„Ecce Deus – Ecce Homo“ oder von der Unumgänglichkeit des Fliegens

Dmitri Mereschkowski offenbart die Visionen des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leonardo da Vinci, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 500. Mal jährt, konstruierte bekanntlich Fluggeräte. Er studierte dazu intensiv den Flug der Vögel, skizzierte, plante, notierte, zeichnete, experimentierte. Der Flugversuch selbst misslang kläglich – sein Schüler Tommaso Masini brach sich dabei ein Bein und die Rippen. Der Traum vom Fliegen war gescheitert. Auch als Künstler schien Leonardo gescheitert zu sein: Mehrere Projekte dieses notorisch langsamen Künstlers blieben unvollendet, der Dienst für mehrere Herrscher hatte sich nicht ausgezahlt, Leonardo stand vor dem finanziellen Ruin. Jahrelange Rivalitäten mit Michelangelo und die ewige Gefahr seitens der Inquisition hatten seine Kräfte erschöpft. Am Ende seines Lebens – alt und gebrochen – musste er Italien für immer verlassen und nach Frankreich gehen. Die letzte Reise eines gescheiterten Genies, die wohl keiner bisher besser wiedergegeben hat als der russische Schriftsteller Dmitri Mereschkowski:

Der Meister blickte nach jener Seite, wohin Francesco wies, dahin, wo die Heimat lag – aber sein Antlitz blieb teilnahmslos. Stumm wandte er sich ab und schritt weiter, dorthin, wo der ewige Schnee und die Gletscher des Mont Thabor, Mont Cenis und der Roccia Melone schimmerten. Ohne Müdigkeit zu spüren, ging er jetzt so rasch, dass Francesco, der unten am Rand des Abgrunds noch von Italien Abschied genommen hatte, weit zurückblieb. „Wohin? Wohin, Meister?“, rief er ihm von Weitem nach. „Seht Ihr nicht – der Pfad ist zu Ende! Es geht nicht höher. Da ist der Abgrund. Vorsicht!“ Aber Leonardo hörte nicht auf ihn und stieg mit festen, jugendlich leichten, wie beflügelten Schritten an schwindenden Abgründen vorbei, immer höher und höher.

Mereschkowski setzte dieses grandiose Panoramabild über den Scheideweg zwischen alter und neuer Existenz, zwischen Leben und Tod, zwischen Niederlage und Erfolg, zwischen Abgrund und Höhenflug an das Ende seines monumentalen, 1901 veröffentlichten Romans über Leonardo. Der Roman erschien zunächst in der Zeitschrift Mir Bozhij (Gottes Welt) unter dem Titel Die auferstandenen Götter. Leonardo da Vinci und hatte sowohl in Russland als auch in Westeuropa enorme Wirkung – es genügt hier darauf zu verweisen, dass er Sigmund Freud wenige Jahre später zu seiner Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) inspirierte. Thomas Mann schwärmte ebenfalls für den Russen Mereschkowski als „den genialsten Kritiker und Weltpsychologe seit Nietzsche“ und ließ sich von ihm anregen. Herbert Trench, ein damaliger Rezensent, schrieb 1901: „Dmitri Mereschkowski is perhaps the most interesting and powerful of the younger Russian novelists, the only writer that promises to carry on the work of Tolstoi, Turgenev and Dostoievski.“ Leonardo da Vinci erschien auf Deutsch zuerst 1903 und ist der zweite Teil von Mereschkowskis Trilogie Christ und Antichrist. Dieser Teil folgte auf den Roman Julian Apostata (1895). Als dritter Teil der Trilogie sollte im Jahre 1905 Peter und Alexej erscheinen. Wer sich beim Titel Christ und Antichrist an Nietzsche erinnert fühlt, täuscht sich nicht: Mereschkowskis gesamtes Werk weist deutliche Spuren einer intensiven Nietzsche-Rezeption auf.

