Aufbruch und Enge

Ulrich Woelks Roman „Der Sommer meiner Mutter“ ist ein lakonisches Porträt einer Kindheit in den 1960er Jahren

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gemeinhin gelten die späten 1960er Jahre als Inbegriff von Aufbruchsstimmung, Studentenprotesten, Abrechnung mit alten Eliten, Politisierung und einer nicht nur für die Frauen bedeutenden Emanzipationsbewegung. Eine junge, in die Verbrechen der Väter- oder Großvätergeneration nicht verwickelte, aber gerade dadurch von ihnen betroffene Generation organisierte sich und provozierte die Etablierten in der Gesellschaft mit Gegenkulturen, die durch eigene Werte und Lebensformen deren Widerstand auf den Plan riefen. Die Politisierung, die staats- und kapitalismuskritische Haltung der Dichter schlug sich in einem erweiterten Literaturbegriff nieder, der natürlich auch als Abwehrhaltung gegen überkommene Schreibweisen zu verstehen ist und sich gegen bürgerliche Funktionalisierungen von Literatur richtete. Zahlreiche Autoren der Zeit schrieben politische Texte und literarische Theorien und überschritten – mit Leslie Fiedlers Worten „Cross the border, close the gap“von 1968 – Gattungs-, Werte- und Sittengrenzen. Martin Walser fragte 1970 nach der Neuen Stimmung im Westen, Hans Christoph Buch wetterte 1973 gegen einen in der Literaturkritik angeblich um sich greifenden „Vulgärmarxismus“ oder dachte über die Literatur nach dem Tod der Literatur nach, den Hans Magnus Enzensberger 1968 mit seinen Gemeinplätzen die neueste Literatur betreffend im Kursbuch ausgerufen hatte und dort als Aufgabe der Literatur die politische Alphabetisierung der Deutschen, aber auch ihrer Alphabetisierer selbst, also der Dichter, herausgestellt hatte. Oft genug sind aber auch die schon kurze Zeit später und noch in der Aufbruchsstimmung entstandenen Texte, die literarisch zurückblicken auf die gesellschaftlichen und politischen Bewegungen, in ihren Darstellungen ambivalent, bisweilen auch kritisch, wofür Peter Schneiders berühmte Erzählung Lenz von 1973 ein eindrückliches Beispiel ist.

Diese oppositionelle Weltanschauung und Lagerbildung in den späten 1960er Jahren ist die Grundkonstellation, auf der Ulrich Woelk seinen Roman Der Sommer meiner Mutter aufbaut. Gezeigt wird zunächst an der Familie des Ich-Erzählers, dass es auch stabile konservative Milieus und Gegenden gegeben hat. Der 1958 geborene Ich-Erzähler Tobias Ahrens verbringt am Kölner Stadtrand mit seinen Eltern Walter und Eva – er Ingenieur, sie Hausfrau – seine Kindheit und frühen Jugendjahre: ein „Leben mit Waschbetonterrasse, Zentralheizung und Doppelgaragenbau“. Die Beschaulichkeit der katholisch geprägten, fast schon dörflichen Idylle wird durch die neuen Nachbarn – der Übersetzerin Uschi und dem Universitäts-Dozenten Wolf Leinhard – mit ihrer nach der Kommunistenführerin Luxemburg benannten Tochter Rosa zunächst nicht über die Maßen gestört. Man hört sich die linken Meinungen des etwas klischeehaft Rollkragenpullover tragenden, Zigaretten rauchenden Philosophen an, wundert sich zwar ein wenig über die emanzipatorischen Ambitionen der Ehefrau und das frühreife Geplapper der Tochter, doch verbringt auch nicht ungern Zeit miteinander bei Grillabenden oder Geburtstagsfeiern. Ab und an dringen in die Gespräche auch politisch aktuelle Ereignisse ein, die den Beteiligten Bekenntnisse in ihrer Haltung gegenüber dem Vietnamkrieg und den USA, aber nur am Rande auch gegenüber den Entwicklungen im eigenen Land seit dem Schahbesuch oder den Positionen der Studentenbewegung abverlangen. Einigkeit herrscht lagerübergreifend nur in der Faszination für die bevorstehende Mondlandung der Amerikaner am 20. Juli 1969, der vor allem der raumfahrtbegeisterte Tobias mit seinem Vater entgegenfiebert. An dem bevorstehenden 50-jährigen Jubiläum der Mondlandung hat bereits letztes Jahr der amerikanische Autor Michael Chabon – wiederum in Anlehnung an Pynchons Die Enden der Parabel von 1973 –  in seinem Roman Moonglow seine zwischen Deutschland und den USA angesiedelte, weit ins frühe 20. Jahrhunderts ausgreifende Familiengeschichte zwischen Fortschrittswahn und Zukunftshoffnung gespiegelt.

Dem großen, am Ende erfolgreichen Aufbruchversuch, den Mond zu erobern, wird bei Woelk der kleine, mit dem Selbstmord der Mutter von Tobias in einer Tragödie endende private Emanzipationsversuch gegenübergestellt. Diese thematische Konzeption der Überblendung und Engführung von persönlichen Lebens- und historischen Zeitläuften, die symbolische Konstruktion und die Familienkonstellation wären die beste Voraussetzung für einen überambitionierten, misslingenden Thesen-Roman. Woelk gelingt es aber, genau das zu vermeiden, indem er einen Kunstgriff anwendet, der – zugegeben –  über die ersten Seiten den Leser auch enervieren kann: Bis zum letzten, 13. Kapitel lässt er den Ich-Erzähler Tobias zwar als erwachsenen Astrophysiker aus dem Jahr 2016 – was der Leser am Ende erfährt – rückblickend auf seine Kindheitsjahre blicken. Doch ist dieser Rückblick gekennzeichnet durch die konsequent angewandte Wahrnehmungs- und Wertungsperspektive des jungen Tobias, der die geschilderten Ereignisse nicht durch sein späteres Wissen oder Fühlen verunklart. Dadurch wird gerade die Verurteilung oder Bloßstellung etwa des Vaters vermieden. Es ist nicht der schlechteste Zug des Buches, dem Leser durch eine manchmal auch viel Geduld abverlangende eingeschränkte Perspektive zum Nachdenken über jene Figuren anzuregen, über deren Verhalten und Wertesystem das Urteil aus unserer heutigen Sicht eigentlich schon feststeht. Damit öffnet der Text eine ganz andere Perspektive, die allemal interessanter scheint als die erwartbare Verurteilung eines Mannes, der nicht damit zurechtkommt, dass seine Frau angeregt durch die neue Nachbarin plötzlich auch selbst arbeiten will, auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg geht, schließlich ihre unterdrückte Homosexualität entdeckt und eine kurze, vom Sohn Tobias tragisch verratene Affäre beginnt. Gemeint ist die Tiefendimension der Charaktere und gesellschaftlichen Verhältnisse in den späten 1960er Jahren am Beispiel der Eltern und Nachbarn: Denn der links-liberale Wolf Leinhard steht in seiner ablehnenden Reaktion, als er von der Teilnahme seiner Frau und der Nachbarin an einer politischen Demonstration erfährt, dem konservativen Ingenieur Ahrens, was das Frauenbild anbelangt, in nichts nach. Andererseits erscheint gerade durch die eingeschränkte, kindliche Erzählperspektive des Ich-Erzählers – der auch das eigene körperlich-sexuelle Erwachen nicht aus dem Wissen des erwachsenen Mannes heraus schildert – der Blick auf die Eltern wie eine Außenaufnahme, hinter der sich ein doppelter Boden auftut. Denn was von außen betrachtet als Aufstiegs- und bürgerliche Erfolgsgeschichte einer Kleinfamilie daherkommt,  wird als emotionale Verlustgeschichte erkennbar.

Natürlich kann man dem Text eine gewisse und bisweilen auch durchscheinende Konstruiertheit nicht ganz absprechen, was schon bei den mitunter wie mit einem Griff aus der Requisitenkiste hervorgeholten kulturgeschichtlichen Realien wie den Liedern von The Doors, dem skandalumwitterten sadomasochistischen Roman Die Geschichte der O. – der allerdings erst 1973 verfilmt worden ist – oder der Bestseller Der offene Himmel über moderne Astronomie von Heinz Haber beginnt. Allerdings ist doch gerade der eigentliche Höhepunkt der Handlung, das Fremdgehen der Mutter, die erste erotische Erfahrung des Ich-Erzählers mit Rosa und die Mondlandung der Amerikaner so überzeugend und kunstvoll erzählt, dass der Leser solche Schwächen gerne entschuldigt. Die Gespräche über Motive, Anlass und Ziele der Mondlandung geraten unversehens und unaufdringlich zur doppelbödigen Analyse der Paar-Beziehungen, menschlicher Hybris und Fortschrittsdenken, die im Spannungsfeld von Weltgeschichte und privater Glücksgeschichte in eigentümlicher Weise und angesichts unvorstellbarer Zeitdimensionen und Distanzen – die zum Mond beträgt etwa 600 Millionen Kilometer – implizit die Frage nach dem Sinn und Wert von Schuld und Unschuld, Vergessen und Verlangen überhaupt stellt. Tobiasʼ Vater verurteilt die homosexuellen Empfindungen und Handlungen seiner Frau und die Annäherung zweier Menschen unter diesen Vorzeichen als etwas Unnatürliches. Gleichzeitig sieht er die Annäherung des Menschen an den Mond als Meisterstück des Fortschritts an.

Die Mondlandung hat die Menschheit – zumindest die westliche Welt – in einen regelrechten Raumfahrtwahn versetzt, der in Woelks Roman auch als Suche einer Nation nach sich selbst greifbar wird. Gerade in diesem Prozess der nationalen und internationalen Selbstsuche und Standortbestimmung verliert Tobiasʼ Familie den Halt und ihre Orientierung. Als der erste Mensch den Mond betritt, haben die Mitglieder der Familie Ahrens längst den Boden unter den Füßen verloren. Es ist dieser Verlust von Unbeschwertheit und der Selbstmord der Mutter, die den Erzähler dann im letzten Kapitel und aus der Sicht des Jahres 2016 nachdenken, aber nicht urteilen lassen über die Sinnhaftigkeit von Geschichte und die Relativität von Gefühlen und Bindungen.

Titelbild

Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
189 Seiten , 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406734496

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