Vorstellungen von einer besseren Welt

In „Sehnsucht Utopie. Eine Reise durch fünf Jahrhunderte“ zeigt der argentinische Autor Alberto Manguel, wie sich unser Bild von der perfekten Zukunft im Laufe der Zeit gewandelt hat

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yoko Ono hat bei vielen Menschen noch immer einen schweren Stand. Der Herausgeber von Sehnsucht Utopie. Eine Reise durch fünf Jahrhunderte Dominique Tourte gehört zu denjenigen, die in der 75-Jährigen eine inspirierende Ausnahmekünstlerin sehen. Die Idee zum Buch kam ihm beim Besuch der Ausstellung Yoko Ono, Lumiére de l’aube 2016 in Lyon. Dort war auch die Gründungserklärung des Konzeptlandes „Nutopia“ ausgestellt, das Ono mit ihrem Partner John Lennon entworfen hatte. Weil sich im selben Jahr die Veröffentlichung von Thomas Morus’ Utopia zum 500. Mal jährte, entstand in ihm die Idee zu diesem Buch, für dessen Realisierung er Alberto Manguel gewinnen konnte. Der 1948 in Buenos Aires geborene Schriftsteller ist vor allem für sein Buch Eine Geschichte des Lesens bekannt geworden, für das er 1998 den Prix Medicis erhielt.

Gemeinsam erstellten sie eine Liste mit 20 bedeutenden Werken oder Texten der utopischen Literatur, die die Kontinuität des Utopiegedankes vom 16. bis 20. Jahrhundert –  von Utopia über erste feministische Utopien 1666 bis zu Georges Méliès’ Reise zum Mond und eben Lennons Nutopia zeigen soll. Ausgestattet mit zahlreichen Abbildungen und den pointierten Kommentaren von Manguel ist auf diese Weise ein Band entstanden, der beides ist: unterhaltsam und informativ. Vor allem aber zeigt er, wie sich die moralischen und sittlichen Vorstellungen im Laufe der Zeit gewandelt haben. Mal wird das Heil in Bildung und Aufklärung gesucht, mal in einer entschleunigten Existenz im Einklang mit der Natur; mal in der Herrschaft der Frau, mal in der Besiedelung eines neuen, vom Menschen unverbrauchten Planeten. Anders als Politiker wüssten Geschichtenerzähler, dass man die Realität nicht von der Realität trennen kann, sagt Manguel im Vorwort. „Es steht einem lediglich frei, die Welt neu zu erfinden, um sie besser sehen und besser verstehen zu können“, heißt es dort.

Ausgewählt wurde Naheliegendes wie Nova Atlantis von Francis Bacon (17. Jahrhundert), Gulliver’s Travels von Jonathan Swift (18. Jahrhundert) oder Le Nouveau Monde amoureux von Charles Fourier (19. Jahrhundert). Aber auch Überraschendes wie Nicolai Klimii iter subterraneum von Ludvig Holberg oder Propositions fondamentales du systeme social von Robert Owen. Allen 105 Utopien ist eine kurze inhaltliche Zusammenfassung vorangestellt, bevor Manguel die Kontextualisierung und Wirkung des Textes vornimmt. In ihnen drückt sich eine Niedergeschlagenheit über den Ist-Zustand aus, ein Gefühl des drohenden Untergangs, dem die großen Denker mit einer Art Paradiesversprechen begegnen, mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Einige Utopien wirken aus heutiger Perspektive bizarr, andere dagegen sind erstaunlich aktuell. Überhaupt scheint die Zeit für neue Utopien gekommen zu sein beziehungsweise unmittelbar bevorzustehen. Manguels liefert in seinem Band eine wertvolle Übersicht und Inspiration. Einziges Manko: Eine tiefergehende textliche Auseinandersetzung mit den Werken fiel den vielen Illustrationen zum Opfer. Dennoch gelingt die im Titel versprochene Reise, die der Leser antreten und in Gedanken fortsetzen kann.

Titelbild

Alberto Manguel: Sehnsucht Utopie. Eine Reise durch fünf Jahrhunderte.
Aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Folio Verlag, Wien 2018.
104 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783852567587

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