„Cross the Border – Close the Gap“

Zur „Fiedler-Debatte“ um 1968

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Leslie Fiedlers Essay Cross the Border – Close the Gap, basierend auf einem 1968 an der Universität zu Freiburg gehaltenen Vortrag, erschien erstmals im Oktober 1968 in der deutschen Wochenzeitung Christ und Welt in zwei Teilen unter dem Titel Das Zeitalter der neuen Literatur. Im Dezember 1969 veröffentlichte Fiedler die überarbeitete, kompaktere Version als Essay in den USA, allerdings nicht in einer literaturwissenschaftlichen Publikation, sondern unter dem Titel Cross the Border – Close the Gap im Männermagazin Playboy.

Nachdem er bereits in seinem 1964 erschienen Essay The Death of Avantgarde Literature das Ende einer literarischen Avantgarde proklamiert hatte, fordert Fiedler in Cross the Border, dem „wohl bedeutensten ,Schlüsseltext’ der Postmoderne der sechziger Jahre“ (so Jörg Schäfer), ein Ende der Hierarchisierungen in der Kunst und der damit verbundenen kritischen Rezeption der Literatur der Moderne als das ,einzig Wahre’. Fiedler sieht den Grund der (im Vergleich zu Europa) größeren Akzeptanz populärer Kultur in den USA darin, dass die amerikanische Gesellschaft auf ihre Nation und ihre Kultur bezogen eher einen Mythos bewahrt als tatsächlich erlebte Geschichte. Die Formulierung ,Amerikaner sein’ impliziert für Fied­ler, sich ein Schicksal einzubilden anstatt eines zu erben, da man als Amerikaner immer schon im Mythos und nicht in der Geschichte gelebt hat. Amerikanische populäre Kultur sei dementsprechend gleichzusetzen mit einer vollständigen Mythologisierung, in der All­tagsmythen tatsächlich erlebte Geschichte ersetzen und unter anderem in der Lite­ratur ihre kulturelle Aufarbeitung finden.

Da man gerade den Todeskampf der literarischen Moderne und die Geburtswehen der Postmoderne erlebe, hält Fiedler die Abschottungsmechanismen moderner Kritiker gegenüber den Einflüssen populärer Kultur für veraltet und unangemessen. Als ersten Schritt hin zu einer umfassenden kulturellen Akzeptanz postmoderner Literatur fordert er eine Veränderung in den ästhetischen Vorstellungen der Kritiker, die er zu sehr dem elitistischen Grundgedanken der Moderne verpflichtet sieht: „If criticism is to survive at all, therefore, which is to say, if criticism is to remain or become useful, viable, relevant, it must be radically altered from the models provided by Croce or Lewis or Eliot or Erich Auerbach, or whoever“ – und sollte hierbei Mythos und Leidenschaft als Wegweiser einer neuen Literatur akzeptieren. Der Literaturkritiker muss sich somit von Fragen der Struktur, Diktion oder Syntax verabschieden, denn diese setzen voraus, dass das Kunstwerk tatsächlich auf dem Papier und nicht in der Aneignung und dem Verständnis der Leser („in a  reader’s passionate apprehension and response“) existiert. Vielmehr muss er die intime Verknüpfung von zahlreichen Zusammenhängen – unter anderem sozialen, psychologischen, historischen, biographischen und geographischen – im Bewusstsein des Lesers zum Mittelpunkt seiner literarischen Rezeption werden lassen. Schließlich fordert Fiedler: „To be sure, the newest criticism must be aesthetic, poetic in form as well as substance; but it must also be, in light of where we are, comical, irrelevant, vulgar“. Hiermit knüpft er zwar an die Paradigmen der Moderne an, wo ein Kritiker auch gleichzeitig ein Literat und Schöpfer sein sollte. Er fordert jedoch in der Konsequenz eine Anpassung an die von ihm in den frühen 60er Jahren beobachteten postmodernen Bedingungen, auf die sich Autoren wie Norman Mailer, Ken Kesey, Philip Roth und John Updike bereits eingelassen hatten.

