Vom Fall zur Geschichte

Ein Sammelband eröffnet historisch breit gefächerte Sichtweisen auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld

Von Hannah Varinia SüßelbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannah Varinia Süßelbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Umgang mit der Textsorte „Fallgeschichte“ überlagern sich unter anderem epistemologische, rechtsphilosophische, literaturtheoretische, psychoanalytische, politische, pädagogische, motivgeschichtliche sowie anthropologische Fragestellungen. Die „Koevolution und Konkurrenz“ der unterschiedlichen Ausprägungsformen von Fallgeschichten zeigen, dass in diesen Texten nicht nur geisteswissenschaftliche Disziplinen miteinander verbunden werden, sondern dass gerade die Beeinflussung durch naturwissenschaftliche Zugänge konstitutiv ist.

Überraschend ist daher, wie trotz dieser Bandbreite die aktuelle akademische Beschäftigung mit dieser Gattung in Deutschland zwar „mittlerweile reichhaltig, aber auffällig selbstähnlich“ ist, was Thomas Wegmann einführend in dem von ihm und Martina King herausgegebenen Sammelband Fallgeschichte(n) als Narrativ zwischen Literatur und Wissen konstatiert. Bereits der Titel verweist auf ein grundlegendes Problem: die Unentschiedenheit, ob der „Fall“ ein singuläres oder ein plurales Phänomen bezeichnet. Ludwig Wittgenstein, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, schrieb 1921 im Tractatus logico-philosophicus: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ In diesem Leitsatz liegt der Fall grammatikalisch im Singular vor, er bezeichnet jedoch Plurales, da er unterschiedlichste Sachverhalte subsumiert und so „für die Verallgemeinerbarkeit des Einzelnen“ sorgt.

Damit ist der erste Teil einer der wenigen Begriffsdefinitionen des Bandes angesprochen, die Wegmann zu Beginn vornimmt. Zum einen stellt er die „Spannung von Allgemeinem und Besonderem“ und zum anderen den „engen Wirklichkeitsbezug“ als Besonderheiten von Fallgeschichten aus. Dieser Wirklichkeitsbezug und das Erschließen von allgemeingültigem Wissen auf Basis von Einzelbeobachtungen zeigt die prinzipielle Unmöglichkeit der strikten Grenzziehung zwischen „fiktionalem und faktualem Erzählen“ und vom „Finden und Erfinden einschlägiger Tatbestände“. Dieses Verhältnis von Literatur und Wissen und die Interdisziplinarität der Gattung der Fallgeschichte wird in dem vorliegenden Band gleichsam fallweise diskutiert, wie die folgende Auswahl verdeutlichen mag.

Gunhild Berg verhandelt kenntnisreich den Topos vom gefallenen Menschen auf Grundlage der Epistemologie der Lemmata „Fall“ und „Fallen“ in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1811). Vom physikalischen Fallgesetz ausgehend, über den physischen Fall (dem Niedersinken und Aufrichten fallender Körper) sowie die soziale beziehungsweise moralische Fallhöhe bis hin zu dem vermeintlich ersten Fall der Menschheitsgeschichte, dem Sündenfall, entwickelt Berg gekonnt eine sozialmoralische und aus heutiger Sicht eindeutig politisch zu verstehende Dimension des Fall-Begriffs in moralischen Erzählungen über die „verführte Unschuld“ im späten 18. Jahrhundert. Die von ihr eingenommene Gender-Perspektive zeigt Narrative der Weiblichkeit, wie etwa die „Kunst zu gefallen, durch die die Frau zum sozial wahrgenommenen Objekt wird. In Folge des Gefallens, das sie wecken soll, droht ihr indes der sexualmoralische als ein sozialer Fall.“ Bergs etymologischer Ansatz akzentuiert Frauen im 18. Jahrhundert, die als Fall meist in Gestalt der Kindesmörderin oder der Giftmischerin auftauchen, wesentlich facettenreicher und zeigt dadurch, dass die sozialmoralische, sozialpsychologische und politische Dimension des „Fallens“ bisher oft zu Unrecht missachtet wurden.

