Sprachlandschaften der Natur
Jürgen Goldstein eröffnet in „Naturerscheinungen“ die sprachliche Dimension des Nature Writing
Von Sabine Merten
Als Henry David Thoreau sich im Jahre 1845 in die Einsamkeit der amerikanischen Wälder zurückzog, konnte er noch nicht ahnen, dass er damit den Grundstein für eine bis in die Gegenwart wirkende Naturbewegung legen würde. Thoreaus Ausstieg wurde zu einem Vorbild für Generationen von Naturanhängern, die die Idee von Wildnis als Rückzugsort für zivilisationsmüde Einzelgänger mit Leben füllten.
Thoreau ging während seines Aufenthalts in der Natur zugleich der drängenden Frage nach, auf welche Art und Weise die Natur in Form von Landschaft, Wasser, Wind und Wetter sowohl einen besonderen Erlebnisraum für das Individuum als auch ein Korrektiv für die Gesellschaft darstellen könne. Gerade vor dem Hintergrund der beginnenden – und für ihn erschreckenden – Industrialisierung Amerikas wollte Thoreau den Aufenthalt in der Natur als eine eigene sinnstiftende Lebensform etablieren und gleichzeitig beweisen, dass die Natur einen ästhetischen Wert an sich darstelle. Sein Rückzug in die Natur war zudem mit einer ganz konkreten Fragestellung verbunden: Wie ist es möglich, die Natur unmittelbar zu erfahren und diese Erfahrung in adäquater literarischer Form festzuhalten?
In den Schriften Walking oder Walden haben wir daher wahre Kunst-Manifeste des Naturerlebens vor uns, die der Autor des vorliegenden Buches, Jürgen Goldstein, als den tatsächlichen Ursprung des Nature Writing markiert. Thoreau erlebte auch zu seiner Zeit den Einbruch der Moderne als eine schnell fortschreitende Zerstörung der Natur; so fielen dem rasanten Eisenbahnbau viele Hektar Wald zum Opfer und auch zunehmende Erdölförderung forderte ihre Tribute. Goldstein wiederum sieht diese rasante zivilisatorische Entwicklung als Folge einer neuzeitlichen „Neuen Ordnung der Dinge“, als einen „Siegeszug der Rationalität“, was definitiv eine Entzauberung der Welt mit sich brachte. Und so widmet er das ausführliche Eingangskapitel den schon hinreichend bekannten wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen dieser zivilisatorischen Neuordnung, die mit Kopernikus begonnen und nicht weniger als die autonome Selbstbestimmung bzw. Selbstermächtigung des Individuums innerhalb der Natur zur Folge hatte.
Hier wird ein großes Stück Wissenschaftsgeschichte rund um die Kopernikanische Wende aufgefrischt und der argumentative Bogen von Mirandola, Kepler, Kopernikus, Bacon, Descartes über Hobbes bis hin zu Locke gespannt. Schlussendlich läuft es darauf hinaus, dass jeder von ihnen ein Stück dazu beigetragen hat, dass ein neuer Realismus, ja Szientismus, auf den Plan treten konnte und die alte Welt zunehmend entzaubert wurde. Denn statt die Natur als „universales Buch Gottes“ vielfältig und immer wieder neu zu deuten, wie es unter religiösen Vorzeichen bis ins 16. Jahrhundert hinein durchwegs üblich war, wurde sie nun als wissenschaftliches Forschungsobjekt quasi seziert. Die neue Welt war geprägt von „wissenschaftlichem Neubegründungswillen“, der sich Exaktheit und Eindeutigkeit auf die Fahnen geschrieben hatte.
