Tiefe Einblicke

Im trügerischen Gewand eines Regionalkrimis besticht der „Spiekerooger Utkieker“ von Ingrid Schmitz vor allem als fein gewebtes Erotogramm einer Best Agerin

Von Lukas MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mia mag Mario. Auf ihrer Lagerstatt erbringt er Höchstleistungen, „dieser Sonderling, dieses sexte Weltwunder“. Er verwöhnt sie sonder Gnaden – „seelisch und körperlich“ –, entspricht kurzum „genau dem, was man sich von einem Mann wünschte, wenn es um das Thema Sex ging.“ So weit, so elysisch. Dereinst aber die Behausung zu teilen mit ihm, gar wieder zu suchen das Konnubium – nichts könnte der rezent von Bodo Geschiedenen ferner stehen. Allzu wacker daher auch Marios Anerbieten, Mias 50. Geburtstag mit gemeinsamer Ferienzeit auf Spiekeroog zu umsäumen. Durchs Tor ins Beste aller Lebensalter möchte die Privatermittlerin nicht anders als privatim schreiten. Es verjüngt sich denn im Blick von der Reling schon bald die „breite Männerbrust“ am Fährufer – das Eiland naht!

Dieser und weiterer, tieferer Einblicke in ein Detektivinnenherz darf sich die Leserschaft des Spiekerooger Utkieker von Ingrid Schmitz gewiss sein. Was die Autorin als einen „InselKrimi“ tarnt, birgt in seinem Innersten einige ergreifende Momentaufnahmen einer vom reifen Eros inflammierten Frau. Und einer gereiften Künstlerin. Dass Mia Magaloff nämlich neben professioneller Schnüffelei und Trödelmarketenderei – freilich ebenfalls beides Künste sui generis – das „Bildhauern“ weiland zum Brotberuf gewählt hat, verrät ihre erste Begegnung mit dem übermannshohen Bronzeakt De Utkieker, der der insularen Dünenlandschaft seit dem Jahr 2007 tatsächlich zur Zierde gereicht. Obgleich leicht beschwipst von den dreieinhalb Metern eherner Männlichkeit, weiß sie doch im anschließenden Kunsturteil deren Qualitäten blitzschnell und punktgenau zu erfassen: „Riesengroße Füße, überlange Beine, der Schamhaarbereich bronzegelockt. Nur das wichtigste Teil des Mannes wirkte, im Verhältnis zu den anderen Gliedmaßen, eher stummelig klein.“

Für derart zart knisternde Ekphrasen braucht man sich aber gar nicht erst bis auf die Insel zu lesen. Schon im Auftakt, genauer: am Morgen der Reise, hatte Mia ihren noch schnarchenden Beischläfer – von den „großen Taten“ der Nacht war bereits die Rede – mit demselben musisch geschulten Blick betrachtet, und kein Zweifel auch hier, welche Strukturelemente der männlichen Anatomie sie in besonderem Maße veneriert: „Für einundfünfzig Jahre war sein Körper athletisch. Sie liebte die kräftigen, aber nicht übermäßig vielen Haare auf seinen muskulösen Beinen. Nur dazwischen sah es momentan nicht so kraftvoll aus.“ Wahrlich, hätte selbst dem Barberinischen Faun eine diskretere Schau seiner sich in dubiosem Ruhezustande befindenden Natur gebühren können? Kurz vor der vollkommenen Klassizität, enträt dies Bild wohl einzig noch des Federbetts wogenden Faltenwurfs.

Zurück auf Spiekeroog: Schreck und Graus! Wüst springt die Schmitz mit ihrer Heldin um, treibt sie, die bei den Autochthonen einwöchiges Obdach erbittet, nun geradewegs in Feindeshaus. Denn vor Zeiten soll’s gewesen sein, da ausgerechnet ihre Wirtin, Fee genannt, sich ebenfalls zu „Mario und seinen Vorzügen“ bekannt, ihn sogar einmal fast bis vor den Traualtar becirct hatte. Mia also fortan am Scheideweg der Liebe. Wird sie mit einer solchen Offenbarung zu leben verstehen? Lauschen wir nur diesem ringenden Herzen! „Er war so verdammt männlich, so testosterongeladen, so schwanzgesteuert, so betrügerisch.“ An welchem dieser vier parallelen Glieder sie ihre Entscheidung letzthinnig ausrichtet, wird für eine sinnlich engagierte Leserschar ganz gewiss bis in die allerletzten Kapitel hinein von Interesse bleiben.

Wie nur irgend möglich heischt die Zerrissene erst einmal Zerstreuung, Aufschub vor dem verzehrenden Votum; entschlüpft dem duftigen Sommerkleid, bevor ihr blanker Busen an die Nordseebrandung schlägt; vergeht vor Lust – doch nicht ohne Reue – unter den zauberischen Händen des Chefs vom „Wellness-Tempel“; begegnet einem Horst, von dem wir aber leider nicht erfahren, ob welcher unterleiblicher Beschaffenheit er gerühmt oder geschmäht werden darf. In Anbetracht jener bislang unbestritten bevorzugten Körperregion vollzieht sich ohnehin eine Kehrtwende: „Gut, sein Po war knackig“ – so wird ein Inselspross jetzt knapp umrissen, eines anderen Visage lockt „popoglatt rasiert“. Variatio delectat, indes nicht lange Zeit: Die frivole Lizenz endet jäh, Mario landet an. Zuviel der keuschen Tage wurd’ es ihm in Krefeld…

Übel gesinnte Geister mögen nun dem Wahn verfallen, diese gesammelten sanft-faunischen Leckerbissen, die der Spiekerooger Utkieker Mias 50-jähriger Gefühlswelt entsteigen lässt, bisweilen eines sexualpathologischen Ursprungs zu zeihen. So etwa, wenn ein Handydisplay in ihrer Wahrnehmung zur „Brutstätte von Abermillionen Sexorgien feiernden Bakterien und Bazillen“ mutiert. Dergleichen Trübungen in einem überdies schillernden Charaktergewebe dürften das Auge aber keineswegs verdrießen, sondern es vielmehr auf dessen stupende Komplexität einschwören wollen.

Allein ein Umstand tut Genuss und Fluss dieser rundum erquicklichen Lektüre Abbruch und gehört ebendarum nicht verschwiegen: Auf rund 95 Prozent Seitenanteil verstummt der Liebesgott, und an seines Waltens Stelle werden zwei für die Haupthandlung gänzlich irrelevante, von irgendwelchen Immos, Jelkos und Ennas verübte Morde aufgeklärt.

Titelbild

Ingrid Schmitz: Spiekerooger Utkieker.
Leda Verlag, Leer 2016.
269 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783864120978

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