Ein russischer Beamter und Fabeldichter

Zum 250. Geburtstag von Iwan Krylow

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Die Fabeldichtung, die den Anspruch hat, eine tiefe Lebensweisheit und eine moralische Lehre zu vermitteln, wird heute fälschlicherweise häufig zur Kinderliteratur gezählt, obwohl sie zu den ältesten Formen der Dichtkunst gehört. Denken wir nur an den antiken griechischen Dichter Äsop, der als Begründer der Fabeldichtung gilt. In der europäischen Literatur erreichte die Fabeldichtung im 17. und 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. In Frankreich machte Jean de La Fontaine (1621–1695) mit Spott die feine Gesellschaft zur Zielscheibe seiner brillanten Fabeln. In Deutschland war es das „Dreigestirn“ (Goethe) Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), Magnus Gottfried Lichtwer (1719–1783) und Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), mit dem die Fabeldichtung im Sinne der Aufklärung eine hohe Blüte erlebte. (Ergänzend muss wohl noch Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) hinzugefügt werden.)

Auch in Russland hatte die Fabeldichtung eine reiche Tradition – erinnert sei hier an Antioch Dmitrijewitsch Kantemir (1708–1744), der die ersten Fabeln der russischen Literatur schrieb. Der russische Universalgelehrte Michail Wassiljewitsch Lomonossow (1711–1765) widmete sich ebenfalls dieser literarischen Form. Aber erst mit Alexander Petrowitsch Sumarokow (1717–1777) entstand die charakteristische Form der russischen Fabel mit ihrer starken satirischen Tendenz.

Wenn heute von russischer Fabeldichtung die Rede ist, fällt jedoch vorrangig ein Name: Krylow, mit dem „die Fabel im alten Russland ihren wahren Triumph feierte“, so der russische Kritiker Wissarion Grigorjewitsch Belinski (1811–1848). Iwan Andrejewitsch Krylow wurde am 2. (jul.) / 13. Februar (greg.) 1769 in Moskau geboren. Sein Vater war ein verdienter, aber armer Offizier in der russischen Armee, der sich nach vielen Dienstjahren vom einfachen Soldaten zum Hauptmann hochgearbeitet hatte. Als dieser 1778 starb, war Iwan gerade einmal neun Jahre alt. An eine geregelte Schulbildung war so nicht zu denken, vielmehr musste der Junge nun etwas zum Familienunterhalt beitragen. Als Hilfskraft (zunächst als Unterkanzlist und später als Kanzlist) fand er eine Anstellung in der Stadtverwaltung der Kreisstadt Twer an der Wolga. So lernte er schon frühzeitig die bedrückende Provinzbürokratie kennen. Kein Wunder, dass sich der junge Krylow zwischen all den langweiligen Gerichtsberichten und Kanzleilisten nach der Großstadt sehnte, in dem das geistig-kulturelle Leben pulsierte. Dieser Wunsch sollte sich bald mit einer Anstellung als Sekretär in der Petersburger Finanzkammer erfüllen – zu diesem Zeitpunkt war der halbwüchsige Krylow gerade einmal 14 Jahre alt. Mit jugendlicher Begeisterung genoss er vor allem das reichhaltige Theaterleben in der Newa-Metropole. Von diesem angeregt, versuchte er sich als Komödiendichter und Librettist komischer Opern. Bereits seine frühen dramatischen Versuche zeichneten sich durch eine realistische Konfliktgestaltung und Charakterzeichnung aus. Trotz seiner inzwischen guten Beziehungen zu den Petersburger Theaterkreisen wurden diese Stücke jedoch nicht aufgeführt.

Daraufhin brach Krylow alle Beziehungen zum Theater ab, auch eine Anstellung im Kabinett der Zarin Katharina II. (1762–1796) beendete er nach kurzer Zeit. Zu sehr war er inzwischen von seiner schriftstellerischen Berufung überzeugt. Zunächst arbeitete er an einem Wochenblatt mit, ehe er mit Geisterpost eine eigene satirische Zeitschrift herausgab. Bereits hier kritisierte er die sozialen Missstände im zaristischen Russland, wobei er Fabelwesen als Sprachrohr benutzte. Als sich mit dem Ausbruch der Französischen Revolution jedoch die Repressalien gegen die fortschrittlichen Kräfte und die Presse in Russland verschärften, wurde die Zeitschrift nach nur acht Monaten verboten. Erst 1792 wagte Krylow mit Der Zuschauer und St. Petersburger Merkur die Herausgabe zweier Zeitschriften im Sinne der Aufklärung. Obwohl sich der Autor bei seiner gesellschaftlichen Kritik häufig der äsopischen Fabelsprache bediente, sah die zaristische Zensur darin aufrührerische Tendenzen und die Zeitschriften mussten ebenfalls eingestellt werden. Krylow selbst wurde unter Polizeiaufsicht gestellt. Er zog sich von der Publizistik vollständig zurück und verließ St. Petersburg. Für einige Jahre hielt er sich in der Provinz auf, beispielsweise stand er in der Ukraine zwischen 1797 und 1801 im Dienste des Fürsten Golizyn. Als dieser als Militärgouverneur nach Riga versetzt wurde, war Krylow dort bis 1803 sein Kanzleisekretär.

1806, nach über zehn Jahren, kehrte Krylow nach St. Petersburg zurück, wo er sich zunächst wieder der Komödie zuwandte und zwei Stücke (Der Modesalon (1806) und Eine Lehre für Töchter (1807)) auf die Bühne brachte. 1811 erhielt er schließlich die Stelle eines Bibliothekars an der Kaiserlich öffentlichen Bibliothek (heute Russische Nationalbibliothek). Der Bestand der Bibliothek wuchs damals enorm an, da ab diesem Jahr von jedem in Russland veröffentlichten Buch ein Pflichtexemplar aufgenommen werden musste. Es sollte eine Lebensstellung werden; über 30 Jahre betreute Krylow pflichtbewusst die Buchbestände und Kataloge; er wohnte sogar in einem bescheidenen Zimmer im Bibliotheksgebäude. Fast ein halbes Leben als Einsiedler und Außenseiter zwischen Bücherregalen. Vom Unter-Bibliothekar stieg Krylow bis zum Collegien-Assessor auf; später erfolgte sogar die Beförderung zum Hofrat (1819) und zum Staatsrat (1830).

Bereits seit einigen Jahren hatte sich Krylow mit dem kleinen Genre der Fabel befasst; nun, finanziell abgesichert, fand er hier seine literarische Heimat. Waren seine Fabeln zunächst noch stark von Äsop und La Fontaine beeinflusst, fand er bald zu einer eigenständigen Form, die sich durch einen volkstümlichen Witz und eine farbenreiche Sprache auszeichnete. Seinen Tierfiguren verlieh Krylow adäquate russische Charaktere; so war der Esel Sinnbild des russischen Beamten – klang da auch etwas Selbstkritik mit?

Der Esel

Als Zeus, um zu bevölkern seine Welt,
ins Leben rief der Wesen bunte Menge,
ward ihnen auch der Esel beigesellt.
Doch – war es Absicht, war es das Gedränge
der unruhvollen Schaffenszeit –
genug, es gab der Gott sich eine Blöße,
der Esel hatte nur des Eichhorns Größe.
Dem Esel war das bitter leid,
denn niemand achtete fast seiner.
Gern hättʼ er sich hervorgetan –
er wollte hoch hinaus, wie einer –,
allein mit seiner Zwergfigur
schämt er sich auch zu zeigen nur.
Da tritt den Gott der Esel an
und zieht die Stirne kraus
und bittet um ein größer Körpermaß;
denn so zu leben, sei ein schlechter Spaß.
„Ich haltʼ es“, spricht er, „nicht mehr aus.
Die Löwen, Panther, Elefanten
sind überall gar hoch geehrt;
wohin sich meine Ohren wandten,
habʼ ich von ihnen nur gehört.
Warum hast du den Eseln denn gegrollt,
dass niemand ihnen Achtung zollt,
und niemand über sie ein Wort verlor?
Hättʼ ich auch nur die Größe wie die Rinder,
ich tätʼ gleich Leuʼn und Panthern mich hervor,
und von mir sprächen Mann und Weib und Kinder.“
Es ging seitdem kein Tag vorbei,
der Esel sang vor Zeus dieselbe Litanei,
dass es zuletzt den Gott zu arg beschwerte
und er die Bitte ihm gewährte.
Der Esel ward nun ein recht großes Vieh,
erhielt dazu auch eine wilde Stimme,
dass, wenn der graue Herkules nun schrie,
der Wald erbebt wie bei des Löwen Grimme.
„Was mag das für ein Tier denn sein?
Es hat wohl Hauer, Hörner ohne Zahl?“
So fragt man sich und macht sich viele Qual.
Doch war noch nicht ein Jahr verstrichen,
da wussten alle, was ein Esel ist,
und da war alle Furcht gewichen.
Des Esels Dummheit wird zum Sprichwort nun,
und schwere Fronen muss er fortan tun.

Was hilft ein hoher Wuchs, ein hoher Stand,
wenn sich kein hoher Sinn damit verband?

Die Tiere bewegen sich bei Krylow in einem menschlichen Umfeld, mit ihnen lieferte er ein Abbild der russischen Gesellschaft. Gelegentlich verzichtet Krylow in seinen Fabeln auf Tierfiguren, in diesen Fällen sind Bauern, Philosophen oder Höflinge die handelnden Personen. So konnte er seine Kritik wesentlich direkter ausdrücken. Manche Fabeln reflektierten auch den Vaterländischen Befreiungskampf gegen die Napoleonische Fremdherrschaft.

1841 legte Krylow sein öffentliches Amt in der Petersburger Bibliothek nieder. Drei Jahre später, am 9. (jul.) / 21. November 1844, starb er im Alter von 77 Jahren. Als er im Alexander-Newski-Kloster auf dem Tichwiner Friedhof beigesetzt wurde, folgte eine unübersehbar große Menschenmenge seinem Sarg. Zehn Jahre nach seinem Tod wurde im Petersburger Sommergarten ein Denkmal für den Dichter errichtet – übrigens nach dem Entwurf des deutschbaltischen Bildhauers Peter Clodt von Jürgensburg (1805–1867). Es war das erste Denkmal im Russischen Reich für einen Dichter.

Krylow hat die Fabel zur realistischen Gesellschaftskritik und echten Volksdichtung entwickelt. Bereits 1809 war eine erste Ausgabe mit seinen Fabeln erschienen, die sofort begeistert aufgenommen wurde. Spätere Ausgaben erreichten für die damalige Zeit fast schwindelerregende Auflagenhöhen von 40.000 Exemplaren. Insgesamt schuf Krylow mehr als 200 Fabeln, mit denen er auch zum Wegbereiter des klassischen russischen Realismus wurde. Durch ihre Urwüchsigkeit und Bodenständigkeit sowie ihre Umgangssprache, die der Sprache des einfachen Volkes abgelauscht war, sind sie bis heute bedeutender Bestandteil der russischen Nationalliteratur.

Noch zu Krylows Lebzeiten (1842) wurden seine Fabeln ins Deutsche übertragen und im Verlag G. A. Reyher, Mittau, veröffentlicht. Der russische Fabeldichter war so beliebt, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch fünf weitere deutsche Übersetzungen folgten. Da verwundert es im Nachhinein, dass Krylows Fabeln fast 100 Jahre lang nicht in Reclams Universal-Bibliothek vertreten waren. Erst 1963 brachte der Leipziger Reclam Verlag (Band 143) eine Auswahl von 100 Fabeln in der noch heute gültigen Übersetzung von Ferdinand Löwe (1809–1889) heraus. Der Reclam-Band (mit einem Nachwort des Slawisten Helmut Grasshoff (1925–1983)) erreichte bis 1988 zahlreiche Nachauflagen, seitdem hat sich jedoch kein weiterer deutscher Verlag um eine Ausgabe der Krylow-Fabeln bemüht.