Was vom Literaturbetrieb übrig bleibt

„Kudos“ – der letzte Band von Rachel Cusks Romantrilogie

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Outline (2014, deutsch 2016) und Transit (2016, deutsch 2017) schickt die in Kanada geborene, in den USA und England aufgewachsene britische Autorin Rachel Cusk im letzten Teil ihrer Trilogie die Protagonistin Faye mitten ins pulsierende Zentrum des Literaturbetriebs. Schriftstellerin Faye ist zu zwei großen, internationalen Literaturevents eingeladen. Auch wenn die Veranstaltungstitel nicht genannt werden, so dürfte es sich im ersten Fall um die LitCologne handeln. Schließlich nächtigt die Autorin in einem markanten Wasserturmhotel, wie es singulär in Köln steht. Die zweite Veranstaltung lässt sich nahe Lissabon lokalisieren; verräterisch sind nicht zuletzt die Nonnentörtchen, die als landestypische Leckerei empfohlen werden. Cusk schreibt also vor einer literaturgeschichtlichen Folie Westeuropas, von Großbritannien, wo Faye zuhause ist, über Deutschland hin nach Portugal.

Kudos ist eine Erzählung voller Erzählungen. Die alleinerziehende Schriftstellerin Faye kommt eingangs auf einem Kurzstreckenflug neben einem Mann zu sitzen, ein Gespräch entspinnt sich. Der Namenlose berichtet von seiner literaturliebenden Ehefrau, seiner schwierigen Familiensituation, seinem Hund. Die Aufmerksamkeit ist ganz auf den Fremden gerichtet, was sich im Wechsel hin zur personalen Erzählperspektive manifestiert. Dezent bleibt die Ich-Erzählerin präsent, indem sie sich am Gesprächsgeschehen beteiligt, gelegentlich Einwürfe macht, Fragen stellt. Auf den ersten Seiten des Buchs präsentiert Rachel Cusk dem Leser eine erste Lebensbeichte. Sie zeigt einen Menschen, der bereitwillig erzählt, aber viel mehr über die Tragik seiner Existenz preisgibt, als ihm selbst bewusst ist. Der Einstieg in Kudos ist stark. Viele weitere zufällige Treffen Fayes mit Menschen der literarischen Welt führen zu ähnlich unbeabsichtigten Selbstoffenbarungen. Doch die Wucht der ersten Begegnung erreicht später nur die Episode, in der Fayes Übersetzerin gegen Ende des Buchs davon erzählt, mit welch perfiden Strategien ihr Ex-Mann Macht über sie und die gemeinsame Tochter ausübt.

Kudos ist ein Buch voller Begegnungen mit Literaturmenschen: Festivalveranstalter, Assistenten, Journalisten, Verleger. Flüchtig bekannte, oft fremde Menschen nutzen die vermeintlich günstige Gelegenheit, ihre Geschichte an die Frau zu bringen. Faye lässt eine Atmosphäre entstehen, in die hinein sich ihre Gesprächspartner nur zu bereitwillig mitteilen. Sie begehrt nicht gegen die ihr aufgezwungene Kommunikation auf, im Gegenteil: Durch ihr Zuhören ermutigt sie die anderen, fortzufahren. Faye erweist sich als perfekte Projektionsfläche. Sie reflektiert die Akteure der literarischen Szene. Der Spiegel zeigt eine Welt, die von Selbsttäuschung, Selbstzweifel und Selbstüberhöhung erfüllt ist. Der aufoktroyierte Zwang zu Originalität wird konterkariert durch das Streben nach Marktgängigkeit und Profit. Daran, dass das System von Männern geformt und bestimmt wird, besteht kein Zweifel. Cusks Blick auf den Literaturbetrieb ist denkbar deprimierend. Die Festivals, die Faye besucht, sollen eigentlich der Literatur dienen. Tatsächlich tummeln sich auf diesen Schauplätzen aber Figuren, die sich nur marginal um die Kunst scheren. Stattdessen buhlen sie um Aufmerksamkeit und Auszeichnungen. Cusk porträtiert eine männlich geprägte Welt von Egomanen und rechnet schonungslos mit ihr ab. Hier steht niemandem Kudos – also Ruhm oder Ehre – zu.