Trivialmythen stellen für Fiedler einen integrativen Bestandteil der industrialisierten urbanen Gesellschaft dar, und ein literarischer Rückgriff auf ihre Ästhetik ist zum Überschreiten der Grenze zu einer nicht mehr zeitgemäßen Rationalität in der Literatur von entscheidender Bedeutung. Comic-Helden, Filmschauspieler, Popstars und populäre öffentliche Personen dienen der amerikanischen Gesellschaft als Projektionsflächen für ein kollektives Träumen und haben sich so im Laufe der Jahre ein im kollektiven Gedächtnis stetig wachsendes imaginäres Amerika geschaffen, das auf einem interkulturellen Referenzsystem im Sinne Roland Barthes’ aufgebaut ist:

Out of the world of Jazz and Rock, of newspaper headlines and political cartoons, of old movies immortalized on T.V. and idiot talk shows carried on car radios, new anti-Gods and anti-Heroes arrive, endless wave after wave of them. […] In the heads of our new writers they live a secondary life, begin to realize their immortality: not only Jean Harlow and Marylin Monroe and Humphrey Bogart, Charlie Parker and Louis Armstrong and Lennie Bruce, Geronimo and Billy the Kid, the Lone Ranger and Fu Manchu and the Bride of Frankenstein, but Hitler and Stalin, John F. Kennedy and Lee Oswald and Jack Ruby as well; for the press mythologizes certain public figures, the actors of Pop History, even before they are dead – making a doomed President one with Superman in the Supermarket of Pop Culture, as Norman Mailer perceived so accurately and reported so movingly in an essay on John F. Kennedy.

Dieses Referenzsystem gelte es in der Literatur zu rezipieren – das Festhalten an einer strikten, künstlich anmutenden Hierarchisierung der Künste diene im Kontext einer Darstellung amerikanischer Realität nicht mehr dem ästhetischen Zweck.

Wichtig ist hierbei, dass es keinesfalls im Sinne Fiedlers ist, eine Dehierarchisierung der Kultur durch eine Gleichstellung von Artikulationsformen populärer Kultur mit Literatur zu erzwingen. Vielmehr geht es ihm darum, eine Möglichkeit der Mehrfachcodierung von Texten zu erlauben. Durch die Rezeption populärer Motive kann in einem literarischen Text eine Metaebene, entstehen, bei der das Zeichensystem der populären Kultur unerlässlich zur Decodierung der Nachricht ist. Das kollektive Wissen um die Trivialmythen eröffnet die Möglichkeit zum Verständnis dieser Metaebene, ohne sie als trivial abzuqualifizieren. Fiedler hat für die Literatur ein ähnliches Programm im Sinn, wie es wenige Jahre zuvor die Pop-Art exerzierte: Durch Bezugnahme auf populäre Motive wird auf einer Metaebene gleichzeitig über diese Motive selbst und über bestimmte begleitende gesellschaftliche oder ästhetische Phänomene reflektiert. Gerade die Intermedialität spielt in der literarischen Reflexion über populäre Kultur eine zentrale Rolle, und ein Autor wie Thomas Pynchon hat das postmoderne Vexierspiel anhand einer Integration von Pop-Momenten in den Erzählkosmos seiner Romane The Crying of Lot 49 und Gravity’s Rainbow minutiös betrieben.

Seine Vorstellung von einer neuen, postmodernen Literatur, die den imaginären Amerikaner („there were never any other kind“) und dessen Phantasie als Mythos weiterspinnt, sieht Fiedler vor allem im Western, der Science Fiction und der Pornographie erfüllt. Denn gerade hier werden imaginäre Grenzen überschritten – ein Vorgang, der die Kommunikation zwischen Autor und Leser aufgrund eines nahezu kindlichen Eskapismus begünstigt. Wenn Fiedler behauptet, die großen Werke der amerikanischen Literatur würden heute größtenteils als Kinderbücher rezipiert, so meint er nicht, dass Mark Twains The Adventures of Huckleberry Finn oder Hermann Melvilles Moby Dick auch tatsächlich Kinderbücher seien, sondern dass diese Werke den regressiven Wunsch des Lesers nach einem Erfahren und Festhalten der Kindheit in sich tragen, den die moderne Literatur und Kritik durch das Konstrukt eines metaphorischen Grabens verboten hat, („the Gap which aristocratic conceptions of art have opened between what fulfills us at eight or ten or twelve and what satisfies us at forty or fifty or sixty. […] Before Henry James, none of our novelists felt himself cut off from the world of magic and wonder“.) Das spezifisch Amerikanische daran sieht Fiedler im jungen Alter der Nation begründet: „It has been so long since Europeans lived their deepest dreams – but only yesterday for us“.

Der Western, der metapolitische Bedeutungen transportiert, die als Mythos gültiger sind denn als Geschichte; die Science Fiction, in der durch den Einsatz moderner Technologien stets imaginäre und reale Grenzen überschritten werden („another popular form, another way of escaping from personal to public or popular myth, of using dreams to close rather than open a gap“); die Pornographie, die seit der viktorianischen Zeit die eigentliche Form des Pop-Art ist, weil sie am eindeutigsten eine Subliteratur darstellt, deren verstärkte Vermischung mit ,hoher’ Literatur in den Werken von Philip Roth und Norman Mailer den Graben zwischen einer Kunst für die so genannten Gebildeten und einer Art ,Subkunst’ für die so genannten Ungebildeten am radikalsten überbrückt – sie alle sind für Fiedler ehemalige Subliteraturen, die aufgrund ihrer Rezeption innerhalb der ,hohen’ Literatur sowie durch ihre Vermischung mit populärer Kultur (durch Autoren wie Kurt Vonnegut Jr. in seinen Romanen Slaughterhouse 5 und The Sirens of Titan) den Graben zwischen ,high’ und ,low’ zu schließen helfen. Fiedler bemerkt dazu:

What the final intrusion of Pop into the citadels of High Art provides, therefore, for the critic is the exhilarating new possibility of making judgments about the ,goodness’ and ,badness’ of art quite separated from distinctions between ,high’ and ,low’ with their concealed class bias.

Wenn Fiedler nun vom Künstler im Kontext der Popmusik als „Double Agent“ spricht, sieht er in diesen Grenzgängern zwischen den Künsten Figuren, die sich der Möglichkeiten einer Rezeption populärer Kultur im Rahmen der Hochkultur (und umgekehrt) bewusst sind. Tuli Kupferberg, der in der Popband The Fugs spielte und gleichzeitig auch als Lyriker publizierte, ist eines der von Fiedler angeführten Beispiele. Andere wie Leonard Cohen, Ed Sanders oder Frank Zappa unterstreichen die These des Grenzgängertums, denn, so Fiedler: „a poet like Ed Sanders, or a novelist like Leonard Cohen grows weary of his confinement in the realm of traditional high art“. Diese Aussage bezieht sich einerseits auf Personen wie Sanders oder Cohen, die als Literaten begannen und dann die Popmusik für sich entdeckten, andererseits auf Musiker wie Frank Zappa, der als Dichter und Satiriker rezipiert werden wollte und seine Auftritte als Parodie auf die Popmusikszene inszenierte. Im Fall von Bob Dylans damals gerade stattfindender Rückbesinnung auf seine ,einfachen’ Countrymusik-Wurzeln bemerkt Fiedler, Dylan tue das offenbar in der Einsicht, dass er zu künstlich geworden sei: „[He] had once more to close the gap by backtracking across the border he had earlier lost his first audience by crossing. It is a spectacular case of the new artist as Double Agent“.