Dem wohl kanonischsten Fall dieses Sammelbandes wendet sich Steffen Martus zu. Er konstatiert zu Beginn, dass in der aktuellen Forschung zu Georg Büchners Lenz eine Linie dominiert, die sich um eine genaue historische Kontextualisierung des Textes bemüht. Dabei wird Büchners Erzählung, die 1839 posthum erschien, „meist als eine Stellungnahme gegen die therapeutische Unfähigkeit Oberlins angesichts eines Falls von ‚religiöser Melancholie‘“ gelesen. Martus weist versiert und äußerst detailliert vielfältige Therapieversuche zeitgenössischer Krankheitsbilder nach – von religiöser Melancholie und Verrücktheit über Verstandeskrankheiten bis hin zum animalischen Magnetismus. Zentraler Punkt in seiner Argumentation ist dabei, dass nicht Lenz’ Sensibilität die Wahrnehmung der Welt um ihn schwärzer werden lässt, sondern Mensch und Natur auf eine signifikante Weise miteinander verbunden sind und so die Analogieverhältnisse der Erzählordnung insgesamt strukturieren. Nimmt man die Beobachtungen des Textes jedoch für bare Münze und geht von einer tatsächlichen Verdunkelung der Welt aus, so erscheint das Krankheitsbild der „Verrücktheit“ als wahrscheinlich. Martus plädiert für eine neue Lesart der beschriebenen Symptome. Eine Lesart, bei der sich der Rezipient nicht für die eine (Wahnsinn) oder die andere (animalischer Magnetismus) Sicht entscheidet, sondern beide gleichberechtigt in einer Art Doppelcodierung nebeneinander bestehen lässt. Büchner habe mit Lenz für eine Welt komplexerer Bezüge sensibilisieren wollen. Es geht also am Ende nicht um die Krankheit allein, sondern um die Korrelation von Kunst und Krankheit und damit um eine generelle Ästhetisierung der Falldarstellung.

In ihrem Aufsatz zu dem Fall Oskar Panizza stellt Magdalena Maria Bachmann einen der interessantesten, allerdings bisher vergleichsweise wenig beachteten Fälle an der Schwelle des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dar. Dass die Textsorte der Fallgeschichte durch die Entstehung der Psychologie erheblich an Bedeutung gewonnen hat, ist – nicht zuletzt wegen Friedrich Schillers berühmter Pitaval-Vorrede, in der er die Erforschung der „geheimen Bewegursachen menschlicher Handlungen“ fordert, und wegen der „Erkenne dich selbst“-Problematik von Karl Philipp Moritzens Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – in der Fallgeschichtsforschung unumstritten. Die Wechselwirkungen von Literatur und Wissenschaft zeigen sich jedoch nicht nur in der Forschung, sondern teilweise auch in Individuen. Der Fall Panizzas zeigt eindrücklich, wie vielfältig Individuum und Fall aufeinander einwirken können. Panizza war als Schriftsteller und ausgebildeter Psychiater bereits beruflich in beiden Gebieten angesiedelt, sein Drama Das Liebeskonzil wurde der Blasphemie bezichtigt. Er landete schließlich als Entmündigter in einer Nervenheilanstalt und wurde damit selbst zum Fall. Es ist verständlich, aber keineswegs ausreichend, dass die bisherige Forschung vornehmlich aus biografischen Lesarten und Deutungsansätzen besteht. Die Autorin indes verlässt diese Pfade und nimmt die von Panizza geschriebenen Fallgeschichten mit Seitenblicken auf prominente Stichwortgeber wie Michel Foucault, Sigmund Freud und Richard von Krafft-Ebing als davon unabhängige Texte ernst.

Besonders interessant ist die Hervorhebung von Panizzas Bezugnahme auf die Genieästhetik. In seinen Augen sei Genialität nicht allein mit „Entrückung, Heiligkeit und Kunst in Verbindung zu bringen“. Vielmehr sei „auch den unkontrollierbaren Emanationen des Wahnsinns eine geniale Kraft zu attestieren“. So weist Bachmann – ganz im Zeichen der Programmatik des Sammelbandes – nach, dass mithilfe von Fallgeschichten einerseits neues Wissen generiert werden kann und gleichzeitig Allgemeinplätze infrage gestellt werden können. So ist beispielsweise die strikte Grenzziehung von fiktionalem und faktualem Erzählen durch Panizzas Transformation eines in Form einer Autobiografie formulierten Falls in eine auktoriale Er/Sie-Erzählung kaum mehr möglich. Vielmehr „unterläuft, dekonstruiert und kritisiert er mit seiner literarischen Fallgeschichte die wissenschaftliche“.

Dadurch wird vor allem die Wichtigkeit der situativen Kontextualisierung (gerade durch ihr paratextuelles Umfeld) von Fallgeschichten in einem hohen Maße deutlich. Sowohl der Kontext ihrer Veröffentlichung als auch die unterschiedlichen Funktionalisierungen der Gattung als etablierte Form können der Grund für divergierende Rezeptionen sein: So hat besonders die Wahl der Erzählperspektive einen enormen Effekt auf die Erwartungshaltung der Leser*innen sowie auf die Funktion der wissenschaftlichen oder literarischen Fallgeschichte als Gattung. Das trifft auch auf Panizza als Individuum zu, da seine Texte heute meist nur unter der Folie seiner eigenen Geisteskrankheit gelesen werden. Panizza, so könnte man Bachmanns Beitrag lesen, kritisiert damit selbst posthum die Autorität der Fallgeschichtsforschung und hinterfragt die Macht und die Wissenschaftlichkeit institutionell instrumentalisierter Fallgeschichten.

Anknüpfend an die von Karl Philipp Moritz ausgehende Psychologisierung und Empirisierung des Kasus stellt Susanne Düwell als programmatischen Gegenpol den „Diskurs der Aufklärungspädagogik in den 1770er und 1780er Jahren, vor der Etablierung der Pädagogik als Wissenschaft“ vor. Die generelle „Ausweitung der Observation zu einem allgemeinen Paradigma im 18. Jahrhundert“ zog große Änderungen im pädagogischen Diskurs der Aufklärung nach sich. Düwell bildet die Aufwertung von Erfahrung und Beobachtung im Zusammenhang mit Anthropologie und Erfahrungsseelenkunde am Beispiel der Kindererziehung nach und verdeutlicht dadurch die Unterschiede psychologischer und pädagogischer Fallgeschichten. Während die psychologische Fallgeschichte auf Selbstbeobachtung fußt, wird pädagogische Erkenntnis durch Fremdbeobachtungen in einem hierarchischen Gefälle erlangt. Problematisch ist dabei, dass sich die Natur des Kindes direkter Beobachtung entzieht und die „Kombination von Prüfung und Dokumentation aus der Tatsache resultieren, dass die pädagogische Betrachtung in die pädagogische Praxis involviert ist, die Beobachtungstechniken dienen deshalb sowohl der Wissensgewinnung als auch der Kontrolle der Zöglinge.“ Diese Vorgehensweise zeigt die Vorbildfunktion der Medizin für die empirische Grundlegung der späteren Pädagogik. Das Problem der Fallgeschichte im pädagogischen Diskurs bestehe darin, dass sie oft mehr Wert auf ihre didaktische Wirkung (die Verhaltensänderung der Menschen) als auf empirische Genauigkeit legten. In der scheinbaren Analogie von Erziehungskunst auf der einen und der Heilkunst (beispielsweise der Psychologie) auf der anderen Seite werde die Schwierigkeit der pädagogischen Beobachtung deutlich, die weder auf Sammlungen von Beobachtungen noch auf eine Systematik zurückgreifen könne.

Bereits anhand der hier hervorgehobenen Texte wird die große Spanne der Disziplinen und Perspektiven deutlich, die dieser Sammelband exemplarisch begutachtet: Etymologische Herangehensweisen, die einen Bezug zu aktuellen Genderfragen zulassen, stehen gleichberechtigt neben pädagogischen und psychologischen Betrachtungen. Immer wieder werden aus heutigem Erkenntnisstand Wissenschaften zur Zeit der betrachteten Fallgeschichte beschrieben. In ihrem Anspruch, ihrer thematischen Ausgestaltung und ihrer Stringenz unterscheiden sich die Beiträge selbstredend deutlich voneinander, was schon allein dem breiten thematischen Feld und der Vielzahl der vertretenden Fachwissenschaften geschuldet ist.

Anzuerkennen ist, dass die exemplarische Beobachtung einer derart beachtlichen historischen Spanne eine große Leistung ist. Immerhin decken die untersuchten Autor*innen und Gegenstände vier Jahrhunderte ab. Von Georg Philipp Harsdörffers Der große Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1650-52), dem sich Claus Michael Ort in seinem Beitrag mit Fokus auf die Wissensgenerierung mittels Verbrechensdeutungen annimmt, geht es über zu Adam Bernds Eigene Lebens-Beschreibung (1738). Mit dieser als idealtypisch geltenden Fallgeschichte zwischen christlicher und medizinisch-anthropologischer Wissensordnung befasst sich Stefanie Retzlaff. Im 19. Jahrhundert bewegt sich neben anderen Philipp Hubmanns Aufsatz über Marie von Ebner-Eschenbachs Das Gemeindekind von 1887, in dem unter anderem verschiedene Fragen über den Umgang mit jugendlichen Delinquenten diskutiert werden. Die Beiträge von Michael Pilz und Joachim Jacob schließlich führen ins 20. Jahrhundert. Jacob überträgt die Fallgeschichte, die sich üblicherweise mit dem Verhältnis von Einzelfall und deren Verallgemeinerung auf die moderne Massengesellschaft, in der die Individualität verschwindet.

Leider eignet sich der Sammelband durch diese thematische Vielfalt und die terminologische Offenheit schwerlich als Einstieg in das Themenfeld der Fallgeschichte. So hinterfragt kaum ein Beitrag den Begriff des „Falls“. Im Gegenteil: Die meisten nutzen ihn, als verstünde er sich von selbst, ohne ihn für den Rahmen des jeweiligen Beitrags zu definieren. Wer jedoch bereits einen Einblick in dieses Themenfeld gewonnen hat, findet hier inspirierende Ansätze unterschiedlichster Couleur. Trotz der wenigen genannten Einwände ist dieser Sammelband ein geglückter Beweis dafür, wie es gelingen kann, durch die interdisziplinäre Beschäftigung mit einem Themengebiet, in dem sich so viele verschiedene Fragen überlagern, zu fruchtbaren und anregenden Ergebnissen zu gelangen.

Titelbild

Martina King / Thomas Wegmann (Hg.): Fallgeschichte(n) als Narrativ zwischen Literatur und Wissen.
Innsbruck University Press, Innsbruck 2016.
321 Seiten, 43,00 EUR.
ISBN-13: 9783901064470

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch