Weder Überwesen noch Ikone

Margaret Atwood erweist sich in „Aus dem Wald hinausfinden“, einem Interview mit Caspar Shaller, als ebenso klug wie sympathisch

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem Überwesen zu begegnen, kann ein beängstigendes oder ein erhebendes, jedenfalls aber ein ganz besonderes Gefühl sein. Caspar Shaller weiß, wie es sich anfühlt, begegnete er doch nicht nur einer Angehörigen dieser seltenen Spezies, sondern durfte sie sogar interviewen. Die Rede ist von Margaret Atwood, die von Shaller zum „Überwesen der kanadischen Literatur“ erklärt wird. Doch sei „dieses Überwesen“ während der im Herbst 2018 geführten Gespräche „auf das handlichere Format einer älteren kanadischen Dame [geschrumpft]“. Tatsächlich gewinnt man bei der Lektüre allerdings vielmehr den Eindruck, dass das vermeintliche Überwesen keineswegs geschrumpft ist, sondern sich immer mehr als eine großartige und überaus sympathische Persönlichkeit erweist, die oft kluge, meist originelle und gelegentlich sehr merkwürdige Gedanken äußert, der man gerne und aus besseren Gründen mit Achtung und Wertschätzung begegnet, als einem angeblichen Überwesen. Dem tut auch keinen Abbruch, dass Atwood hier und da ausgesprochen zweifelhafte Standpunkte vertritt. „Wissenschaft“ hält sie etwa für „ein Werkzeug zur Erforschung und Quantifizierung der physischen Welt“, weshalb sie nur über das sprechen könne, „was gemessen werden kann“. Das ist selbst für die Naturwissenschaften ein allzu enger Wissenschaftsbegriff. Die Geisteswissenschaften wiederum, „hinterfragen vieles – aber wir sollten die Geisteswissenschaften ebenso hinterfragen“. Wenig hält sie etwa von Derridas dekonstruktivem Verfahren. Auch gebe es „natürlich“ eine objektive Wahrheit. Genauer wäre vielleicht zu sagen, dass es objektive Fakten und Sachverhalte gibt, denen intersubjektiv anerkannte Wahrheiten entsprechen können.

Einige ihrer Ansichten sind durchaus erwartbar, viele andere aber überraschend. Und nicht selten finden sich unter ihnen ausgesprochen anregende Gedanken. Außerdem glänzt Atwood gelegentlich mit abseitigem Wissen. So erklärt sie etwa, warum es „sehr nützlich“ ist, „sich mit dem Handlesen auszukennen, wenn man Porträts der Renaissance betrachtet“. Und natürlich weiß sie genau, wie man überlebt, wenn man sich in den Wäldern ihrer kanadischen Heimat verirrt hat. Schließlich legt das Interview sogar eine Vermutung nahe, warum Shaller die Autorin zum Überwesen (v)erklärt, statt etwa zu dem gängigeren Ausdruck Ikone zu greifen. Denn Atwood weist es rigoros zurück, so genannt zu werden. Ob sie es allerdings lieber hört, als Überwesen apostrophiert zu werden, mag dahingestellt sein. Nun, vielleicht schon. Immerhin hat sie nicht nur eine ausgeprägte esoterische Ader, sondern erklärt augenzwinkernd, in Wirklichkeit eine Alien zu sein.

Eine andere Frage bleibt ebenfalls ungeklärt: Wurde das Gespräch möglicherweise auf Deutsch geführt? Jedenfalls ist nirgends ein Hinweis zu finden, dass es übersetzt wurde. Der Text selbst birgt aber immerhin manchen Anhaltspunkt dafür, dass es doch aus dem Englischen übertragen wurde, und zwar nicht immer sonderlich gut. So ist einmal von „Menschen, die sich Feministinnen nennen“, die Rede. Menschen also, nicht Frauen. Zwei verschiedene Wörter zur Unterscheidung zwischen Feministinnen und Feministen besitzt die englische Sprache allerdings nicht, sondern nur das eine geschlechterübergreifende Wort „feminist“. Offensichtlich übersetzte hier jemand, der sich feministisch eingestellte Menschen nur als Frauen vorstellen kann.

