Doppelt und dreifach gespiegelt

Georges Perec und Harry Mathews treiben in „Roussel und Venedig“ einen literarischen Spaß voller Ernst

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Venedig ist der literarische Sehnsuchtsort par excellence. Selbst Autoren, die Venedig nie besucht haben, sollen da gesichtet worden sein – so beispielsweise der legendäre Raymond Roussel (1877–1933). Wir kennen von ihm den Roman Locus Solus oder die Impressionen aus Afrika. Sein Werk hat nachhaltigen Einfluss auf die beiden Oulipo-Autoren Georges Perec und Harry Mathews gehabt. Wohl auch deshalb wurden sie auf ein bislang unbekanntes Werk Roussels aufmerksam. Verborgen in einem alten Druck aus der venezianischen Werkstatt von Andrea Quarli, der aufs Jahr 1532 datiert ist, sind per Zufall fünf Blätter entdeckt worden, auf denen Raymond Roussel in groben Zügen einen Text, vielleicht ein Theaterstück, skizzierte.

Mit dem interpretatorischen Seziermesser nehmen sich Perec und Mathews dieses unverhofften Fundstücks an, kontextualisieren es akribisch und gelangen schließlich zum Schluss, dass hierbei vieles sehr, sehr unsicher bleiben muss. Doch die beiden wären nicht die Sprachenthusiasten, als die wir sie kennen, wenn sie nicht doch einen Code entdeckt hätten, der die kargen Aufzeichnungen erschließt. Sie erkennen mit verblüffendem Scharfsinn, wie sich in der darin entworfenen „melancholischen Topographie“ Venedigs das Gesamtwerk von Raymond Roussel spiegelt. „Die Umkehrung der räumlichen Gliederungen in den zwei Welten Roussels [also dem Werk und Venedig] fungiert als Schlüssel zu jener topographischen Äquivalenz, deren Emblem Roussels eigenes Monogramm wäre.“

Das klingt umso verblüffender angesichts der Tatsache, dass Roussel nie in Venedig weilte, auch nicht als 18-jähriger Jüngling, wie Perec und Mathews annehmen. Man braucht nicht weit zu suchen, um hinter der stupenden Analyse einen raffinierten Schabernack zu entdecken, der die spielerische Sprachfertigkeit der beiden Autoren zum Leuchten bringt. Ihre Argumentation bedient sich zum einen psychologischer Mittel. Sie zitieren ausgiebig das Werk eines gewissen O. Pferdli, der den Begriff der „Verkörperung“ geprägt habe. Dieses „Phantasma“, heißt es in dem Zitat, betont „die einmalige, ‚objektive‘ Bedeutung von Wörtern und Dingen, und wo immer sie auf metaphorische Objekte trifft, da entmetaphorisiert sie sie auf systematische Weise“. Exakt in solcher Betonung der Worte kommen Perec und Mathews dem Rätsel peu à peu auf die Spur. Allenthalben finden sie (Quasi-)Homophonien, die den Text lautmalerisch demaskieren und ein Licht auf Roussel werfen. Demnach könnte es sein, dass Roussel auf den wiederentdeckten Skizzenblättern eine erotische Konstellation mit einem 16-jährigen Jungen namens Ascanius beschreibt, die unglücklich geendet habe. Im Wort „Venedig“ steckt Venus, die Mutter von Äeneas, demzufolge „Roussel der ‚Bruder Änea‘ (der frère Enèe und der frère aîné, der ältere Brunder) des Ascanius“ hätte sein können. Derlei Argumentationszauber formen die beiden Exegeten auf diesen gut 20 Seiten zu einer ebenso witzigen wie unterschwellig auch ernsthaften Werkbetrachtung. Sie treffen auf frappante Weise das Rousselsche Werk in ihrem Kern: dem ungreifbaren Spiel mit (Doppel-)Bedeutung und Illusion, Verkörperung und Innenschau. Genau dies hatten sie selbst bei diesem „Plagiator durch Vorwegnahme“ gelernt.

Das ausführliche Nachwort von Maximilian Gilleßen lenkt den Blick auf eine zweite Spiegelung. Getreu dem Diktum von Perec aus dem (jüngst wieder erschienenen) Text Das Kunstkabinett: „Jedes Werk ist die Spiegelung eines anderen“, zeigt er auf, wie Mathews und vor allem Perec sich selbst in diesen Text eingebracht haben. Roussel und Venedig ist ein dreifacher Spiegel, der Perec im Werk Roussels in einem Text von Perec und Mathews reflektiert. Es werden Parallelen sichtbar: die Beschäftigung mit der Psychoanalyse oder die Raffinesse der Regelhaftigkeit. Im Sommer 1969 schrieb Perec mit Bezug auf Roussel in den Lettres nouvelles: „Es scheint mir, dass die Wahl eines formalen Zwanges […] eine Befreiung meiner Imagination zur Folge hat, indem sie die gewöhnliche Sorge um Realismus, die den zeitgenössischen Roman fast blockiert, in den Hintergrund treten lässt“.

Wenige Monate vorher war sein Roman La Disparition (Anton Voyls Fortgang) erschienen, der schlagend bezeugt, wie Ironie und Ernst zusammenfallen können. In diesem Buch ohne den Buchstaben „e“ gedenkt Perec an das Fehlen von père und mère Perec, die 1940 an der Kriegsfront (der Vater André) respektive 1942 bei der Deportation (die Mutter Cécile) umgekommen waren. Ihrem Sohn Georges blieb das o-Staunen oder o-Wehklagen über diesen Verlust. Die Initialen von Vater und Mutter sind auch in dieser gewitzten Dechiffrier-Parodie präsent, in der imaginären venezianischen Barockkapelle Santa Caecilia oder im Verleger Andrea Quarli.

Text wie Nachwort fördern zahllose weitere Verbindungen zu Tage, die den schmalen Essay Roussel und Venedig hinterrücks zu einem Schlüsseltext machen – obwohl weder das Werk Roussels noch dasjenige von Georges Perec ein Rätsel darstellt, das mit einem Schlüssel aufzuschließen wäre. Oder wie Perec und Mathews über Roussel schreiben: „einzig unsere Lektüre, unser Durst nach Erklärungen, unsere Lust an Vorder- und Hintergründen erweckt um dieses Werk den Eindruck eines aufzubrechenden Geheimnisses. Wenn es aber ein Geheimnis gibt, dann mit Sicherheit nicht dort, wo wir es suchen.“

Roussel und Venedig – im Original 1977 erschienen und in dieser deutschen Version 1991 aufgelegt – macht Lust, auch die Bücher von Mathews und Perec wieder zu lesen: Mein Leben als CIA beispielsweise oder von Perec Das Leben. Gebrauchsanweisung und W oder Die Kindheitserinnerung. Sie sind in den letzten Jahren in den noch immer maßgeblichen Übersetzungen von Eugen Helmlé oder – wie in diesem Fall hier – von Hanns Grössel neu aufgelegt werden. Ganz im Sinne von Oulipo, der „Werkstatt für literarische Potentialität“, eröffnet Roussel und Venedig auf wundersame Weise die literarische Po(e)tentialität aller namentlich Beteiligten.

Titelbild

Harry Mathews / Georges Perec: Roussel und Venedig. Entwurf zu einer melancholischen Geographie.
Mit einem Nachwort von Maximilian Gilleßen.
Übersetzt aus dem Französischen von Hanns Grössel.
zero sharp, Berlin 2018.
72 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783945421079

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