Leonardo da Vinci ist ein Roman, in dem Dmitri Mereschkowski, unter anderem mit Hilfe authentischer Zitate aus Leonardos Tagebüchern, ein fein ziseliertes Porträt des Universalgenies Leonardo erschafft – mit seiner Sanftheit, mit seinem Interesse für die Natur, mit dem klaren, ruhigen Blick des Renaissancemenschen. Der Blick auf Leonardo ist multiperspektivisch, denn er wird nicht nur vom Erzähler, sondern auch von weiteren Romanfiguren wie den Leonardo-Schülern Giovanni Beltraffio, Zoroastro da Peretola (alias Tommaso Masini) und Francesco Melzi geboten. Gelegentlich wird uns außerdem die Sicht von Bürgern, Herrschern oder Vertretern der Inquisition präsentiert. Kennenlernen wird man Leonardo nicht zuletzt aus seinen Kontakten und Gesprächen mit illustren Zeitgenossen wie Girolamo Savonarola, Niccolò Machiavelli, Cesare Borgia oder Ludovico Sforza (Il Moro) – lauter Figuren, die Mereschkowski in seinem Roman mit großer Leuchtkraft aufleben lässt. Leonardo da Vinci ist also historischer Roman im besten Sinne des Wortes und Künstlerbiografie in einem. Breiter kann man sich das zeitgeschichtliche Panorama kaum vorstellen; man kann hier ruhig und mit Verweis auf das enorme sprachlich-poetische Können des Schriftstellers Mereschkowski von einem äußerst imposanten Zeitgemälde sprechen.

Mereschkowski bleibt bei der europäischen Renaissance jedoch nicht stehen. Der breit angelegte Roman, der alle oben genannten Leistungen erbringt, veranschaulicht an Leonardo die weltanschaulichen Bestrebungen, Irrwege und Kämpfe nicht nur von dessen, sondern auch von Mereschkowskis eigener Zeit und nimmt als Leitmotiv das menschliche Dilemma zwischen Abgrund und Höhenflug, zwischen Christ und Antichrist, zwischen „Gottmensch“ und „Menschgott“ ins Visier. Der nietzscheanische Spagat zwischen Tier und Mensch verwandelt sich hier in einen Flug, der in weitere Höhen fortgesetzt wird. Leonardo wird zum Träger und Demonstrationsobjekt dieser Ideen erhoben – ohne auf die realistische Zeichnung dieser Figur ganz zu verzichten. Leonardo, der die Natur unentwegt beobachtet und alles misst, ist widersprüchlich und soll auch rätselhaft bleiben, seine Dämonie wird nicht aufgelöst. Dies liegt unter anderem an Mereschkowskis tiefer Überzeugung, dass die Wissenschaft weder die Welträtsel lösen noch das Wesen des Menschen ergründen kann. Leonardo wird von der Inquisition und auch vom Volk nicht selten als „Vorläufer des Antichrist“ bezeichnet, und nicht zufällig fürchtet sich sein frommer Schüler Giovanni Beltraffio vor ihm. Der große Florentiner schafft es aber auch, der menschlichen Erkenntnis das Geheimnis der Liebe einzuhauchen. Dennoch scheitert er als Forscher. Der gescheiterte Wissenschaftler Leonardo ist eine tragische Figur: „Denn auch in der Wissenschaft hatte er nur flügellose Wünsche gehegt, hatte immer nur angefangen, aber nie etwas vollendet; er hatte nichts geleistet und würde auch nichts mehr leisten, als wolle ihn ein höhnisches Geschick für die Maßlosigkeit seiner Wünsche durch die Nichtigkeit seiner Taten bestrafen“. Tiefste Pein, beinahe ein Entsetzen durchziehen Leonardo, der mit seiner Klage in die Nähe von Jesus gerückt wird: „Eli, Eli, lama asabthani“? („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“)

Die Suche nach der wunderbaren göttlichen Gerechtigkeit des „Ersten Bewegers alles Bewegten“ und das „strebende Fliegen“ hören damit jedoch nicht auf. Die von Leonardo vor dem Erfrieren gerettete, gezähmte und nach seinem Tod in die Freiheit hinausstürmende Schwalbe wird zum Symbol dieses neuen Flugs. Ermöglicht und vollendet wird im Buch der neue Flug durch die Einführung einer ganz neuen Linie am Ende des Romans. Der im Rahmen einer russischen Gesandtschaft nach Frankreich zu Leonardos Dienstherrn gekommene Ikonenmaler Jewtichij Paisejewitsch Gagara, dem es vergönnt ist, Leonardo noch kurz vor dessen Tod kennenzulernen, wird Leonardos Bild des zum Himmel weisenden, aber flügellosen Johannes des Täufers in das Bild des geflügelten Menschen verwandeln, jenes Menschen, der „ungreifbar“ wie ein Geist und „frei, geflügelt“ wie Gott selbst ist. Wie Christ und Antichrist verschmelzen der Flügellose und der Geflügelte, Mensch und Gott und die Welt wird neu beseelt: „Ein Sonnenstrahl drang durch das Fenster in Jewtichijs Werkstatt und fiel auf das Bild Johannes des Täufers, des Vorläufers, und die vergoldeten Flügel, innen rotgolden wie eine Flamme, außen weiß wie Schnee, wie Flügel eines Riesenschwans im blauen Himmel über die gelbe Erde und den schwarzen Ozean ausgebreitet, schimmerten und funkelten plötzlich im Purpur der Sonne, wie von übernatürlichem Leben beseelt.“ Die Vollendung und Erneuerung allerdings werden nicht mehr in Westeuropa, sondern im „dritten Rom“, im „wahren Jerusalem“ – und das heißt „im russischen Lande“ – erfolgen. Dort wird „die Gnade des Heiligen Geistes strahlen“. Mereschkowski verwebt auf den letzten Seiten seines Romans Sagen, Legenden, Visionen und Prophezeiungen mit Leonardo da Vinci, dem „Erfinder der menschlichen Flügel“, um seiner eigenen Vision von der Erneuerung des menschlichen Geistes im Zeichen eines neuen Glaubens Ausdruck zu verleihen.

Leonardo da Vinci amalgamiert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wie Mereschkowski selbst sagte, suchte er in der Vergangenheit die Zukunft. Der Roman ist antiwestlich, antirationalistisch, latent antijüdisch, antirepublikanisch und antidemokratisch-elitär (erinnert sei in Zusammenhang mit dem im Roman häufig ertönenden „Geheul des Pöbels“ auch an Mereschkowskis Schrift Der Aufmarsch des Pöbels sowie an die begeisterte Rezeption seiner Schriften durch einige Vertreter der deutschen Konservativen Revolution, zum Beispiel Moeller van den Bruck). Zudem ist der Roman immer mehr und immer stärker mystisch, prophetisch und vor allem zutiefst russisch. Dies gilt ebenfalls für den Schreibstil, der immer suggestiver, dichter, eindringlicher, mystischer wird. Um den Trümmern der Vergangenheit und der Gegenwart, um dem Scheitern der menschlichen Flugversuche zu entkommen, genügen Mereschkowski weder die Rückkehr zur Antike noch die Verheißungen der modernen Wissenschaft. Dem strebenden Menschen an der Schwelle zwischen zwei Epochen ist das überlieferte Christentum ebenfalls ein Klotz am Bein – unfähig, den „Abgrund des Geistes“ mit dem „Abgrund des Körpers“ zu einem Höhenflug zu vereinen. Der historische, genauer gesagt der historiosophische Roman zeichnet das Drama in der Seele, die spirituelle Suche, die Aporien des modernen Menschen, aus denen Geschichte entsteht, mit erstaunlicher Intensität nach, verbindet Wissenschafts-, Kunst-, Mythos- und Christentumskritik, verlötet Göttliches und Dämonisch-Diabolisches, deutet, wertet um. Mereschkowskis Leonardo (für Freud ein Sublimierer ersten Grades) ist ein Umwerter alter Werte und ein „Vorläufer“. Sein Lebenstraum ist, dass der Mensch „alle Hindernisse und irdischen Schranken, jede Schwere“ besiegt und so wird „wie die Götter“. Pünktlich zum Glockenschlag des 20. Jahrhunderts führt der russische Schriftsteller und leidenschaftlicher Begründer der Religiös-Philosophischen Versammlung (1901) Dmitri Mereschkowski seinen Zeitgenossen das Sterben der alten Götter vor Augen, um eine neue, religiös fundierte, russisch geprägte Renaissance – die Religion der vom Heiligen Geist durchdrungenen Synthese von Gott und Menschheit – einzuläuten.

Titelbild

Dmitri Mereschkowski: Leonardo da Vinci. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Erich Boehme.
Unionsverlag, Zürich 2019.
701 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783293208353

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