Glocken als innerstädtisches Kommunikationsmedium

Die mittelalterliche Stadt im Spannungsfeld zwischen Herrschaft und Partikulargewalt

Von Lina SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lina Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Reihe Enzyklopädie Deutscher Geschichte handelt es sich um ein nützliches Arbeitsinstrument für Fachhistoriker, Studenten, Geschichtslehrer, Vertreter benachbarter Disziplinen und interessierte Laien, welches rasch über den gegenwärtigen Stand der Forschung bezüglich verschiedener Bereiche der deutschen Geschichte informiert. Wie alle Bände der Reihe unterteilt sich Die Stadt im Mittelalter des Mediävisten Frank Hirschmann in drei Abschnitte: erstens in einen enzyklopädischen Überblick – in diesem speziellen Falle beginnend mit den Städten der Antike bis zum Vorabend der Reformation –  zweitens in einen die Grundprobleme und Tendenzen der Forschung aufzeigenden Abschnitt sowie drittens in einen Quellen- und Literaturteil. Letzterer ist nach diversen thematischen Aspekten untergliedert, auf den ersten Teil der Darstellung abgestimmt und verfolgt auch in der vorliegenden zweiten, erweiterten Auflage des Bandes das Ziel, die Stadt zeitlich und räumlich zu kontextualisieren. Damit folgt Hirschmann dem aktuellen Forschungskonsens, der, wie er im zweiten Abschnitt angibt, seit dem fortgeschrittenen 20. Jahrhundert zum Entwurf sogenannter Kriterienbündel als Begriffsdefinition tendiert, um so diversen Forschungsproblemen wie z.B. der grundlegenden Definition des Terminus Stadt oder der Klassifikation unterschiedlicher Stadttypen zu begegnen. Wesentlich zu dieser Entwicklung habe das Münsteraner Institut für vergleichende Städtegeschichte beigetragen.

