Stillstand und Wachsamkeit

William Henry Hudsons schmales patagonisches Reisetagebuch erinnert ästhetisch funkelnd an den Anspruch, uns selbst innerhalb der Kategorien der Natur zu denken

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einigen gegenwärtigen Naturdokumentationen mit breiter Zuschauerschaft ist gelegentlich eine Tendenz zu beobachten, tierisches Handeln derart zu vermenschlichen und zu personalisieren, dass ein sonderbares Gefühl entsteht: Fast parallel zu einer Art kolonialen Geste der (manifesten und moralischen) Überschreibung des Fremden und Unbekannten durch das Eigene wird der Blick in so starker Weise verengt und reduziert, dass das Neue gewissermaßen nur noch und ausschließlich in Begriffen des bisher Bestehenden verstehbar wird. Aus der an sich wichtigen und bedenkenswerten Grundbewegung der Herstellung von Analogien zum besseren Verstehen und Aneignen des fremden Terrains wird dann ein tendenziell gewaltsames Einziehen von festen Wissensgrenzen.

Der argentinisch-britische Natur- und speziell Vogelforscher William Henry Hudson (1841–1922) ist in seinen bei Matthes & Seitz nun neu aufgelegten, für das nature writing fast klassisch zu nennenden Aufzeichnungen Müßige Tage in Patagonien mit einer ähnlichen Gemengelange konfrontiert, wobei er – gemäß dem anderen Extrem – eine maximale, auch ästhetisch fulminante Offenheit gegenüber den Konsequenzen diverser Mensch-Tier-Analogien an den Tag legt.

Ausgangspunkt seiner Beobachtungen ist die Reisebewegung als erkenntnisstiftende und im weitesten Sinne philosophisch konstruktive Standardsituation des idealistischen Forschers. Unterwegs in den zivilisationsabseitigen Gefilden Patagoniens zwischen den südamerikanischen Ländern Argentinien und Chile ist Hudson nach einer Schussverletzung durch seine eigene Unachtsamkeit auf die Position des Naturbeobachters zurückgeworfen, die er mindestens auf zweigleisige Art und Weise in ein sensibles, ästhetisch feingegliedertes und überaus fachkundiges Schreiben, eine Textform mäandernd zwischen ethnologischer Akribie, ornithologischer Expertise und philosophischer Klarheit gießt:

Zum einen arbeitet Hudson sich an der Figur des Wilden ab, erkundet die historischen Umrisse der Kolonialbeziehungen, sein Verhältnis zur Jagd, die naturhaft zielsichere Berufung auf sein Instinktrepertoire (insbesondere sein scharfes Auge und seinen feinen Geruchssinn), aber auch seinen kriegerischen Impetus mit Blick auf die Bewältigung seines Lebensraums. In einer zweiten Linie durchdringt der Forscher zum anderen sein eigenes Verhältnis zu den Tieren seiner Umgebung – zentral sind dabei die kommunikative Verbindung zum Hund als einem Lebenspartner auf pragmatischer Augenhöhe oder die begrifflich fein entworfene und facettenreich eingefangene Lebenspraxis der Vögel (gerade hinsichtlich der als fast wundersam erscheinenden gesanglichen Fähigkeiten ohne menschliche Vergleichsfolie).

Faszinierend mutet bei alldem Hudsons Fähigkeit in Ganzheiten zu denken an, von einer „Harmonie zwischen Organismus und Umgebung“ auszugehen und auf dieser Basis vermeintlich zivilisatorische Vorstufen des Menschen (in Form der Wildheit Patagoniens) in fortgesetztem Dialog und einer historischen Kontinuität und holistischen Einheit mit dem Jetzt zu betonen: Ist man erst einmal in der Lage, die Klassifikationswut und das Trennungsgebaren des menschlichen Verstandes und des Denkens an sich als solche zu dekonstruieren, kommt man – wie Hudson überzeugend darlegt – zu einer Idee von Natur (hier finden sich beachtliche Parallelen zu Thoreaus Positionen) als ganzheitlicher Abhängigkeitsstruktur wiederkehrender Grundmotive.

In einem solchen Modell ist der Mensch nicht als separierter Teil einer fortschrittlichen Überwindung seiner eigenen Geschichte integriert, sondern wird vielmehr als natürliches Instinktwesen mit einer Vielzahl von Parallelen zum Tier und zum Wilden begreifbar – steht eigentlich (wider die Metropolenbilder unserer Industriewüsten) in einem fruchtbaren Naturzusammenhang, den er offenkundig leider vergessen hat.

Unter diesen Voraussetzungen funktionieren Hudsons Aufzeichnungen auch als wichtige Erinnerungsmahnmale an eine verlorene Einheit des Menschen mit seiner unmittelbaren Lebensumgebung. Beachtlich ist dabei nicht zuletzt des Autors zielsichere Einbettung der Naturreflexionen in ein ästhetisches Gewand – ausgehend von den Überzeugungen eines Animismus, der das Außen in den Kategorien einer (menschlichen) Beseelung denkt. Hudson gelangt darüber in Wahrnehmungstiefen, die eine filmische Naturdokumentation unwesentlich und oberflächlich erscheinen lassen.

Titelbild

William Henry Hudson: Müßige Tage in Patagonien.
Aus dem Englischen, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Rainer G. Schmidt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
239 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577931

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