Wie man den alltäglichen Terror erzählt

Fernando Aramburus Roman „Langsame Jahre“ ist Werkstattbericht, Erzählexperiment und vor allem ein beklemmendes Kammerspiel über die späte Franco-Zeit

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2011 wurde Carles Puigdemont Bürgermeister von Girona und setzte sich später als Abgeordneter des katalanischen Regionalparlamentes und seit 2016 als Präsident der katalanischen Autonomieregierung bis zu seiner unrühmlichen Absetzung im Oktober 2017 für die Unabhängigkeit Kataloniens ein. Zur selben Zeit, als Puigdemonts politische Karriere begann, nämlich bereits 2012, erschien im spanischen Original der nun auch ins Deutsche übertragene Roman Langsame Jahre von Fernando Aramburu, den man in mancherlei Hinsicht als Vorarbeit oder auch Werkstattbericht zu dessen im letzten Jahr erschienenen, international gefeierten monumentalen Familienroman Patria lesen kann. Und auch in diesem ging es um die durch einzelne Familien oder Dorfgesellschaften gehenden Risse, verursacht durch unterschiedliche Vorstellungen davon, für welches Spanien man sich jenseits der Franco-Diktatur und mit der Perspektive eines starken regionalen (baskischen) Bewusstseins in den 1960er Jahren einsetzen wollte. Man muss sich diese Zusammenhänge klar machen, um zu verdeutlichen, dass es Aramburu natürlich in erster Linie um eine erzählerisch-experimentelle Chronik und Aufarbeitung der späten 1960er Jahre im Baskenland und dessen durch die 1959 gegründete Untergrundbewegung ETA teilweise mit Gewalt vorangetriebenes politisches Ziel eines autonomen Baskenlandes geht. Gleichzeitig hat Aramburu aber nicht nur einen Zeitroman über die jüngere spanische Vergangenheit geschrieben, sondern im Blick auf Unabhängigkeitsbestrebungen der ETA-Jahre mit ihren zermürbend-zerstörerischen Auswirkungen auf Familien und Gesellschaft auch die Gegenwart des 21. Jahrhunderts bespiegelt.

Der Titel des Romans verdichtet jene Zeit indessen nicht als gemächliche, langsame Jahre, sondern im Spanischen Original bietet „lentos“ die Möglichkeit, die Jahre auch als träge, schwerfällig zu charakterisieren. Man kann sich diese bleierne Zeit der späten Franco-Diktatur kaum mehr vorstellen. Nicht die quälenden Angstzustände, den täglichen emotionalen Druck und auch nicht die politisch bedingten Zerwürfnisse, die ihre Spuren teilweise bis heute in den betroffenen Familien hinterlassen haben. Der Zeitraum, den die Erzählung des Ich-Erzählers, der sich als Autor und „Herr Aramburu“ vorstellt und etwa die Hälfte der Kapitel erzählt, umfasst nur wenige Monate, entwirft aber ein ganzes Sitten- und Gesellschaftsbild einer im Ausnahmezustand befindlichen Region, der dann Anfang 1969 von der Provinz Guipúzcoa auf ganz Spanien ausstrahlte und auch das gesamte Land erfasste. Im Jahr 1968 kommt der damals achtjährige Ich-Erzähler wegen der materiellen Not seiner eigenen Familie – in der er der jüngste von neun Brüdern ist – zur Tante María del Puy Aranzábal, kurz Maripuy, nach San Sebastián und schildert seine Erlebnisse mit dem Cousin Julen und der lebenslustigen, sinnlich-sexuell unersättlichen Cousine Mari Nieves. Julen ist ein glühender baskischer Patriot und bildet mit seinen Verstrickungen in Aktionen der ETA auch den politisch-historischen Kern des Textes. Obwohl noch so jung, wird dem Protagonisten rasch klar, dass in der Dorfgemeinschaft „jeden die eigene Verbitterung hatte verstummen lassen.“

Die Namensidentität des Ich-Erzählers mit dem Autor Aramburu, die Ähnlichkeit ihrer Lebenswege und die Kenntnisse des späteren Romans Patria könnten dazu verleiten, den autobiografischen Elementen in Langsame Jahre zu viel Gewicht beizumessen. Denn in erster Linie ist dieser Text ein virtuoses Erzählexperiment, ein Roman über die Entstehung von Romanen gerade als Kunstwerke, die sich aus Fiktion und Realität zusammensetzen und deren künstlerischer Anspruch gleichzeitig auch ihr historiografischer Mehrwert jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung ist. Werden die Kapitel des Ich-Erzählers zwar rückblickend, aber doch weitgehend mit dem Wissens- und Erfahrungshorizont des erlebenden Aramburu erzählt, so bieten die quantitativ gleichwertig vertretenen „Notate“ einen Reflexionsraum über das Erzählen selbst, über die Konstruktion von Geschichte und Geschichten, über das Entstehen von Romanen. Sie ergänzen das zuvor Erzählte um jene Themen, Andeutungen und Einfälle, die in den Kapiteln des Ich-Erzählers nicht vorkommen und ergänzen die dargestellten Familienverhältnisse und politischen Rahmenbedingungen um jene Wissens- und Deutungsperspektiven, die dem heutigen Autor Aramburu zur Verfügung stehen.

Das Ganze ist allerdings nicht als Selbstzweck oder Verlegenheitslösung konzipiert, sondern sprachlich – zumal in der glänzenden Übersetzung von Willi Zurbrüggen – von einem geradezu poetisch-lakonischen Duktus bestimmt, der nachdenklich und zutiefst betroffen macht. Gerade mit der Verbindung von Erzählung und Notaten, von fiktionalem Berichten und Offenlegung der Konstruktion stellt sich Aramburu – mehr vielleicht als in Patria – in die Tradition südamerikanischer Literatur des 20. Jahrhunderts. Entstanden ist ein bedrückendes Kammerspiel mit wenig Handlung und wenigen Figuren, das aber ein ganzes Panorama spanischer Geschichte heraufbeschwört; ein radikales Erinnerungsbuch, dessen Gegenwartsbezüge dem Leser nicht diktiert werden, sondern von ihm selbst erkannt werden müssen.

Titelbild

Fernando Aramburu: Langsame Jahre. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001049

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