Umberto Eco merkt später in seiner Nachschrift zum Namen der Rose an, dass Fiedler „ein viel zu subtiler Kritiker ist, um das alles wirklich zu glauben“. Die Relativierung der Bedeutung moderner Literatur und das gleichzeitige Aufwerten der populären Literatur geschehe, um „ganz einfach die Schranke niederzureißen, die zwischen Kunst und Vergnügen errichtet worden ist“.

Andere amerikanische Kritiker wie Susan Sontag beschäftigten sich Ende der 60er Jahre ebenfalls verstärkt mit der Rezeption populärer Kultur in der amerikanischen Literatur und Kunst. Sontag etwa publizierte im Jahre 1968 den viel beachteten Aufsatz Notes on Camp, der die Projektionsflächen der populären Kultur in ihrer Intention und Wirkung reflektierte und mit dem Begriff des ,Camp’ ein wichtiges ästhetisches Merkmal bei den Repräsentationsstrategien populärer Kultur untersucht. Gerade weil sie populäre Phänomene im gleichen Rezeptionsrahmen situiert wie Shakespeare oder griechische Tragödien, betreibt sie die von Fiedler geforderte Überwindung der metaphorischen Grenzen zwischen ,high’ und ,low’.

Auch der amerikanische Schriftsteller und Kritiker John Barth sieht in den 70er Jahren die Postmoderne als integrativen schöpferischen Akt an, mit dessen Hilfe man den Elitismus der Moderne überwunden hat, dabei aber nicht zwangsläufig in die Falle der Banalität tappt, nur weil man populäre Muster adaptiert. Vielmehr ist er sich mit Fiedler einig, dass eine neue literarische Avantgarde Massenkultur rezipieren könne, ohne dabei die klassischen und modernen Vorbilder zu ignorieren:

He may not hope to reach and move the devotees of James Michener and Irving Wallace – not to mention the greatness of television-addicted non-readers. But he should hope to reach and delight, at least part of the time, beyond the circle of what Mann used to call the Early Christians: professional devotees of high art.

Die deutsche Theorienbildung in Bezug auf die populäre Kultur fand seit den 80er Jahren vor allem im nicht-akademischen Bereich in einer Grauzone zwischen Wissenschaft und Essayistik statt. Zuvor galten bis in die späten 60er Jahre hinein Horkheimer/Adornos Theorien über die ,Massenkultur’ als maßgeblich für einen Meinungsbildungsprozess über die populäre Kultur. Mit Leslie Fiedlers Essay Das Zeitalter der neuen Literatur und der gleichzeitigen Vermittlung und Veröffentlichung einer eindeutig von populärer Kultur inspirierten amerikanischen Literatur durch Rolf Dieter Brinkmann, entbrannte Ende der 60er Jahre in der Zeitschrift Christ und Welt eine in großem Maßstab ausgefochtene Debatte. Beteiligt waren: Helmut Heißenbüttel, Reinhard Baumgart, Martin Walser, Jürgen Becker, Wolfgang Hädecke, Hans Egon Holthusen, Robert Neumann, Peter O. Chotjewitz und Rolf Dieter Brinkmann. Die Debatte wurde durch viel beachtete Essays wie Martin Walsers Über die neueste Stimmung im Westen oder Jost Hermands destruktives Buch über Popkultur nachträglich noch weiter angeheizt. Fiedlers Überlegungen zur Rolle der populären Kultur im Kontext einer postmodernen Literatur und der hohe Stellenwert, den er dabei den Pop-Einflüssen beimisst, verursachte unter Deutschlands Literaturkritikern vor allem deswegen so viel Aufruhr, weil sich Fiedler selbst auf die Notwendigkeit einer neuen Literatur – und dementsprechend auch einer neuen Literaturkritik – beruft. Die Rezeption populärer Mythen mochte – so der allgemeine Tenor der auf Das Zeitalter der neuen Literatur antwortenden Essays und Kommentare von Helmut Heißenbüttel, Reinhard Baumgart, Hans Egon Holthusen oder Martin Walser – für die amerikanische Literatur als Element der Befreiung von der Moderne noch von partiellem Interesse gewesen sein, in Deutschland verstelle dies nur den Blick auf die politische Realität. Gerade Walser prangerte die fehlende Politisierung der Pop-Literatur an und rückte sie in Über die neueste Stimmung im Westen lediglich aufgrund ihrer Negation einer Positionierung innerhalb der herrschenden politischen Ideologiekämpfe, sogar in die Nähe des Faschismus.

