Ein mystisch funkelndes Farbgewoge

Dirk Steinhöfel zeigt bildgewaltig die sprühende, funkelnde Fantasie von Kindern

Von Susanne MarschallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Marschall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie langweilig: Emma, geschniegelt und gespornt für ein Dreiradabenteuer darf mal wieder nicht um die Ecke fahren. „Du fährst nicht um die Ecke. Hörst du?“, sagt die Mama drohend: „Da ist es gefährlich.“ Wie ein Häuflein Elend sitzt Emma gelbbehelmt auf dem Boden neben ihrem knallroten Flitzer und versteht die Welt nicht mehr: „Warum?“ Was kann denn schon hinter der Ecke passieren? Ihre Mutter ist unerbittlich: „Weil ich dich dann nicht mehr sehen kann.“ Emma schaut sie mit ihrem „bösesten Blick“ an, dann machen ihre Füße plötzlich, was sie wollen und treten in die Pedale. Uiii, wie sie rast, schnell und immer schneller durch die lustig herumwirbelnden Herbstblätter – und schon ist sie um die Ecke, mit einem verklärten Lächeln im Gesicht.

Und auf einmal kommt Leben in den trostlosen Steinwüstenpark: Wind tobt ihr entgegen, lässt goldene Blätter um sie herumflattern, durch die Luft tanzen. Dann legen sie sich wie ein leuchtender Teppich auf den grauen Boden und Emma sitzt glückselig mittendrin: Hält ihr Gesicht ins Windesbrausen, genießt mit geschlossenen Augen die Freiheit. Güldener Staub rieselt, Sterne blitzen auf und schneeweiße Federn segeln vom Himmel. Sind sie von den Schattenenten, die auf einmal über die tristen Mauern gleiten?

Dann geht’s weiter um die nächste Ecke: Es ist wie ein Sog, dem sich Emma nicht entziehen kann – auch wenn sie es wollte. Aber das fällt ihr natürlich nicht im Traum ein, wo sie es endlich geschafft hat, auf die lang ersehnte Entdeckungsreise zu gehen. Pferde galoppieren jetzt über die graue Steinwand, dann tollt eine Horde Affen durch ein Dschungelwirrwarr, und zuletzt kreuzt auch noch ein riesiges Segelschiff in sturmgepeitschtem Meer auf. Emma ist erstaunt und verzückt, dann flitzt sie weiter um die nächste Ecke – direkt in ein mystisch funkelndes Farbengewoge…

Dirk Steinhöfel lässt in Nicht um die Ecke seine kleine Protagonistin bildgewaltig fabulieren. Ihre Neugier und Entdeckerfreude in vollen Zügen ausleben. Er zeigt ihre sprühende Fantasie in verschwenderisch schillernden, doppelseitigen Bildern, die wie Stills aus einem fotorealistischen Animationsfilm anmuten. Lässt sie in eine magische, geheimnisvolle Welt fahren, in der die Schattenbilder aus den Mauern treten, wesenhaft werden: Sie staunt über die Kokosnuss zu ihren Füßen und die verschlungenen Lianen, über das Gischt spritzende Meer und die Pferdeäpfel. Einen Wermutstropfen hat das bezaubernde Bilderbuch: Die Rahmenhandlung mit ihrer Mutter, die vor lauter Handy-Guckerei keine Zeit für Emma hat – welch ein Glück, sonst hätte sie das fantastische Abenteuer ja gar nicht erlebt –, ist genauso überflüssig und moralinsauer wie der etwas platte Text, der glücklicherweise sehr sparsam ist. Aber der grandiose Mittelteil macht diese künstlich gewollte Up-to-date-Kritik mehr als wett.

Titelbild

Dirk Steinhöfel: Nicht um die Ecke.
Fischer Sauerländer, Frankfurt a. M. 2018.
48 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783737355315

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