Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik

Marc Grimms und Bodo Kahmanns Sammelband erforscht Facetten des zeitgenössischen Antisemitismus

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten, in denen auf deutschen Schulhöfen das Wort „Jude“ als Schimpfwort benutzt und jüdische Kinder gemobbt werden, in denen Antisemitismus kein Hindernis dafür ist, um musikalische Auszeichnungen zu erhalten und antisemitische Karikaturen übelster Sorte in bundesdeutschen Zeitungen erscheinen dürfen, tut Aufklärung über das Wesen, die Spielarten und die Akteure des zeitgenössischen Antisemitismus mehr denn je Not. Dem Wiederaufleben der alten Judenfeindschaft kann und muss begegnet werden, indem ihre offenen wie verdeckten Varianten bewusst gemacht, die antisemitischen Akteure benannt und die Gefahren, die von diesen ausgehen, aufgezeigt werden. Der Sammelband Antisemitismus im 21. Jahrhundert, herausgegeben von dem Erziehungswissenschaftler Marc Grimm und dem Politologen Bodo Kahmann, bezweckt die Darstellung der Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror. Hierzu teilen die Herausgeber 18 Aufsätze 4 Themenblöcken zu: Nach einem Theorieteil geht es um den islamischen Antisemitismus, um Antisemitismus in der „öffentlichen Kommunikation“ und zuletzt in politischen Bewegungen.

Dina Porat zeichnet, ausgehend von einer Definition der „Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC), die historische Genese von modernen Antisemitismus-Definitionen nach. Dabei berücksichtigt sie bewusst jüdische und (nach 1947) israelische Positionen, was deshalb von Belang ist, weil damit die Stimme der Betroffenen adäquates Gewicht bekommt. Porat geht auch auf die neuesten Entwicklungen und Definitionen seit 1990 ein und schildert die neuen Formen des Antisemitismus, die es stets notwendig machen, sich mit dem Begriff auseinanderzusetzen. Schließlich sei etwa der Antisemitismus in der muslimischen Welt etwas Besonderes, weil er einerseits christliche Motive übernommen habe, andererseits aber durch die Präsenz vieler Muslime in Europa von besonderer Bedeutung sei. Die Verschränkung von Antisemitismus mit dem Antizionismus sei ebenfalls eine neue Entwicklung. Auch sei antijüdische Gewalt brutaler und direkter geworden, indem sie sich in Übergriffen auf öffentlichen Plätzen und Straßen manifestiere. Die Zunahme antisemitischer Positionen in westlichen Akademikerkreisen und den Medien sei ein weiterer Aspekt des zeitgenössischen Antisemitismus. Zuletzt geht Porat auf die Entstehung der EUMC-Definition ein, die international breite Anerkennung gefunden hat, weshalb viele Akteure der Zivilgesellschaft aufhorchten, als sie 2013 von der „Agentur für Grundrechte der EU“ (FRA) von ihrer Homepage gelöscht und somit verworfen wurde. Derzeit finde die 2016 erarbeitete Antisemitismus-Definition der IHRA, der „Internationalen Kooperation bei Holocaust-Bildung, Gedenken und Forschung“, großen Anklang.

Alvin Rosenfeld setzt sich mit der Frage, was Israelkritik ist und was sie vom Antisemitismus unterscheidet, auseinander. Er weist nach, dass Israelkritik deshalb häufig antisemitisch ist, weil sie eine Täter-Opfer-Umkehr vollbringt, andere Maßstäbe an Israel als an andere Staaten anlegt und essentialistische Aussagen über die Juden in ihrer Gesamtheit macht. Dabei wäre Kritik an einzelnen Maßnahmen Israels, ohne Emotionen zu schüren, konkret durchaus möglich und legitim. Karin Stögners interessanter und innovativer Aufsatz hebt hervor, welcher Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Sexismus besteht. Antisemiten nehmen nämlich häufig auch sexistische und rassistische Positionen ein, haben ein vor- beziehungsweise antimodernes Menschen- und Frauenbild. Sie konstruieren ein Gebilde, in dem emanzipierte, moderne und aufgeklärte Frauen genauso wie Juden beziehungsweise ein angenommener „jüdischer Charakter“ als Anti-Natur im Gegensatz zur „natürlichen“ Männlichkeit, zu Norm und Ordnung imaginiert werden. Emanzipation, eine liberale Haltung gegenüber Gleichberechtigung und einer allgemeinen Rechtausweitung zugunsten von (religiösen und sexuellen) Minderheiten erscheinen aus dieser Sicht als Versuch, eine „natürliche Ordnung“ der gesellschaftlichen oder politischen Verhältnisse zu unterminieren.