Neben der fehlenden politischen Positionierung verneinten die Kritiker Fiedlers und der ihn rezipierenden Pop-Literaten (in erster Linie Rolf Dieter Brinkmann, der den einzigen affirmativen Beitrag zur Fiedler-Debatte in Christ und Welt beisteuerte) auch die ästhetische Bedeutung der literarischen Rezeption von populärer Kultur und hierbei vor allem der amerikanischen Trivialmythen. Während Heißenbüttel allgemein ein Problem in Fiedlers Verteidigung der Postmoderne als Nivellierungsmoment der Moderne sah und andeutete, dass das „Absteigen von Exklusivformen […] immer eine Rolle in den epochalen Wendungen der Künste“ spielte, sah Baumgart den von Fiedler beschriebenen Übergang von der Moderne zum Vexierspiel der Postmoderne als folgerichtig an, nur solle man doch die populäre Kultur nicht als integrativen Bestandteil der Postmoderne ansehen. Hierbei beklagte er vor allem die befürchtete Tendenz, einen Universalismus der amerikanischen populären Kultur heraufzubeschwören, der im deutschen Kontext nicht funktionieren könne. Jürgen Becker bezeichnete die Ergebnisse dieser Rezeption populärer amerikanischer Kultur in der deutschen Literatur als „marktgerechte Formalismen“. Walser ging in seinem Beitrag sogar so weit zu behaupten, in der Rezeption populärer amerikanischer Literatur liege eine Bestätigung des kulturimperialistischen Hegemonialismus Amerikas, der die europäische Kultur zu zerstören trachte. Er bezeichnete die USA als ein Land, das „seit Jahren dabei ist, die westliche Lebensart und -chance zu verderben“. Dennoch sprach sich auch Walser, ähnlich wie Baumgart, für die Überwindung des Modernismus aus und begrüßte Fiedlers Affirmation des Vexierspiels der Postmoderne, ohne allerdings dessen Hauptargument, die Adaption von Trivialmythen und die Integration populärer Kultur in die Literatur, zu akzeptieren.

Den Faschismusvorwurf äußerte Walser erst im Jahre 1970, als er die Veröffentlichung und den Erfolg der Brinkmann-Anthologie ACID beobachtet hatte, in der die neueste amerikanische Literatur im Kontext des Pop versammelt war und Brinkmann in seinem Essay Der Film in Worten eine radikale Innovation innerhalb der deutschen Literatur forderte. Da die amerikanische Hegemonialkultur kritiklos akzeptiert werde, so Walser, entpolitisiere sich die Literatur und bereite aus diesem Grund den Boden für einen neuen Faschismus. Die Ich-Bezogenheit, die sich im Konsum von bewusstseinserweiternden Substanzen und einem zügellosen Narzissmus, in dem jeder „seine eigene Befreiung auf dem Weg nach innen sucht“, äußere, verhindere das gesellschaftspolitische Engagement, das Walser für einen Künstler in der Nachkriegszeit als unumgänglich ansieht. „Mit Hilfe von Drogen, mit Hilfe einer Literatur, die sich auf Mythen und falsche Trivialitäten kapriziert“, negiere diese Schriftstellergeneration die Möglichkeiten zur Demokratie und „die Möglichkeit zum Gegenteil – und das heißt Faschismus – nimmt zu“.

