God’s Own Country

Selma Lagerlöf schildert in „Jerusalem“ den Aufbruch ins Gelobte Land

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Infolge des Wegzugs des Eigentümers nach Jerusalem wird das Gut Ingmarsgåden zum Verkauf angeboten.“ Wie konnte es dazu kommen? Einst gehörte Ingmarsgåden zu den stolzen Höfen in Schwedens Region Dalarna. Die „einträchtigsten Menschen“ lebten hier, und Ingmarsson war immer ein guter Name. Dann kommt Johan Hellgum und verkündet allen ein neues Leben im Neuen Jerusalem, das vom Himmel herabgekommen sei. Er entzweit das Dorf und macht „aus Leuten, die vordem nichts voneinander wissen wollten, Freunde.“ Der Unfriede wächst ebenso wie der Zusammenhalt seiner Anhänger. Letztere versammeln sich auf Gut Ingmarsgåden, dessen Eigentümer seit Generationen Ingmar hießen, rechtschaffen waren und friedlich ihr Auskommen gefunden hatten. Aber seit es Hellgum gelungen war, eine Sekte auf dem Ingmarsgåden zu stiften, steht die Region Kopf: „Jetzt streiten sich die Engel mit den Teufeln und die Schafe mit den Ziegen.“

Selma Lagerlöfs Roman Jerusalem ist paritätisch in zwei große Teilbücher aufgeteilt. Im zweiten Buch erreichen die Auswanderer das Gelobte Land. Dort werden sie bereits von Hellgum erwartet. Dieser ist kein guter Prediger, seine Vorträge bei den kleinen Gebetsversammlungen in der schwedischen Heimat sind umständlich, geistlos und ermüdend. Aber Hellgum verkündet eine einfache Botschaft: „Der Teufel hat etwas aus der Bibel entfernt, damit das Christentum auf Abwege gerate.“ Hellgum, einst straffällig geworden und nach Amerika ausgewandert, lebt eigentlich mit Gleichgesinnten in Chicago. Nun ist er als Seelenfänger in die alte Heimat zurückgekehrt, um für seine Glaubensgemeinschaft in Palästina zu werben: „Diese Gemeinde ist das wahre, heilige Jerusalem, das vom Himmel herabgekommen ist. Und das erfährt ein jeder, denn die Gaben des Geistes, die den ersten Christen zuteilwurden, werden auch uns zuteil. Denn einige von uns hören die Stimme Gottes, andere sprechen Prophezeiungen aus, und einige können Kranke heilen.“ Der Proselytenmacher hat Erfolg: Es gelingt ihm zunächst, Karin zu bekehren, eine junge Mutter, die seit einiger Zeit nicht mehr laufen kann. Die Autorin lässt offen, ob Karin die Seligkeit Gottes widerfährt und dieser eine Wunderheilung zeitigt, oder ob Glück, Angst und seelische Erschütterung sie wieder laufen machen.

Die angesehensten Leute aus den alten Familien versammeln sich auf einem Hof, um Gottes Wege neu zu beschreiten, einander zu helfen und „das einzig wahre und richtige Christentum zu vertreten.“ Aber es gibt auch warnende Stimmen, darunter Stark-Ingmar, der die Dinge aus dem Ruder laufen sieht: Er hält den Wunderglauben der Sektierer für vermessen und sieht keinen Anlass, seinen Glauben zu wechseln. Und er kann es nicht billigen, dass plötzlich alle, die sich der neuen Lehre widersetzen, „als Teufel und Antichristen bezeichnet werden.“ Ein großes Schisma geht durch die Gesellschaft, indem Hellgum predigt, dass seine Anhänger nicht unter Sündern leben dürften – denn dies trennt auch Kinder von ihren Eltern und zerstört die seit Jahrhunderten gewachsene Sozialstruktur. Die neue Lehre ist wie eine Plage über die alte Gesellschaft gekommen: Wer erlöst die Leute jetzt von Hellgum und seinen stechenden Augen, seinem radikalen Ungestüm, seiner „Bekehrungskrankheit“? Wer nimmt den Kampf mit dem Teufel auf?

In ihrem Roman reiht Lagerlöf Bekehrungsgeschichten an menschliche Tragödien. Es ist eine bedachtsame Welt voller Schicksalsschläge, die sie uns erzählt. Jerusalem beginnt mit einer Exposition, die bereits für sich allein genommen altmeisterlich und schnörkellos, direkt ins Geschehen führt, den Leser bestens orientiert und einstimmt auf das, was nun folgen wird. Schon nach wenigen Seiten ist man vertraut mit diversen Konfliktlinien, die den kargen Norden Europas um 1900 dominierten. Das unwirtliche Landleben mit harten Wintern und kurzen Sommern, die Überlast bäuerlicher Arbeit, die zur Trunksucht neigenden Männer, die schwindende Glaubenszuversicht bei den Gebildeten ebenso wie im Volk. Es wird gestorben und geheiratet und wieder gestorben und wieder geheiratet.