Im Fokus des Bandes steht vorrangig der islamische Antisemitismus, über den in den Medien seit Jahren viel geschrieben und gesprochen wird, obwohl fundierte wissenschaftliche Analysen bislang eher die Ausnahme darstellen. Allerdings stehen von muslimischen Tätern in mehreren europäischen Ländern durchgeführte antijüdische Terrorakte und Gewalttaten sowie Demonstrationen von Muslimen mit antisemitischen Hassparolen immer wieder im Zentrum des Medieninteresses. Im zweiten Teil der Aufsatzsammlung unternehmen mehrere Autoren den Versuch, dieses Problem von verschiedenen Seiten zu erhellen. Günther Jikelis Aufsatz besticht durch die Auswertung einer Vielzahl von unter Muslimen in Europa und anderswo durchgeführten Umfragen. Deren Ergebnis vermag angesichts der in letzter Zeit erschienen Medienberichte wenig Neues zu bieten, dafür aber umso mehr Details, die Besorgnis erregen. So sind antisemitische Meinungen unter Muslimen weiter verbreitet als unter Christen, auch wenn antisemitische Tendenzen auch bei Letzteren in der jüngsten Vergangenheit zugenommen haben. So glaubten etwa stets mehr Muslime daran, Juden seien zu mächtig in der Geschäftswelt, oder auch, sie kontrollierten globale Entwicklungen oder die US-Regierung, als der EU-Durchschnitt. Auch wenn die in Europa lebenden Muslime tendenziell weniger häufig solche antisemitischen Haltungen teilen als die in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) lebenden, sind diese Zahlen dennoch alarmierend.

Matthias Küntzel kritisiert in seinem Beitrag Versäumnisse des Berliner „Zentrums für Antisemitismusforschung“ bei der Erforschung des muslimischen Antisemitismus. Er wirft dem ZfA vor, diesen zu verharmlosen, weil er in Publikationen und auf Konferenzen des Instituts als Folge des Palästinakonfliktes begriffen wird. Damit setze das Institut zweifellos vorhandene antiarabische Ressentiments in Israel mit dem mörderischen Antisemitismus und Antizionismus der meisten arabischen Staaten gleich, die ihre Gegner (die Juden und den Staat Israel) nicht nur ideologisch bekämpfen, sondern physisch vernichten und zerstören wollen. Küntzels Meinung nach müsse man zudem die Besonderheit des islamischen Antisemitismus betonen. Er bilde zum einen eine Einheit, indem ein „degradierender Antijudaismus mit einem verschwörungsbezogenen Antisemitismus der Moderne“ vereinigt werde. Zum anderen sei der islamische Antisemitismus von der Überzeugung geprägt, die Juden hätten das gemeinschaftliche Ziel, den Islam zu zerstören.

Küntzels Betonung der Besonderheit des islamischen Antisemitismus wird ergänzt durch den Aufsatz Daniel Rickenbachers. Er analysiert die Genese und die Gestalten des „Verschwörungstheorie vom jüdisch-westlichen Krieg gegen den Islam“, die seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlicher Ausprägung das Denken vieler Muslime in den arabischen Ländern bestimme. Stephan Grigat rückt wiederum den Antisemitismus im Iran seit 1979 in den Mittelpunkt seines Aufsatzes. Er betont, dass sämtliche religiösen Führer, Politiker und Präsidenten seitdem von einem intensiven Antisemitismus und einem eliminatorischen Antizionismus durchdrungen seien. Selbst im Westen als gemäßigt und moderat geltende Politiker wie Hassan Rohani oder Ali Akbar Rafsandjani seien hiervon nicht ausgenommen.