Die Mosaiksteinchen der Erzählung bilden knappe Ortsbeschreibungen, scharfe Personenporträts und entlarvende Gespräche. Zu sehen ist Westeuropa, jene literarische Kernregion der Welt, in der Schreiben und Lesen auf eine viele Jahrhunderte alte Tradition blickt. Doch die Lebendigkeit der dargestellten, zeitgenössischen Literaturszene, mit einer unüberschaubaren Fülle an Veranstaltungen sowie zahllosen – namhaften und namenlosen – Autor*innen und ebenso zahllosen – verständigen wie begriffsstutzigen – Leser*innen, erweist sich als eine bloß vermeintliche Lebendigkeit.

Die Romanstruktur entsteht aus der Reise Fayes, die sie mit verschiedensten Menschen zusammenführt. Eine echte Story entsteht nicht. Beredt rücken sich die Figuren in den Mittelpunkt, doch ihr Reden wird nicht selten zu ermüdendem Gerede. Theoriegeschwängerte Lebensbetrachtungen, psychologisierende Schicksalserklärungen und intellektueller Zynismus machen die Lektüre bisweilen zäh. Dem entgegen wirkt der unbändige künstlerische Formwille der Autorin. Ästhetischer Genuss entsteht angesichts einer bemerkenswerten stilistischen Gestaltung. Cusks dominantes Mittel ist der Konjunktiv, die indirekte Wiedergabe der Rede eines anderen. Das konjunktivische Erzählen unterstreicht die Distanz zwischen der Ich-Erzählerin und jenen Personen, deren Geschichten sie wiedergibt. Egal, ob es um erschütternde Erfahrungen oder um tiefschürfende Gedankengänge geht – die Form hebt das Moment der Abgrenzung hervor. So betont der Modus der Sprache permanent und penetrant: Echte menschliche Begegnung findet in der dargestellten Literaturszene selten statt. Das nicht zu unterschätzende Verdienst der Übersetzerin Eva Bonné ist es, dieses literarische Erzählmittel Cusks mit großer Leichtigkeit und Präzision ins Deutsche übertragen zu haben.

Cusk betont das Moment der Selbstinszenierung im literarischen Betrieb. Die Akteure hier muten an wie groteske Abziehbilder, untauglich, angesichts der Zumutungen des realen Lebens wirklich menschliche Nähe zuzulassen. Bevölkert werden die Schauplätze von Frauen, die als grazile, schwermütige, ausgezehrte Kunstwesen erscheinen, und von blutleeren, selbstgefälligen, pseudo-intellektuellen Männern, die sich dem Leben verweigern. Der westeuropäische Literaturkosmos ermöglicht ihnen die Existenz in einer Art bedeutungsloser Parallelgesellschaft. Die Szene scheint völlig entkräftet, ebenso ausgezehrt wie einige der Figuren, die Cusk vorüberziehen lässt. Das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein der Literaten wird entlarvt als Selbsttäuschung.

Faye ist Teil des Betriebs und zugleich deren abgerückte Beobachterin. Während die Geschichten der Anderen den gesamten Erzählraum einnehmen, tritt Faye als Person bloß in den Fugen dazwischen auf. Hier wird sie sichtbar als Schriftstellerin, die weder bereit ist, ihre Texte noch sich selbst zu erklären; als besorgte Mutter, die aber für ihre Kinder nicht immer verfügbar sein will; als sensible Dichterin mit ausgeprägtem Realitätssinn und literaturhistorischem Bewusstsein. Der Zweck von Fayes Protokollen ist es, erkennen zu können, wovon es sich zu distanzieren gilt. Wer hinhört, nimmt in Kudos ein tiefes Seufzen wahr.

Außerhalb der beklagenswert männlich dominierten Literatur-Blase scheinen Geschichten auf, die wirklich anrühren können. So verkommen der Betrieb auch sein mag, so kraftvoll bleibt die Literatur selbst. Das ewig mächtige Meer wird dafür zum wunderbaren Sinnbild.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rachel Cusk: Kudos. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
215 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428078

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch