätzung steht gänzlich im Widerspruch zu seiner Beachtung in der wissenschaftlichen und journalistischen Rezeption. Hier mögen die Selbstverständlichkeit und bloße Zweckbestimmtheit eines Programmhefts dessen tatsächliche Relevanz im kulturellen Geschehen überlagern, aber der faktische Befund der Vernachlässigung im Diskurs ist deshalb nicht gleichzeitig auch ein sachlich angemessener. Des Weiteren ist das Programmheft, um das es hier geht, so außergewöhnlich gut gemacht, dass es für einen Einstieg in die Besprechung dieses Mediums in literaturkritik.de geradezu prädestiniert ist. Und schließlich gründet – formal betrachtet – die inhaltliche Anbindung an ein literarisches Rezensionsforum auf der Besonderheit, dass in dem Heft das Libretto von Marcel Beyer abgedruckt ist, man also eine eingelagerte Ausgabe erster Hand erwirbt.

In der ersten szenischen Probe orientiert sich der Requisiteur Jens Rank über den Handlungsbogen des Librettos und schreibt in sein Probennotizbuch, das in Auszügen auf dem Blog der Oper Stuttgart veröffentlicht ist:

18 Szenen                    Ein (Alp-)Traum Phillips
                                      Szene 17: „Jetzt weißt Du, wer
                                                          Du bist!“
      Eine verschüttete Welt, Schichten der Erinnerung/Träume

ZEIT-                                          lückenhaft chronologisch
SPRÜNGE                                 nach Kleist erzählt          
     !

Die handschriftlichen Notizen, hier ohne die begleitenden Skizzen diplomatisch transkribiert, legen – dies auch in ihrer Notationsweise – das Gesamtkonstrukt, den Discours der Oper offen: Die Handlung von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili ist eingebettet in einen „(Alp-)Traum“ des überlebenden Säuglings Philipp, jetzt ein stumm gebliebenes Kind, das sich auf die Suche nach seiner wahren Herkunft begibt. Rank notiert einen Satz, der in der vorletzten Szene der Oper fällt. Der scheint die Herkunftsfrage zusammenschließend zu beantworten, doch vor dem Hintergrund des Geschehens tut sich ein Abgrund auf: „Jetzt weißt Du, wer / Du bist!“ Der Weg führt über eine „verschüttete Welt“, verschüttet die Welt mit ihrem sozialen Gefüge draußen nach dem Erdbeben, verschüttet aber auch die Welt im Kopf. „Schichten der Erinnerung/Träume“ müssen freigelegt werden. Nur läuft die Traumzeit nicht in kontinuierlicher Chronologie, sondern in Sprüngen. Und so erzählt Beyer „lückenhaft“.

Das Libretto ist keine Dramatisierung der Erzählung, es ist eine lyrische Verdichtung und umfasst nur wenige Seiten, genau gesagt sechs, die Seiten 54 bis 59 im Programmheft, zweispaltig in kleiner Schrift. Beyer setzt da ein, wo Kleists Novelle mit dem ungeheuerlichen Satz abbricht: „Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.“ Juan, das eigene Kind, ist durch eine Verwechslung Opfer der Lynchjustiz geworden, die dem außerehelich geborenen Philipp und dessen Eltern Josephe und Jeronimo galt. Diese waren durch das Erdbeben, das 1647 die Hauptstadt Chiles zerstörte, zunächst der Hinrichtung entronnen, zu der sie wegen ihrer frevelhaften Liebesbeziehung verurteilt worden waren. Nach der Katastrophe glauben sie sich mit den Überlebenden wiedervereint. Beide fallen aber, wie auch Don Fernandos und Donna Elvires Sohn Juan, der Gewalttätigkeit des aufgehetzten Volkes zum Opfer, das die über die Stadt hereingebrochene Katastrophe als Gottesgericht sieht und dem in seinen Augen sündigen Paar die Schuld zuweist. Während der Leser der Novelle aufgrund des Kleistschen Schlusssatzes fast, wenn auch mit Schaudern, geneigt ist, der Illusion eines versöhnlichen Endes zu verfallen, fragt Beyer, wie ein Kind in dem Schweigen über seine Vergangenheit leben kann. Ein Kind, das sein Überleben in einem außer Kontrolle geratenen Gesellschaftsgefüge dem Zufall einer Verwechslung, der brutalen Ermordung eines anderen Kindes, verdankt – und der liebenden Fürsorge eben dieser verwaisten Eltern. Äußerlich sichtbares Zeichen dieser Traumatisierung ist die Stummheit des Kindes.

