Vom Wunsch, die Zeit abzuknallen und auf der Wiese zu verbuddeln

In seinem Roman „Etwas von der Größe des Universums“ begleitet Jón Kalman Stefánsson seinen Nichtprotagonisten auf dem Weg zu dessen sterbenden Vater – und durch das Leben von vier Generationen

Von Annika BaumgartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Baumgart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt mit einem Sonnenaufgang in Keflavík. Was sich danach entfaltet, ist die Lebens- und Familiengeschichte von Ari Jakobsson; eine Reise durch die Zeit und eine Collage von Momenten, die die Leben seiner Vorfahren verändert haben. Tod und Liebe spielen hierbei selbstverständlich eine Rolle, ebenso wie Krankheit und Alter, Einsamkeit und Monotonie, der Winter und natürlich die Fischerei – schließlich wäre es kein isländischer Roman, wenn niemand in den kalten Tiefen des Atlantiks ertränke.

Der 1963 in der Hauptstadt Reykjavík geborene Autor Jón Kalman Stefánsson hat den Roman im Original bereits 2015 unter dem Titelzusatz „ættersaga“ (isl. „eine Familiensaga“) veröffentlicht. Wie seine anderen Romane hat Karl-Ludwig Wetzig auch dieses Buch ins Deutsche übersetzt und dabei den Zusatz entfernt.

Nichtsdestotrotz bleibt der Roman im Grunde genau das: eine Familiensaga. Sofern man von einer Rahmenhandlung sprechen möchte, beschränkt sich diese auf den Weg Aris zu seinem Vater Jakob, der im Krankenhaus im Sterben liegt. Doch zwischen diesem über 400 Seiten aufgezogenen Handlungsstrang spinnt der Autor ein nahezu unüberschaubares Netz an Beziehungen, an Leid und Freude, an Vergangenheit und Gegenwart. Mit archäologischer Vorsicht werden Momente aus vier Generationen aufgedeckt; tiefer, alltäglicher Schmerz ebenso wie gut geschützte Familiengeheimnisse, Erinnerungen an Menschen und vermeintlich unbedeutende Szenarien, die ein Leben verändern können. Dass dabei vieles fragmentarisch bleiben muss, leuchtet ein, lässt aber manche Fragen unbeantwortet.

Einige zeitliche Anhaltspunkte als Orientierungshilfen liefert das unaufgeregte Nebeneinanderstellen von historischen Ereignissen und fiktionalem Alltag, wobei erstere häufig nur in wenigen Worten Erwähnung finden. So jedoch gewinnen wir einen tiefen Einblick in einige der Figuren. Ari Jakobsson wird dabei zum Ausgangspunkt einer behutsamen Spurensuche – und sei es nur, weil die Erzählinstanz seit seiner Kindheit sowieso fast durchgängig an seiner Seite gewesen zu sein scheint.

Eher untypisch für einen isländischen Roman verliert sich der Autor nicht in endlos ausschweifenden Beschreibungen der kargen und mystischen Landschaft. Auch der teilweise als herzlos missinterpretierte Pragmatismus, der den Isländern häufig nachgesagt wird, findet sich zwar in vielen Figuren, wird aber nicht übermäßig ausgestellt. So entstehen runde Charaktere, die sich trotz ihrer schieren Menge gut voneinander abheben. Allerdings hätte die Vielzahl der Figuren durchaus mehr Raum für Diversität geboten. So lässt etwa der erst auf der vorletzten Seite scheinbar wie im Nachhinein hinzugefügte Ansatz von queerer Repräsentation zu wünschen übrig.

„Doch der Wind bläst weiterhin, denkt nicht an das Glück, macht sich keine Gedanken über Krebs, Übergewicht, über einen zu kleinen oder zu dünnen Penis oder über Brüste, die immer tiefer und tiefer sacken wie müde Menschen, und erst recht nicht über Ari“, dessen Besuch bei seinem Vater unter all den anderen Geschichten lediglich eine weitere ist. So erinnert Jón Kalman Stefánsson eindrucksvoll und ganz ohne oberlehrerhaften Fingerzeig daran, dass wir alle nur ein kleiner Teil in der „Größe des Universums“ sind.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2019 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2019 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jon Kalman Stefansson: Etwas von der Grösse des Universums. Roman.
Aus den Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Piper Verlag, München 2017.
400 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057950

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