Selbst ein in jenen Tagen oft als Pop-Autor wahrgenommener Schriftsteller wie Peter O. Chotjewitz reihte sich in den Kanon der Fiedler-Gegner ein. Allerdings argumentierte er aus der Position des der Subkultur zugewandten Literaten und wirkt im Gegensatz zu Brinkmann in diesem Zusammenhang aufgesetzt. Er könne „dieses Modewort POP nicht mehr hören“ beklagte sich Chotjewitz. „Was hier seitens der meisten Künstler unter POP verstanden wird, stinkt und ist bürgerlich“. Chotjewitz sah Literatur in noch extremerer Weise als Walser als Instrument zur Befreiung von unterdrückerischen Hegemonialstrukturen an, wohingegen die Beschäftigung mit populärer Kultur eine Affirmation gesellschaftlicher Zustände impliziere. Zwar sei eine Zuwendung zu den Massen, also eine Abkehr von elitistischen Exklusionsmechanismen, unumgänglich, doch könne dies nicht auf einer die herrschende Kultur affirmierenden ästhetischen Ebene vollzogen werden. Vielmehr sei es eine Frage der politischen und sozialen Positionierung, die helfe, das System zu unterminieren und auszuhöhlen.

„Tabus anrühren, Parabeln von Möglichem bieten, und hoffen, daß ich nicht allein bin“, umschrieb Chotjewitz seine Vorstellung einer subkulturellen Literatur. Dass er und die anderen Kritiker Fiedlers allesamt die Rezeption populärer Kultur in der Literatur nicht aufgrund ihrer Banalität ablehnten, sondern aufgrund ihrer Affirmation der Herrschaftsverhältnisse und ihrer mangelnden Politisierung, ist in diesem Zusammenhang äußerst interessant. Die Überwindung eines als elitär angesehenen Gedankenguts innerhalb der Literatur wird allgemein begrüßt und sogar als Notwendigkeit begriffen. Doch dies könne nicht in der Rezeption von Trivialmythen und populärer Kultur fundiert sein, sondern müsse vielmehr zu einer Politisierung der Literatur mit klaren gesellschaftlichen Positionierungen führen. So wurde die Postmoderne, die Fiedler als Überwindung der Moderne begreift, akzeptiert, ihr Prinzip des ,anything goes’ jedoch verworfen. Dies lag zum einen Teil an der angesprochenen befürchteten Entpolitisierung der Literatur, zum anderen in einer widersprüchlichen Haltung dem europäischen Kulturerbe gegenüber. Die Einstellung zur amerikanischen Kultur zeugte somit von einer Dichotomie im Bezug auf ihre Rezeption: Einerseits wurde ein Überwinden elitistischer Exklusionsmechanismen in den Künsten abgelehnt, andererseits das europäische Kulturerbe gegen die amerikanische Relativierung von ,high’ and ,low’ mit dem Argument der Unvereinbarkeit dieser Kategorien mit der europäischen Kulturtradition verteidigt.

Dies ist vor allem deswegen fragwürdig, weil man ignorierte, dass die amerikanische populäre Kultur in den späten 60er Jahren bereits einen Universalismus erreicht hatte, der vor allem auf einer interkulturellen – und in der Folge intermedialen – Ebene nicht zu übersehen war. Popmusik und Hollywood-Film waren in Deutschland längst zum Allgemeingut geworden und wurden auch innerhalb einer aufkommenden deutschen populären Kultur in großem Maße thematisiert. Darüber hinaus waren viele der betroffenen Autoren, man denke neben Brinkmann vor allem an Peter Handke, von der Popmusik oder dem Hollywood-Film sozialisiert worden, und arbeiteten in deren produktiver Rezeption Episoden ihres eigenen Lebens ein. Daher griffen sie keinesfalls, wie einige Kritiker befürchteten, lediglich auf ein fremdes kulturelles Artikulationssystem zurück.

Hinweis: Der Beitrag greift zurück auf das Kapitel „Leslie Fiedler: Cross the Border – Close the Gap“ in Sascha Seiler: „Das einfache wahre Abschreiben der Welt“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz