Der Schnee, die Schrift, die Weihnachtsmänner

Karl Ove Knausgårds Meditationen „Im Winter“

Von Pierre MatternRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pierre Mattern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schnee wirbelt durch die Luft, doch das Gesetz ist unerbittlich. Entstehen die Kristalle unter gleichen Bedingungen, müssen sie gleich sein.

Und wenn die Schneeflocken den Raum über dir füllen, in ihren gewaltigen Mengen, als ein weißes Flirren vor grauem Himmel, und manche von ihnen auf der warmen Haut in deinem Gesicht schmelzen, während alle anderen sich lautlos auf Bäume und Zweige, Heidekraut und Gras ringsum legen, kann auch das auf keine andere Art geschehen.

Der Blick auf die Welt soll illusionslos sein, die sinnliche Überwältigung ergibt sich dennoch. Der Schnee gehört zu den ersten poetischen Erfahrungen, die man macht und an die man sich ein Leben lang erinnert.

In den (gleichmäßig auf die drei Wintermonate verteilten) sechzig Kurzessays, Miniaturen, Porträts, Skizzen in Karl Ove Knausgårds Im Winter, dem zweiten Band seiner Jahreszeitenfolge, der dem gleichen Album-Konzept folgt wie der Vorgänger Im Herbst, geht es immer wieder um die Varianten des Schnees, um die Dinge und die Elemente und das Wirken des Naturgesetzes:

Während Regen Teil einer kontinuierlichen Bewegung ist, bei der sich die Regentropfen in Pfützen, Tümpeln, Bächen, Wasserfällen, Seen, Meeren oder unterirdischen Kammern sammeln, um irgendwann zu verdampfen und wieder in die Luft aufzusteigen, markiert der Schnee das vorübergehende Aufhören dieser Bewegung.

Das ist ein Verfahren, das Knausgård immer wieder anwendet, eine seiner Findekünste: Bilde Oppositionen und versammle mit ihnen Handfestes. Dann aber spring – der Essay ist ja auch eine Kunst des Sprungs. Der sprachliche Eifer der Aufzählung, Unterteilung, des sinnlichen Aufrufens zielt meist auf Einsichten ab, auf eine verstehende Rechenschaft über die Dinge und ihr Verhalten, ihre Konsistenz, ihre Ordnung – aber auch über den Platz, den der Betrachter in der Welt einnimmt.

Diese Rechenschaft verlangt der Autor von sich auch deswegen, weil er ein Vater ist. Schließlich ist seine Prosa autobiographisch genug, um immer wieder auf das Verhältnis von Vätern zu ihren Kindern im Allgemeinen, von Vater Karl Ove zu seinen Kindern im Besonderen zu sprechen zu kommen. (Von der Partnerin, die hier zum vierten Mal schwanger ist, ist im ganzen Buch allerdings sehr wenig die Rede – nehmen wir an, aufgrund einer Absprache). Noch dazu begleiten erneut drei „Briefe an eine ungeborene“ – und dann, am 29. Januar, unter recht dramatischen Umständen – „neugeborene Tochter“ das monatliche Assortiment. – Es spricht ein Vater, der deutliche Grenzen setzen will, aber damit klarkommen muss, dass er dabei eine mal kränkende (im Text Grenzen setzen), mal eine leicht komische Figur abgeben wird – so beim Blick in den Zahnbürstenbecher, wo ihm das wilde, so nicht sein sollende Durcheinander bitter aufstößt (Zahnbürsten). In einer außerordentlich gelungenen Skizze verabreden sich zwei Männer dazu, in der Familie des jeweils anderen zu Heiligabend den Weihnachtsmann zu spielen. Die Komik bleibt hier im Hintergrund, das Maskenspiel bekommt sogar einen unheimlichen Moment, es wird aber auch klar, dass kindliches Nachforschen und die Ironie der etwas Älteren dem sehr bald ein Ende machen werden (Weihnachtsmänner). Das alte Problem der Poeten und Erzieher: Kann man mit Lügen etwas über die Welt sagen?

In seiner Meditation über Stühle kommt Knausgård auf einen Film-Vater zu sprechen, den in Ingmar Bergmans Fanny und Alexander, der nicht den Weihnachtsmann, sondern den Zauberer spielt,

indem er einen Stuhl herauszieht. Ihr denkt, das sei ein gewöhnlicher Kinderzimmerstuhl, fragt er sie und macht eine Pause. Das ist er nämlich nicht, fährt er fort. Und dann erzählt er die fantastische Geschichte dieses Stuhls. Einst gehörte er der Kaiserin von China, erklärt er, und die Kinder starren ihn mit offenem Mund und leuchtenden Augen an. Als der Vater fertig ist und den Stuhl wieder an die Wand zurückstellt, ist dieser ein anderer und wird es, erkennt man als Zuschauer, in den Augen der Kinder für immer bleiben. Nie wieder wird dieser Stuhl nur ein Stuhl sein.

Aber ist er dann nicht doch auch ein Lügner, dieser Vater? Einerseits und andererseits; er ist es vielleicht doch eher nicht, entscheidet Knausgård nach einigem Zögern, aber das liegt nicht unbedingt an seinen Geschichten, sondern eher an seiner Geschichte, es liegt an ihm und nicht daran, was er über die Dinge sagt: Er, der nicht mehr lange leben wird, wird für diese Kinder, so hofft der Autor, später „einer dieser seltenen Menschen“ gewesen sein, „die die Welt öffneten, und sie nicht schlossen“. Die officia der Väter und Poeten kommen da zur Deckung, aber entscheidend ist in beiden Fällen, was das für einer ist, der da spricht, und wie er sich selber bezeugt.

In einem der abschließenden Texte, Schneewehen, erfahren wir aber auch, dass ein Kind von jeher schon etwas vom Öffnen der Welt versteht, und wenn es – wie Knausgård – im Norwegen der siebziger Jahre groß geworden ist, dann verdankt es diese Erfahrung dem Schnee: Man sprang damals noch nicht in die Einsichten, man sprang in die meterhohen Schneeverwehungen: „jedenfalls ist das Leben selten spannender und von mehr Möglichkeiten erfüllt gewesen als damals, als wir auf Häuserdächer kletterten und sprangen, auf Felsvorsprünge kletterten und sprangen, in Bäume kletterten und sprangen.“ Dieses Kinderglück des reinen Eintauchens war zweifelsohne truglos, die materiellen Verhältnisse, die Kälte, die Kristalle hatten es wirklich erzeugt und alle handfesten Dinge standen bereit, um dabei behilflich zu sein. Aber all das, ja sogar, wie Knausgård provokant verallgemeinert, „das Neue, der Fall und die Freiheit“ überhaupt – das ist nichts mehr für den Erwachsenen. Weil es ihm nicht um das Außerordentliche gehen kann, sondern, was ganz etwas anderes ist, um sich als Einzelnen in und zwischen den Ordnungen. Als einer, der für seine Literatur, und als einer, der für seine Kinder verantwortlich ist, gibt er ein Beispiel ab, weil er sich so oder anders zu den Zumutungen von Ordnung verhalten kann.

Es ist den immer wieder neu ansetzenden Bilder- und Ideengängen geschuldet, dass der Leser einen Schmöker-Sog, wie er sich bei den Min Kamp-Bänden einstellen kann, hier nicht erwarten sollte. Dafür lässt sich die Kurzprosa-Folge wie ein Geflecht lesen, in dem sich wenige Themen in immer neuen Verzweigungen, Verwandlungen und Wendungen geltend machen. Störend wirkt einzig, vor allem zu Beginn, wenn Knausgård sich auch einmal mit der Produktion von Formulierungsperlen zufrieden zu geben scheint. – Die Aquarelle von Lars Lerin steuern etwas vom eigenartigen Licht des skandinavischen Winters bei.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Karl Ove Knausgård: Im Winter.
Mit Bildern von Lars Lerin.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
307 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875156

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