Die Beiträge des dritten Teils widmen sich öffentlichen Kontroversen, Wahrnehmungen und Argumentationsmustern. Michael Höttemann präsentiert die Ergebnisse von Gruppendiskussionen, die er mit Studentinnen und Studenten durchgeführt hat. Diese haben sich mit dem 2012 erschienenen umstrittenen Gedicht Was gesagt werden muss von Günter Grass sowie einem einschlägigen Fernsehbeitrag auseinandergesetzt. Höttemanns Beobachtung dieser Diskussionen ergab ein breites Spektrum an Solidarisierungsformen mit Grass, die er als Ausdruck von Nationalismus, von politischer Desorientierung, von anti-israelischen und antizionistischen Einstellungen und sogar als Ausdruck von Sympathien für nationalsozialistische Positionen deutet. Matthias Jakob Becker stellt die Ergebnisse seiner Auswertung von Zeit- und Guardian- Leserkommentaren im Internet vor. Er weist nach, dass selbst Leser von liberalen Presseorganen, von denen man vermuten könnte, sie teilten die liberalen Ansichten dieser Organe, hinsichtlich der Politik Israels und deren Bewertung häufig dazu neigen, unzulässige Vergleiche und Analogien anzustellen. Dabei wird Israel mit dem „Dritten Reich“ oder auch dem britischen Empire gleichgesetzt. Außerdem werden Anspielungen und Verweise auf Verbrechen gemacht, die insgesamt der Entlastung der eigenen Geschichte dienen. Die Beiträge von Florian Markl und Franziska Krah analysieren, wie antisemitische Karikaturen in der Süddeutschen Zeitung, der (österreichischen) Kleinen Zeitung, dem Magazin Stern oder auch in der Badischen Zeitung Israel dämonisieren, delegitimieren und die israelische Politik einseitig verzerrt darstellen.

Die Aufsätze des letzten Teils befassen sich mit Formen von Antisemitismus in aktuellen politischen Bewegungen. Hervorzuheben sind hierbei die Ausführungen Laura Luise Hammels über antisemitische Verschwörungstheorien in der 2014 entstandenen Bewegung „Mahnwachen für den Frieden“. Sie zeigt auf, wie im Dunstkreis einer ideologisch vorerst nicht festgelegten Bewegung allmählich verschwörungstheoretische Welterklärungen entstanden sind und sich durchsetzen konnten, die zudem Anknüpfungspunkte und Übergänge zu antisemitischen Vorstellungen und Deutungen aufweisen. In Simon Gansingers lesenswertem Text geht es schließlich um die Ausbreitung antizionistischer Einstellungen und Forderungen an US-amerikanischen Universitäten. Angeregt und  inspiriert von der antisemtischen BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“), die auch in Deutschland immer häufiger von sich reden macht, dominiert an vielen amerikanischen Universitäten in politisch linken Studenten- und Dozentenkreisen ein aggressiver Antisemitismus und eine starke anti-israelische Haltung. Eine anti-israelische Haltung erlaubt, so Gansinger, den Bezug und das Ausleben eines „linken Tickets“ als ideologischer Einstellung, deren Eckpfeiler „identity“ und „solidarity“ sind.

Der Sammelband von Grimm und Kahmann erscheint zur richtigen Zeit, rückt er doch mit dem islamischen Antisemitismus ein wichtiges Thema ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So wichtig, richtig und notwendig die Beleuchtung dieses Themas ist, weist der Band dennoch eine Reihe von Mängeln auf. So wird in den einschlägigen Beiträgen zu selten eine Differenzierung hinsichtlich eines muslimischen beziehungsweise islamischen Antisemitismus und deren Bestimmung vorgenommen. Ist der Antisemitismus in die wichtigsten Quellentexte des Islams, den Koran und die Hadithen, unverrückbar „eingeschrieben“, wie es mancherorts zu lesen ist oder handelt es sich hierbei um eine einseitig verzerrte Wahrnehmung von „Islamkritikern“? Dieser relevante Aspekt wird zwar an einer Stelle angeschnitten, insgesamt aber zu wenig berücksichtigt. Die geografische und thematische Bandbreite des Bandes ist ebenfalls einerseits zu begrüßen, andererseits wirft sie die Frage auf, ob nicht weniger mehr gewesen wäre. Denn so spannend das Thema der Verbreitung antisemitischer und antizionistischer Einstellungen unter südasiatischen Muslimen auch ist, so stellt sich doch die Frage, warum nicht drängendere und akute Erscheinungen des (sekundären und strukturellen) Antisemitismus in politisch linken wie rechten Kreisen, der BDS-Bewegung oder auch der Popkultur beachtet wurden.

Aufklärung über die vielfältigen Erscheinungsformen des zeitgenössischen Antisemitismus ist unabdingbar notwendig, jedoch ist es bei einem Preis von 119 € für das Buch eher unwahrscheinlich, dass es von vielen Lesern wahrgenommen wird. Über den engen Rahmen von Universitäts- und Fachseminarbibliotheken wird der Band so nicht hinausgelangen, was außerordentlich zu bedauern ist.

Titelbild

Marc Grimm / Bodo Kahmann (Hg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror.
De Gruyter, Berlin 2018.
446 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110534719

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