Shallers Interviewführung zeigt, dass er mit dem Werk und der Biographie Atwoods bestens vertraut ist. Auch widerspricht er ihr gelegentlich, ohne dass sich dies allerdings je zur Selbstdarstellung auswüchse. Vielmehr bietet er Atwood auf diese Weise Gelegenheit, ihre Haltung zu bestimmten Fragen ausführlich zu darzulegen. So etwa, warum sie ihre in naher Zukunft angesiedelten Werke nicht dem Genre der Science Fiction zurechnen möchte, sondern lieber von Speculative Fiction spricht. Besonders eingehend führt Atwood aus, warum sie sich gegen „das Label feministische Autorin“ wehrt. Kurz gesagt, ist ihr der Umfang des Begriffs Feminismus zu groß und sein Inhalt eben darum zu klein.

Die alte Frage, ob Frauen und Männer unterschiedlich schreiben, verneint sie. Es gebe „keinen nennenswerten Unterschied“. Derjenige „zwischen Texten aus verschiedenen literaturgeschichtlichen Epochen“ sei „viel größer als der innerhalb einer Epoche zwischen Autoren und Autorinnen“. Allerdings gebe es bei den Themen, über die Männer und Frauen schreiben, geschlechtsspezifische Unterschiede. Atwood erklärt sie mit den verschiedenen Erfahrungswelten der Geschlechter. Männer gingen in die Welt hinaus, eroberten Länder und führten Kriege oder wanden sich den Wissenschaften und den Künsten zu, während Frauen an den heimischen Herd gefesselt blieben.

Nicht selten mischt Atwood ihren Antworten eine gehörige Portion Humor unter, die auch schon einmal selbstironisch sein kann. Auch greift sie immer wieder gerne zu Bildern und Metaphern. So legt sie etwa dar, was Menschen von Bierflaschen unterscheidet oder die Niederschrift eines Romans von der eines Gedichtes und was die einen mit Ratten in einem Labyrinth und die anderen mit einem See bei Regen gemeinsam haben.

Doch gelten Shallers zumeist interessanten Fragen nicht nur der Person Atwoods und ihren Büchern oder der Literatur im Allgemeinen, sondern zielen etwa auch auf die Gefahren angesichts des Klimawandels, auf die von konservativer und rechter Seite behauptete Gefährdung der Meinungsfreiheit oder auf Probleme der Politik in Zeiten, in denen ein lügenhafter Sexist US-Präsident ist. Nie zuvor habe sie derartige „Attacken“ auf die „demokratischen, pluralistischen und humanitären Werte erlebt“, von denen sie „einst dachte, dass wir sie verinnerlicht hätten und verteidigen würden“, klagt Atwood. Die heutige politische Lage entspreche der des „Ancien Régime vor der Französischen Revolution“.

Was das Recht auf freie Meinungsäußerung betrifft, stellt sie klar, dass es eben nicht „bloß das Recht“ ist, „absolut alles zu sagen, was man will, egal wie unehrlich und bösartig es ist“. „Wenn sich irgendwelche furchtbaren Menschen herausnehmen, furchtbare Dinge zu sagen und sich dabei als Verteidiger der Meinungsfreiheit aufspielen“, werde Meinungsfreiheit zwar „für andere abstoßend“, doch hält sie von den „eifrigen“ Versuchen der „Linken“, „bestimmte Sprechakte auszuschalten“, gar nichts. Vielmehr gingen sie den „Rechten“ damit auf den Leim.

Ausgehend vom Klimawandel entwickelt Atwood am Ende des Interviews eine ausgesprochen düstere Prognose über dessen gesellschaftliche und soziale Auswirkungen. Dabei entwirft sie nicht nur ein bestimmtes Szenario, sondern einen sich in einzelnen Stufen entwickelnden kulturellen und allgemein menschlichen Niedergang bis hin zum „umfassenden gesellschaftlichen Kollaps“. Selbst das Ende der Menschheit sei „sehr wohl möglich“. Bei alldem spekuliert Atwood keineswegs wild drauf los, sondern entwickelt die voranschreitende kulturelle und gesellschaftliche Auflösung erschreckend plausibel. Weniger überzeugend ist allerdings der Funke Hoffnung, mit dem sie den Lesenden am Ende doch noch eine möglicherweise hellere Zukunft in Aussicht stellt.

Dem Gespräch zwischen Shaller und Atwood über 150 Seiten hinweg zu folgen, ist stets unterhaltend und bietet nicht nur Einblicke in Atwoods Ansichten und Eigenheiten, sondern manchen Denkanstoß.

Titelbild

Margaret Atwood: Aus dem Wald hinausfinden. Ein Gespräch mit Caspar Shaller.
Kampa Verlag, Zürich 2019.
159 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783311140139

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