Entsprechend werden im ersten Teil sowohl politische, soziale und herrschaftliche Aspekte als auch Kommunikation, Wirtschaft, Verkehr und Kultur berührt, geographisch bezieht der Verfasser die Städte im römisch-deutschen Reich (dieser Epoche werden allerdings nur 5 Seiten gewidmet), einschließlich der Lage Landen (in etwa der heutige BeNeLux-Raum), des Alpenraumes, des französischsprachigen Westens und der deutsch geprägten Städte des polnischen und baltischen Ostens mit ein, jedoch ohne Böhmen und Mähren (wobei mindestens Tomasz Jasińskis wichtige Arbeit zu den Städten in Preußen fehlt: Die Rolle des Deutschen Ordens bei der Städtegründung in Preußen im 13. Jahrhundert. In: Arnold, Udo (Hg.): Stadt und Orden. Marburg 1993, S. 94–111). Die Untergliederung dieses ersten Teils spiegelt Hirschmanns Gesamteinschätzung wider, drei Aspekte hält er für die städtische Entwicklung für maßgeblich: 1. die Kontinuität in der Entwicklung insgesamt, 2. die politischen und sozialen Strukturen sowie 3. das Spannungsfeld von Königtum und Partikulargewalt. Hinsichtlich der Kontinuität hält er fest, dass keltische oder römische Burgen bzw. Militäranlagen Entstehungszentren mittelalterlicher Städte sein konnten, dies aber längst nicht auf jede Stadt zutraf. Als zentral für die Entwicklung könne die Herausbildung der Bischofssitze im Zuge des vordringenden Christentums gelten, Hirschmann führt u.a. als Beispiele Trier, Köln, Tongern, Mainz und Worms an. Dabei erkennt er mehrere Etappen: Während in der Merowingerzeit fast kein Ausbau stattfand, änderte sich dies bereits ein wenig unter den Karolingern, aber erst recht unter den Ottonen, denn mit der Gründung des Bistums Bamberg 1007 durch Heinrich II. stand das Netz der Diözesen im Wesentlichen fest, so Hirschmann. Weiterhin bringt er die Gründungen von Stiften und Klöstern mit der Entwicklung der Städte in Verbindung: Kirchen, Hospitäler, Skriptorien oder Schulen sind als erste städtische Grundlagen zu werten, zahlreiche Städte gehen auch auf mehrere Siedlungskerne zurück. Durch die Bedeutungszunahme des Handels gewannen, so der Autor, auch die Städte an Wichtigkeit, sie wurden durch die Bischöfe mit entsprechenden Privilegien ausgestattet. Dieser erste von mehreren obrigkeitlichen Aspekten führt zur von Hirschmann aufgezeigten Abhängigkeit vom herrschaftlichen Spannungsfeld: Der Westen mit seinen alten Bischofsstädten besaß über viele Jahrhunderte einen großen Vorsprung in Bezug auf den Urbanisierungsgrad wie auch die Innovationskraft, die Regionen mit weniger dominanten Bischöfen standen hingegen in der Entwicklung zurück. Entsprechend verfügten in Franken die Hochstifte Bamberg, Würzburg und Eichstätt über ein recht dichtes Netz kleiner Städte mit einer gewissen Konzentration um Ingolstadt, Eichstätt und Weißenburg, wohingegen der Raum südlich der Donau wie auch weite Teile Nord- und Ostdeutschlands weniger urbanisiert blieben. Einen ersten Einschnitt, so Hirschmann, bildete der Investiturstreit, der offensichtlich städtische Kräfte freisetzte. Aber auch weltliche Herrscher nahmen Einfluss: So betrieb Herzog Heinrich I. von Brabant (1190–1235) zur Herrschaftssicherung eine zielgerichtete Städtepolitik, seit dem 13. Jahrhundert kulminierte entsprechend der Kernraum seines Herzogtums um Brüssel, Löwen, Mechelen und Antwerpen zur dichtesten verstädterten Region des Reiches. Als weiteres Beispiel führt der Autor schließlich die schwache bzw. fehlende Königsgewalt im 13. Jahrhundert (Interregnum) an, diese habe der Entwicklung des Gemeinwesens erneut einen enormen Schub verliehen. Es formten sich immer mehr ministerialische Führungsgruppen, die den Anspruch vertraten, für die gesamte Bürgerschaft zu agieren; zum bisherigen Schöffengremium bildete sich der städtische Rat, erstmals 1196 für Utrecht und bis 1220 auch in Lübeck, Erfurt oder Köln belegt. In Bezug auf die Stadt als soziales und politisches Gefüge seien neben den verschiedenen Funktionen als z.B. Bildungs-, Produktions,- Handels- oder herrschaftliches Residenzzentrum und den zahlreichen infrastrukturellen Einrichtungen auch die verschiedenen Ämter, die Bruderschaften und die Art und Weise der innerstädtischen Kommunikation erwähnenswert, wobei  die Glocken das wichtigste Medium gewesen seien: Diese riefen die Bürger zusammen, luden zur Versammlung des Rates, warnten vor inneren und äußeren Gefahren (Sturm, Feuer, Feinde, Unruhe) oder regelten die Arbeits-, Verkaufs- und Öffnungszeiten.

Insgesamt gelingt Hirschmann eine runde Publikation, die ihren Zweck einer Überblicksdarstellung voll und ganz erfüllt. Bei einem komplexen Thema wie diesem, dargestellt auf einer knapp bemessenen Seitenzahl bleibt es jedoch nicht aus, dass insbesondere Leute vom Fach, die noch dazu Eberhard Isenmanns ausführliches Werk zur deutschen Stadtgeschichte vor Augen haben, einschlägige Themen vermissen werden: Hierzu gehören beispielsweise bezüglich der herrschaftlichen Perspektive dezidierte Überlegungen zum Verhältnis Stadt-Adel bzw. Stadt-Kirche, hinsichtlich der städtischen Bevölkerung zur Rolle der Frauen oder in Bezug auf das städtische Krisen- und Konfliktmanagement Reflexionen zum Bereich der Resilienzforschung. Bezüglich des Forschungsabrisses fällt zudem auf, dass die eigenen Beiträge des Autors eine starke Gewichtung erfahren. Als ergänzende Anmerkung sei an dieser Stelle auf die zeitgleich erschienenen Publikationen von einerseits Thomas Biller (Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen. Ein Handbuch, 2. Bde.), andererseits von Anne-Laure van Bruaene (u.a. Hg.: Gouden Eeuwen. Stad en samenleving in de Lage Landen 1100–1600) erwähnt. Gerade letztere ergänzt den vom Autor aufgezeigten Forschungsrückstand bezüglich der Lage Landen um ein weiteres Überblickswerk.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Frank G. Hirschmann: Die Stadt im Mittelalter. Enzyklopädie deutscher Geschichte.
2., überarbeitete und erweiterte Aufl.
De Gruyter, Berlin/Boston 2016.
158 Seiten, 21,95€ EUR.
ISBN-13: 9783110458145

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