Vergebliche Hoffnungen und aktuelle Einsichten

Ein Gespräch aus dem Jahr 2008 mit Christa und Gerhard Wolf über „Umbrüche und Wendezeiten“

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz am Ende des Gesprächs wird Christa Wolf gefragt, ob sie noch eine Utopie habe. Sie antwortet: „Ach ich weiß nicht, wie viel Emotion dabei ist, wenn ich sage, letztendlich kann die Menschheit […] nicht überleben, wenn sie sich nicht ein Ziel setzt, das heute utopisch erscheint, zum Beispiel den Untergang unserer Zivilisation durch Erderwärmung oder andere Umweltkatastrophen zu verhindern.“ Im Grunde müsse doch die ganze Menschheit ihre Kräfte „darauf konzentrieren und nicht darauf, dass immer mehr produziert wird, noch mehr Autos, noch mehr Kleidung …“. Dass diese Aussage der Autorin aus dem Jahr 2008 zehn Jahre später mehr denn je aktuell sein würde, hätte sie selbst nicht überrascht. Denn die damals 79-Jährige ergänzte sogleich: „Dass wir dieses Ziel jetzt zu einer wünschenswerten Utopie deklarieren, sagt viel aus über die tatsächlichen Chancen seiner Verwirklichung.“

Umbrüche und Wendezeiten heißt der kleine Band, in dem ein Interview mit dem Ehepaar Christa und Gerhard Wolf aus dem Jahr 2008 nun in Druckform vorliegt. Der Filmemacher und Publizist Thomas Grimm hatte damals das Gespräch für seine Produktionsfirma Zeitzeugen TV geführt und hat es nun gemeinsam mit Gerhard Wolf noch einmal aufbereitet. Ursprünglich sollte das Thema des Biografischen im Werk der ostdeutschen Autorin im Mittelpunkt des Treffens stehen, doch wurde das Gespräch bald schon, so heißt es im Vorwort, zu einem „persönlichen Bericht der Autorin über ihre Hoffnungen und Enttäuschungen in der Zeit der Wende“. Und das Vorwort verspricht nicht zu viel.

Christa Wolf, geboren 1929 und aufgewachsen im Nationalsozialismus, hat bis zur Wende und Wiedervereinigung als Autorin in der DDR gelebt und gearbeitet. Der Sozialismus galt ihr nach dem Zweiten Weltkrieg als Hoffnung und Alternative zur Bundesrepublik, die für das Ehepaar Wolf – wie für viele andere ihrer Generation – letztlich den Fortbestand des alten Staatsapparates der NS-Zeit verkörperte. Die enge Bindung an den Sozialismus und den jungen Staat DDR ist dabei vor allem durch den Schock über die Erkenntnis der eigenen Verführbarkeit durch die NS-Ideologie zu erklären. Die Desillusionierung war ein fortwährender und durchaus schmerzhafter Prozess. Auch davon zeugt dieser Interviewband, dessen inhaltliches Zentrum letztlich die aufkeimende Hoffnung Wolfs nach einer echten Erneuerung des Sozialismus im Jahr der friedlichen Revolution 1989 bildet.

„Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“, lautete dann auch einer ihrer zentralen Sätze in ihrer berühmten Rede bei der Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Suchte Christa Wolf als Autorin immer wieder, literarisch die Grenzen des gesellschaftlich Sagbaren zu erweitern, veröffentlichte sie mit Kassandra eine Studie des Niedergangs eines Herrschaftssystems und seiner überholten Strukturen und mit Störfall eine Kritik am blinden technischen Fortschrittsglauben, so fiel ihr in der Zeit des Umbruchs in der DDR plötzlich eine dezidiert politische Rolle zu. Sie arbeitete mit in einer „Kommission zur Aufklärung der polizeilichen Übergriffe zum 40. Jahrestag der DDR in Berlin“, hielt Reden und formulierte Appelle (Für unser Land), und schließlich wurde ihr im Revolutionsjahr 1989 – in einer Zeit, als die Wiedervereinigung noch keine ausgemachte Sache war – sogar das Amt der Staatspräsidentin angetragen. „Das hätte ich nicht gekonnt“, ist ihre lakonische Bilanz im Interview und die Absage an den damaligen CDU-Vorsitzenden der DDR, Lothar de Maizière, erfolgte postwendend: „Wie bitte? Um Gottes willen!“

Lesenswert ist der Band aber nicht nur wegen der historischen Anekdoten, der weitsichtigen Analysen des Ehepaars oder auch der früheren Reden und Texte Wolfs, die jeweils direkt an geeigneter Stelle in den Interviewtext eingeschoben sind. Vielmehr ist die Grundhaltung der Autorin auch in diesem Gespräch wohltuend nachdenklich und selbstkritisch, der Tenor trotz aller Desillusionierung auch des Verlaufs der Wiedervereinigung nie resignativ. Beeindruckend sind dabei vor allem die lebenslangen Bemühungen der Autorin nach Dialog und echten Begegnungen. Wie zum Beispiel in verschiedenen Gesprächskreisen, in denen das Ehepaar jahrzehntelang aktiv war. Christa Wolf selbst traf sich mit ihrem „Weiberkreis“, der aus rund zehn Frauen bestand, ein anderer Gesprächskreis begann mit der Diskussion um das Buch Störfall (1987) und wurde nach der Wiedervereinigung zur Begegnung zwischen Ost und West. „Das waren dann Ost-West gemischt, es war nicht mehr diese Cliquenbildung: nur Ostler – nur Westler. […] [D]arum ging es mir. Das sollte passieren.“ Angesichts der heutigen Diskussionen über ost- und westdeutsche Befindlichkeiten im Jahr 30 nach dem Mauerfall scheint auch dies eine Utopie zu sein, die es zu verfolgen gilt.

Titelbild

Christa Wolf: Umbrüche und Wendezeiten.
Herausgegeben von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
142 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518469620

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