Wirklich spannend im Hinblick auf die Fragestellung des Buches wird es dann in jenen Kapiteln, in denen der Autor die aufgezeigten wissenschaftshistorischen Entwicklungen mit sprachphilosophischen Konzepten engführt und auf die sprachlichen Folgeerscheinungen des aufkommenden Szientismus eingeht. Denn schon sehr bald entstand hier ein Spannungsfeld zwischen wissenschaftlich eingeforderter „Disziplinierung der Sprache“, was sich etwa im Kampf Thomas Hobbes‘ und John Lockes gegen die unscharfe Verwendung von Metaphern äußerte, und einem schöpferischen Sprachuniversalismus, wie er etwa von Herder entworfen wurde. Mit der Idee, der Mensch sei Geschöpf der Sprache und nicht deren Gefangener, steht dieser am Beginn einer konstruktiven Sprachauffassung, wobei Goldstein hier von einem „ambivalenten sprachlichen Erscheinungsraum“ spricht, in dem sich erstmals der offene Charakter der Sprache zeige:
Die Sprache erschöpft sich nicht in den Funktionen der Repräsentation und Kommunikation. Sie hat Anteil an der Art und Weise, wie wir es mit der Wirklichkeit zu tun haben. Sie ist lebendige Form unseres Denkens. Sie schränkt uns nicht ein, sondern eröffnet uns unerschöpfliche Zugänge zur Welt. Sie kennt verschiedene Arten der Genauigkeit, für die keine Notwendigkeit besteht, sie gegeneinander auszuspielen. (94)
Dieser Punkt ist enorm wichtig für das Verständnis des folgendes großen Kapitels, der kommentierten Auswahl relevanter Autoren des Nature Writing. Unter jeweils ganz unterschiedlichen Aspekten wird hier exemplarisch der Sprachraum der Natur erforscht und vor allem auf den Aspekt der Grenzen und Möglichkeiten sprachlicher Naturdarstellungen abgeklopft. Wie eingangs erwähnt, wird zunächst Thoreau als einem Urklassiker ein großer Stellenwert eingeräumt; daneben aber auch Gilbert White mit Natural History of Selborne als ein Entdecker der „übersehenen Wildnis“ gefeiert. Das fast mystische körperliche Einswerden mit der Natur wird mit Nan Sheperts The Living Mountain deutlich und ihr „Ich bin aus dem Körper heraus in die Berge eingegangen“ weist leitmotivisch den Weg ihres emphatischen Schreibens über die Natur.
Einen anderen Weg zur Natur geht Edward Abbey mit Desert Solitaire, in dem die Härte der Wüste zur existenziellen Prüfung des Menschen wird und dieser an die mystische Grenze zur Apophatik gerät, was nicht weniger heißt, als dass es schlichtweg unmöglich sei, die persönlichen Naturerfahrungen in Worte zu fassen, wobei eindeutig die kommunikative, repräsentative Dimension der Sprache verlassen wird: „Die Kontemplation der Wüste verlangt eine Entäußerung des Selbst jenseits der Sprache. Kein Wort wird ihr gerecht, keine Erzählung vermag den Schleier des Mysteriums zu lösen.“ (148) J. A. Bakers Konzept des Nature Writing wiederum fokussiert sich in Der Wanderfalke auf die Frage der Darstellbarkeit jener Bereiche der Natur, die den Menschen zunächst er-, ja abschrecken wie das Töten, Fressen- und Gefressen-Werden, ja auch das Jagen: Hier wird Nature Writing, wie schon bei Thoreau, nicht zur Idylle, sondern steht im Angesicht der Schrecknisse der Natur. Nature Writing ist hier gleichzeitig auch die Dokumentation einer größtmöglichen Annäherung des Subjektes an die Natur als einer vereinnahmenden Wildnis und eine Absage an die Teilhabe an einem sozialen Leben.
Daneben gibt es auch Texte, deren Naturerfahrung sich wiederum auf das Einfangen eines absoluten Glücksmomentes innerhalb einer allumfassenden Natur richtet, der unwiederbringlich, kostbar und vorrangig durch einen Akt des Schauens zu erfassen sei. Annie Dillard stellt in Pilgrim at Tinker Creek diesen Konnex von Sehen und Erfassen her: „Die Qualität des Sehens hängt nicht vom Gegenstand ab. Es ist umgekehrt: Nur dem rechten Sehen erschließt sich jeder Gegenstand – hier die Natur – als außergewöhnlich.“ Die Sprache wird zum Medium einer extrem gesteigerten Aufmerksamkeit, in deren Fokus auch das Kleinste zu einem aufregenden Ereignis und daher beschreibenswert wird. Die Funktion der Sprache geht hier weit über die einer bloßen Mitteilung hinaus; sie formt und prägt den Akt des Schauens, wobei im Kleinsten auch das Größte zu finden ist, der Mikro- sozusagen den Makrokosmos und damit auch eine universale Gotteserfahrung beinhaltet.
Ein großes Kapitel ist dem Doyen des zeitgenössischen Nature Writing, Robert Macfarlane, gewidmet. Seine Erkundungen der Landschaft gehen einher mit dem Aufspüren subjektiver Erfahrungsorte in einer als Wildnis imaginierten Landschaft: „Seine Karte folgt nicht der zweidimensionalen Darstellungsweise von Straßenatlanten. Sie ist vielmehr in erzählerische Prosa gefasst, deren einzelne Abschnitte – das Moor, der Wald, die Gipfel, der Sturmstrand – die Quadrate des Gitternetzes ersetzen.“ (185)
Und hier macht Goldstein das eigentliche Anliegen seiner Arbeit deutlich: das Problem der verbalen Darstellbarkeit von Naturerfahrungen und deren universeller Gültigkeit sowie das Ausloten von Grenzen und Möglichkeiten der Sprache angesichts einer Natur, die immer schon kulturell vermittelt und niemals „als solche“ wahrgenommen werden kann. Angelehnt an Blumenberg umkreist Goldsteins Untersuchung das Sag- und das Unsagbare, die Grenze zwischen „sprachlich gemachter“ und erlebter Welt: „Keine Beschreibung leistet, was die Anschauung darbietet; sie hilft uns nur dazu, selbst zu eben dieser Anschauung zu gelangen, die in der Beschreibung versprochen wird.“ (216)
Angesichts der Vielzahl von möglichen Naturerfahrungen, von denen Goldstein nur eine Kostprobe zur Auswahl anbieten kann, wird deutlich, dass Naturerfahrung immer durch die Perspektive des Individuums vermittelt werden kann. Nature Writing ist daher als ein vornehmlich narrativ-expressiver Ausdruck „im Resonanzraum des eigenen Selbst gelegen“ (257). Nature Writing ist kein Genre, das „wohlfeile Weltbildbedürfnisse“ bedient, sondern spiegelt zwischen Naturkunde und Fiktion die Vielseitigkeit von Naturerfahrung in einer Vielfalt an sprachlichen Darstellungsweisen wider.
Es sei daran erinnert: Auch Thoreau brauchte Jahre, um den zweijährigen Aufenthalt am Waldensee zu versprachlichen und einen angemessenen literarischen Ton zu treffen. Und so verhält es sich generell mit dem Nature Writing im Gegensatz zu naturkundlichen Schriften: Es handelt sich letztlich um Literatur, die die erlebte Natur nicht imitiert, sondern sie in der Vorstellungskraft des Lesers noch einmal auferstehen lässt.
Goldstein untersucht Nature Writing vor dem Hintergrund eines ausführlichen Theoriekapitels nicht aus der thematischen, sondern aus der sprachkonstruktiven Perspektive. Nicht die Natur in ihrer Vielfalt, sondern die vielfältige Rede über die Natur steht im Zentrum der Analyse. Es geht um die Natur als ein ideengeschichtliches Konstrukt, das primär als Medium der Identitätsfindung und als Korrektiv zu technokratischen Tendenzen der Moderne figuriert.
Und so tauchen die Leser und Leserinnen dieses Buches, die als „Naturanalphabeten“ möglicherweise der meisten Namen für Pflanzen und Tiere unkundig sind, zunächst literarisch in die Natur ein. Es bleibt zu hoffen, dass ihre Naturerfahrung über die Sprache hinaus dann tatsächlich auch einmal zu einer echten wird.
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