Wichtiger als der Pfarrer ist für die Dorfgemeinschaft der alte Schulmeister, der seit Generationen alle Kinder unterrichtet hat: „Trotz der vielen Arbeit, die er sich aufgebürdet hatte, war er noch im Besitz seiner vollen Kraft. Seine Haut war dunkel wie Kupfer und seine Züge waren scharf geschnitten. Neben dem kleinen Pfarrer mit der eingesunkenen Brust und der kahlen Stirn wirkte er unglaublich stark.“ Beide treibt die Sorge um, dass Sektierer das Kirchspiel unterwandern könnten: die Heilsarmee, die Evangelische Vaterlandsstiftung oder die Anhänger Waldenströms. Bei Fält, einem großen Sünder, der seine Seele an den Alkohol verloren hat, erscheinen zum Beispiel eines Tages die Kinder der Neubekehrten. Obwohl sie sich vor dem alten Mann fürchten, der wie ein Troll auf sie wirkt, harren sie bei ihm aus und hindern ihn daran, wieder zur Flasche zu greifen. Sie singen und beten für ihn, und als er in ihre „tränenerfüllten Augen“ sieht, ist „sein Widerstand gebrochen.“ Ob Thomas Pynchon Lagerlöfs Roman gelesen hat? Er erzählt in Die heimliche Integration (1964) eine ganz ähnliche Fabel.

Eine andere Episode handelt von einer jungen Amerikanerin, die 1880 mit einem Passagierschiff nach Paris reisen will, als die Reisenden und ihr Gefährt bei dichtem Nebel von einem großen Dreimaster gerammt werden. Während die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder sterben, wird Mrs. Gordon gerettet. Eine meisterhaft komponierte Geschichte in der Geschichte, die Ernst Jünger gefallen hätte, der Berichte über Schiffskatastrophen sammelte.

So wird hier Perle an Perle gereiht. Der Erzählzusammenhang bleibt immer gewahrt, aber manchmal ist er enger, dann wieder weitmaschiger und weniger zwingend. Lagerlöfs versteht es meisterlich, aus in sich abgeschlossenen Einzelgeschichten eine tragfähige Romanstruktur zu bauen. Es ist eine archaisch anmutende Welt, aber modern erzählt. Die Menschen, die von Dalarna aus aufbrechen, um in der Neuen Welt ein besseres Los unter Gleichgesinnten zu finden, verlassen ihren kargen Besitz, auf dem sie gleichwohl glücklich waren und selbstbestimmt gelebt hatten. Jetzt begeben sie sich in eine ungewisse Zukunft. Andere wiederum trotzen den Sektierern und lassen sich ihr Kirchspiel nicht als Sodom denunzieren.

Schmerzliche Begegnungen zeitigt die Abreise der „Jerusalemfahrer“. Für Gunhild wird es keinen Freudentag mehr geben: „Ich darf zwar ins Heilige Land ziehen, aber ich töte dadurch meine eigene Mutter.“ Für die Hellgumianer bedeutet Auswanderung aber auch, vor unangenehmen Folgen in der Heimat fliehen zu können. Jahrelang war Gertrud, ein junges Mädchen, einem jungen Mann namens Ingmar (viele Figuren tragen diesen Namen, das ist ein wenig verwirrend: dieser Ingmar ist der Sohn von Lill-Ingmar und Brita, die eingangs geschildert wurden) versprochen, der sie dann doch nicht heiraten konnte. Aus der seelischen Not in die soziale Katastrophe – so ungefähr muss man sich Gertruds Weg vorstellen: Sie hat Angst, verrückt zu werden, aber nichts fürchtet sie mehr, als Ingmar wiederbegegnen zu müssen, und so beschließt sie, sich Hellgum anzuschließen und nach Palästina auszuwandern. Davor kommt es jedoch noch einmal zu einer Begegnung zwischen den vormals Liebenden, die auf märchenhafte Weise eingeleitet wird: dreimal begehrt eine junge Frau, Ingmar an seinem Hochzeitstage sprechen zu dürfen, dreimal wird sie abgewiesen.

Was hier erzählt wird, scheint zeitlich und räumlich weit entrückt zu sein. Schon gar aus der Perspektive eines säkularisierten Landes wie dem unsrigen. Aber selbst unser Land kann leicht zum Spielball der Ideologen werden, und auch unsere Nachbarn stöhnen unter den neuerlich entbrannten Glaubenskriegen. Sei es die Gülen-Bewegung, seien es die Brexitiers, sei es die rechtspopulistische Heilsbotschaft, die von den Anhängern Bolsonaros verkündet wird. Sie ist auch in God’s Own Country verbreitet und firmiert dort unter Prosperity-Gospel als Heilsversprechen, das Wohlstand, irdische Glückseligkeit und bürgerliche Gesittung verheißt. Radikal bekämpft werden hingegen Homosexualität, Abtreibung und alles andere, was von ihren Normvorstellungen abweicht. Solche Strömungen und Entwicklungen erzeugen Gewalt und Widergewalt.

Die Neuübersetzung von Lagerlöfs Romans erfolgte auf der Basis der überarbeiteten Neufassung von 1909 (die schwedische Erstausgabe erschien 1901/02). Lotta Rüegger und Holger Wolandt fangen die erdige Sprache dieser harten nordischen Welt stimmig ein. Auch die feierlichen Momente religiöser Emphase werden glücklich ins Deutsche gebracht. Diese Welt geht uns noch immer an, auch sprachlich und poetisch, sie muss noch längst nicht verlorengegeben werden. Sie wird uns, im Gegenteil, auch sprachlich wiedergegeben, und wir erfahren durch sie, was wir verloren haben, als wir uns von Lektüren wie dieser abwandten.

Titelbild

Selma Lagerlöf: Jerusalem. Roman.
Mit einem Nachwort von Holger Wolandt.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Holger Wolandt und Lotta Rüegger.
Urachhaus Verlag, Stuttgart 2018.
552 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783825151720

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch