Ein zerrissenes Buch zwischen Slapstick und Dramatik

Timur Vermes spielt in seinem zweiten Roman „Die Hungrigen und die Satten“ satirisch die Flüchtlingskrise durch

Von Katharina HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

150.000 Menschen verlassen ihr Lager in Afrika und laufen los. Es ist ein organisierter Marsch mit funktionierender Wasser-, Nahrungs-, Strom- und Krankenversorgung, der sich den Weg durch Europa bahnt. Begleitet von zahlreichen Fernsehteams und dem TV-Sternchen Nadeche Hackenbusch legen sie 15 Kilometer pro Tag zurück und kommen damit ihrem Ziel, Deutschland, immer näher.

Diese Versuchsanordnung birgt ein Konfliktpotenzial, das von Timur Vermes in seinem zweiten Roman Die Hungrigen und die Satten beleuchtet wird. Bereits mit seinem Debüt, der Hitler-Satire Er ist wieder da, verhandelte er 2012 ein polarisierendes Thema, dem der Skandal-Stempel schon vorab aufgedrückt wurde. Auch der Folgeroman reagiert auf aktuelle (welt)politische Debatten, denn es geht um wachsenden Rechtsdruck, Schießbefehle und Mauerbau an Landesgrenzen. Vermes spielt, inspiriert von der Flüchtlingskrise 2015, in einer dystopischen Satire mit realistischen Mitteln den Ernstfall durch. Wie würde eine solche Masse an Menschen auf dem Weg durch Europa versorgt werden? Wie würde Berlin reagieren?

In 59 schlanken Kapiteln, insgesamt jedoch auf stolzen 509 Seiten, wird das Geschehen abwechselnd von mehr oder weniger involvierten Figuren gedankenstromartig begleitet. Neben Trash-Promi Nadeche Hackenbusch und Klatschreporterin Astrid von Roëll kommentieren auch Innenminister Josef Leubl und Fernsehproduzent Joachim Sensenbrink (dessen Auftreten übrigens ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass beide Romane von Vermes in derselben erzählten Welt lokalisiert sind, denn auch in Er ist wieder da spielt Sensenbrink eine tragende Rolle) die Vorkommnisse. Die beiden wichtigsten Figuren bleiben jedoch namenlos. Sie sind bloß „der Staatssekretär“ und „der Flüchtling“. Damit ist bereits ein entscheidendes Stilmittel des Romans und gleichzeitig eine seiner größten Schwächen benannt. Die Charaktere sind schematisch angelegte Schablonen (der skrupellose, karrierefixierte Produzent, die naiv-dümmliche Reporterin und so weiter) und letztlich völlig austauschbar. Sie werden programmatisch auf ihre Rollen reduziert, was aufgrund ihrer Namenlosigkeit bei den beiden genannten Beispielen am sinnfälligsten wird.

Natürlich ist dieser Effekt gewollt, er zündet jedoch nur bedingt. Die Figuren bleiben zwar zumeist flach, werden gleichzeitig aber immer wieder grotesk überzeichnet. Am deutlichsten wird das im Fall von Nadeche Hackenbusch, die sich über ganze Kapitel hinweg in übertrieben schlechtem Englisch – also Sätzen wie „This must others go“ oder „I am so up one hundred eighty“ – verständigt. Was als sparsam eingesetzte Schrulligkeit womöglich hätte funktionieren und Hackenbuschs Charakter ansatzweise Struktur verleihen können, wird hier überstrapaziert. Umso unglaubwürdiger gestaltet sich die zweite Hälfte des Romans, der ab der Mitte zunehmend auseinander bricht: Das TV-Sternchen wird von der arroganten, fremdsprachlich unbeholfenen und ziemlich hohlen Diva („Ich komme ja aus kleinen Behältnissen“, „Bis jetzt ist es ja nur vorbeugend. Pyrolaktisch“) plötzlich zur maximal dramatisch inszenierten Märtyrerin mit Löwenmutter-Instinkt. Generell ändert sich neben der Charakterzeichnung auch die gesamte Struktur des Textes. Dieser Wechsel erfolgt derart überraschend, dass man, je näher die unvermeidliche und ausreichend vorbereitete Grenz-Katastrophe rückt, meinen könnte, ein völlig anderes Buch zu lesen.

In der ersten Hälfte entwickelt sich die Handlung genauso langsam, wie sich der Flüchtlingszug zu Fuß fortbewegt. Diese Analogie zwischen Aufbau und Handlung ist zwar gut durchdacht, führt aber gerade in Kombination mit der gedankenstromartigen Erzählweise zu einigen langatmigen Plauderpassagen. Der Leser wird bewusst auf Distanz gehalten und erfährt meist nur indirekt, was genau eigentlich bei dem Marsch passiert. Beispielsweise durch die immer wieder eingestreuten Zeitschriftenartikel Astrid von Roëlls, die nicht nur die Struktur auflockern, sondern tatsächlich als kluge Überspitzung die Oberflächlichkeit der Regenbogenpresse vor Augen führen.

Die zweite Hälfte hingegen reißt den Leser zum Ende hin immer stärker ins Geschehen hinein. Es wird schnell und nahezu atemlos erzählt und mit detailgenauer Ausführlichkeit der dramatische Höhepunkt geschildert. Ein Hauch dieser Kurzweiligkeit hätte in sorgsamer Dosierung dem ersten Teil des Buchs ebenfalls gut getan. Dieser extreme Bruch verhindert, dass die Satire durchgängig als solche funktionieren kann.

Zwar stellt Vermes einige sehr treffsichere und gesellschaftskritische Beobachtungen zum aktuellen Zeitgeist an, etwa wenn „der Flüchtling“ seine eigene mediale Selbstinszenierung reflektiert („Er entschloss sich für das Modell Boateng, nicht Kevin-Prince, sondern sein Bruder, der immer ruhiger, kontrollierter gewesen ist, einer, bei dem die Deutschen sich keine Sorgen machten, obwohl er schwarz ist, der sogar bei ihnen Weltmeister werden durfte“). Auch bietet er einige zugespitzte Innensichten aus dem Polit- und Medienbetrieb, irgendwo zwischen sexistischem Locker-Room-Talk und skrupellos menschenverachtendem Inszenierungszirkus. Diese gelegentlich aufleuchtenden Passagen, die mit kompromisslosen, bösen Sätzen wie „Flüchtlinge ziehen Plüschtiertouristen an wie ein toter Fisch die Katzen“ punkten können, reichen jedoch kaum aus, um die Geschichte über die geschwätzige und dennoch größtenteils substanzlose erste Hälfte zu retten.

Das parallel veröffentlichte Hörbuch, das als „bearbeitete Fassung“ gekennzeichnet ist, bricht noch weiter auseinander. Bei der Bearbeitung sind mehrere wichtige Passagen gestrichen worden, deren Fehlen den ohnehin blassen Figuren zusätzlich Kontextualisierung und Tiefe rauben. Auch einige der unterhaltsamsten, weil am griffigsten formulierten, Beobachtungen zu den medialen und politischen Strippenziehern im Hintergrund gehen damit verloren.

Eingelesen wurde Die Hungrigen und die Satten wie der Vorgängerroman von Schauspieler Christoph Maria Herbst, der mit angenehmer Stimme und abwechslungsreicher Betonung liest, dabei aber dankenswerterweise nie zu komödiantischen Zwecken ins übertrieben Verzerrte abdriftet.

Die Möglichkeit dazu hätte die Vorlage ohnehin hauptsächlich zu Beginn hergegeben. Denn zusammengefasst handelt es sich um einen Roman, der aktuelle Themen behandelt und mit den Mitteln der Satire zu kritisieren versucht. Manchmal gelingt das mit präzisem Fingerspitzengefühl. Öfter jedoch ergeht sich der Text zu diesem Zweck in einem weitgehend ungerichteten Wortschwall, der zunächst auf plumpe Lacher beim Publikum und schließlich auf die Eskalation am Ende hin ausgerichtet ist. Unter dieser zweischneidigen Zielsetzung leiden die Figurenzeichnung ebenso wie die homogene Ausgestaltung der Erzählstruktur und damit das satirische Potenzial.

Titelbild

Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten. Roman.
Eichborn Verlag, Köln 2018.
509 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783847906605

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Titelbild

Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten.
Gelesen von Christoph Maria Herbst.
Lübbe Audio, Köln 2018.
8 CDs, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783785758007

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