Die Oper Erdbeben. Träume überlagert die vielfältigen literarischen, historischen und zeitgenössischen Bezüge des Stoffs in einer hochkomplexen Wort-, Bild-, Ton- und Bewegungscollage dreier Autoren: des Komponisten Toshio Hosokawa, 1955 in Hiroshima geboren, sowie der Dichter Heinrich von Kleist (1777–1811) und Marcel Beyer (1965). Die Uraufführung fand im Juli 2018 in Stuttgart statt unter der Regie und Dramaturgie von Jossi Wieler und Sergio Morabito, der musikalischen Leitung von Sylvain Cambreling und mit Anna Viebrock als Bühnen- und Kostümbildnerin. Seit der Spielzeit 2012/13 ist an der Oper Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem Grafiker Volker Kühn ein Typus von Programmheft entwickelt worden, der exemplarisch an dem Heft zur Uraufführung von Erdbeben. Träume vorgestellt werden soll.

Historisch betrachtet ist die Praxis des Programmhefts noch vergleichsweise jung; sie hat sich erst mit dem 20. Jahrhundert eingebürgert. Doch schon seit dem 15. Jahrhundert gab es den Theaterzettel, der mit wenigen Daten über das Stück und die Aufführung informierte. Bis heute ist er in dem losen Blatt erhalten geblieben, das – ins Programm eingelegt – vor allem bei wechselnden Besetzungen die jeweiligen Mitwirkenden nennt und nun nicht mehr Theater-, sondern Besetzungszettel heißt. In der Regel obliegt die Redaktion des Programmhefts dem Dramaturgen. Es ist damit auch Ausdruck seines Verständnisses von der Arbeit mit der Bühne und wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit einer Spielstätte. Die Funktion des Programmhefts kann die reine Sachinformation sein, über Bild ebenso wie über Text, wobei zum Teil gezielt eine Lenkung der Zuschauerrezeption vermieden wird; sie kann aber auch in didaktischer Ausrichtung die Einführung in das Verständnis von Stück und Inszenierung sein. Ein weiterer Typus von Programmheft hat keine Berührungsängste mit dem Publikum, nimmt es aber auch nicht an der Hand. Der Schwerpunkt liegt auf der poetologischen Reflexion: Es werden die Ebenen freigelegt, auf denen Stück und Inszenierung aufbauen, und so dem Leser Deutungsansätze angeboten, ohne ihm die Deutungsarbeit abzunehmen. Das Programmheft Erdbeben. Träume setzt diesen Typus auf besondere Art und Weise um: Während andere Häuser – mangels Nachfrage, nach eigener Aussage – auf Programmflyer wechseln, vertraut Morabito seinem Publikum und liefert mit 72 Seiten beinahe ein kleines Buch. Es gibt die Sachinformation, es gibt die Interpretationszugänge, es gibt aber auch in höchst verdichteter Form so viel Hintergrundmaterial, dass das Programmheft geradezu eine Erweiterung des Bühnenraums darstellt.

Regine Elzenheimers Schlüsselbeitrag greift mit dem Titel Sehen ohne Augenlider eine Anspielung Beyers auf Kleists Kommentar zu Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer auf, wenn Elvire in der Abschieds-Arie singt: „Die Bilder greifen eins ins andere, / wie überzeichnet. / Die Landschaft schwindet. / Als ob ich ohne Augenlider / auf die Welt gekommen wäre.“  In der „Denkfigur der Katastrophe“ stellt Elzenheimer die Verbindung zwischen den drei Autoren der Oper her. Zugleich ist damit das Leitthema dieses Programmhefts benannt, das konsequent an der Collagenstruktur der Oper andockt und sie aus dem Bühnenraum heraus in die (Buch-)Realität führt.

Der Schriftzug des Titels läuft über das Format des Hefts hinaus. Mit ausgefalteten Umschlagklappen ist man im Breitwandformat der Oper, die so viele Reize bedient, dass immer nur ein Teil davon wahrnehmbar ist. Das cremefarbene ungestrichene Papier verleiht dem roten Signalton der Titelschrift eine leichte Brechung. Er ist aber dennoch präsent und findet seine Entsprechung in den Kostümen der Sänger auf den Farbfotografien im Band. Die Schriften auf dem Umschlag – alle in Versalien – sind schräg ausgerichtet. Es wechseln Fett- und Normaldruck. Ein hellerer Rotton gilt dem Namen des Komponisten und den Namen der Sänger in einem Zitat aus dem Libretto. Das Libretto-Zitat wiederum tritt mit seiner knappen, verdichteten Sprache in Kontrast zum Zitat eines über neun Zeilen hinweg aufgespannten Kleist-Satzes. Dazu ein Inhaltsverzeichnis und eine Zeichnung, die man für eine Skizze des Bühnenbilds halten könnte, tatsächlich aber eine Gewölbe-Skizze von Kleist in einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom November 1800 ist, Hinweis auf einen Funken Hoffnung im Katastrophenszenario? Bei den Nachweisen der Texte und Bilder wird ein Ausschnitt aus Kleists Brief zitiert, man muss sie suchen, die Stelle:

Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat?

Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, dass auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken lässt.

Dabei bedient das Programmheft die traditionellen Erwartungen des Besuchers, tut dies aber auf eine unangestrengte Art und Weise, die zur eigenen Entdeckung verführt. Der schräge Beschnitt der Umschlagklappen am unteren Rand beispielsweise macht die rote Signalfarbe des Innencovers sichtbar, wodurch ein Reiz zum Öffnen der Klappen gesetzt wird. Innen auf Klappen und Cover finden zweisprachig eine Zusammenfassung von Kleists Novelle und ein Abriss des Operngeschehens Platz. Schließt man die Klappen, lässt man die Ebene der Histoire hinter sich. Sie ist nur die Folie, auf der sich die Denkfigur der Katastrophe entfaltet. Der Abdruck des Librettos, Beiträge von Regine Elzenheimer, Yûji Nawata, Takahiro Nishio und Uwe Schmitt sowie Kommentare des Bühnenteams sind gerahmt von Collagefragmenten, kurzen Textauszügen, die Stachel setzen: Alexander Kluge, „Witzlaffs Katastrophentheorie“, „Besuch der Kanzlerin“, „Absinken des Aktualitätswerts“; Voltaire, „Ein schönes Autodafé zur Beschwichtigung von Erdbeben“; Immanuel Kant, „Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens, welches 1755 einen Teil der Erde erschüttert hat“. Im Blättern des Hefts übersetzt sich das Gedruckte wie von selbst in die Dynamik und Tektonik der Musik, durch rhythmisch versetzte Textblöcke, in der Diagonale nach rechts oben ansteigenden, über den Blattraum hinausweisenden Überschriften sowie Auszeichnungen von (Zwischen-)Titeln und einzelnen Abschnitten in der Leitfarbe des Hefts. Unter den Abbildungen hinterlässt Anna Viebrocks Foto eines zerstörten, verlassenen Landschaftsausschnitts in Fukushima den nachhaltigsten Eindruck.

Wenn zunehmende Verwissenschaftlichung und Theorielastigkeit des Programmhefts konstatiert werden, ja, René Pollesch ein Requiem auf diese Art von Publikation anstimmt, kann das Programmheft Erdbeben. Träume nicht gemeint sein. Es spiegelt vielmehr eine ausgesprochen vitale Lust zu denken – mehr davon!

Oper Stuttgart (Hg.): Toshio Hosokawa: Erdbeben. Träume. Libretto von Marcel Beyer. Nach Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben von Chili. 72 Seiten und 8-seitige Besetzungsbeilage. 5,00 €.