Mein Vorleben

Über die Autobiographie meines Vaters (2000)

Von Andrew RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrew Ranicki

Ich bin sehr stolz, dass dieses erstaunliche Buch meines Vaters meiner Mutter und mir gewidmet ist. Beim Lesen des Buches war ich, obwohl ich natürlich manches schon kannte, gerührt und ergriffen. Besonders interessiert hat mich alles, was sich hier über meine Familie findet. Ich habe ja meine Großeltern und auch den Bruder meines Vaters nie kennen gelernt. Erschüttert haben mich die dramatischen Umstände, die den Vater meiner Mutter Anfang 1940 in den Selbstmord getrieben haben.

Über das Warschauer Ghetto habe ich mit der Zeit schon viel gelesen, aber die ausführliche Beschreibung im Buch meines Vaters hat mich besonders ergriffen, weil hier viel zu lesen ist, was sonst noch nie geschildert wurde, so über das Musikleben im Ghetto und auch über die sehr interessante Figur des Obmanns des Judenrates, Adam Czerniaków. Zu denken gab mir ein eigentlich nebensächliches Detail: Mein Vater erzählt, er habe sich im Ghetto immer zweimal täglich rasiert und er habe sich bemüht, immer einigermaßen ordentlich gekleidet zu sein – das nämlich habe seine Lebenschancen im Ghetto leicht gesteigert. Damit hat es gewiss zu tun, dass er mich, als ich noch ein Kind war, sehr oft angehalten hat, auf mein Äußeres zu achten.

Auch die nicht-familiären Teile sind für mich wichtig, zumal die vielen Einblicke in das literarische Leben hinter den Kulissen und in die Musikwelt. Schon als Kind fiel mir auf, dass mein Vater immer, auch am Sonntag, sehr viel gearbeitet hat. Ich spürte, noch bevor ich das Wort kannte, dass die Literatur seine Passion ist.

Das unter anderem verbindet mich mit ihm, denn auch ich habe eine Passion, aber es ist die Mathematik. Zwischen dem literarischen Leben, das eben zur Existenz meines Vaters gehört, und dem mathematischen Leben besteht ein großer Unterschied. Mein Vater erzählt von vielen Formen der Eitelkeit der Schriftsteller. Auch Mathematiker sind eitel, aber ihre Eitelkeit hält sich doch in Grenzen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ein Kunstwerk weder richtig noch falsch sein kann. Ein mathematischer Satz ist entweder bewiesen oder nicht. In einem Brief Alexander von Humboldts an Gauss ist von einem französischen Mathematiker die Rede. Nach einer Opernaufführung, die ihm wohl einigermaßen gefallen hat, fragte er: „Sagen Sie mir offen, was ist damit bewiesen?“ So ist es ja: über eine Oper oder ein anderes Kunstwerk kann es hundert verschiedene Ansichten und Urteile geben, aber für die Mathematiker gelten feststehende Maßstäbe ihrer Leistungen.

Nun ist aber das Buch meines Vaters nicht nur ein bewegender und ergreifender Lebensbericht, denn zusammen mit seinem Buch Die Anwälte der Literatur (das der Autor übrigens auch mir gewidmet hat) ist es ein Buch über seine persönlichen Maßstäbe der Literaturbewertung, die sich ja von seinem Leben überhaupt nicht trennen lassen.

Als ich von einer deutschen Illustrierten um ein Interview aus Anlass des achtzigsten Geburtstags meines Vaters gebeten wurde, lautete die letzte Frage, was ich meinem Vater verdanke. Meine Antwort war: „Mein Leben. Meine Mutter und er konnten dem Tod im Ghetto gerade noch entfliehen. Daran denke ich unentwegt.“

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag von Andrew Ranicki, dem 2018 gestorbenen Sohn von Marcel Reich-Ranicki, ist zuerst erschienen in Hubert Spiegel (Hg.): Welch ein Leben. Marcel Reich-Ranickis Erinnerungen. Stimmen, Kritiken, Dokumente. München: dtv 2000. Wir danken seiner Tochter Carla Ranicki für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung.
In der März-Ausgabe 2017 von literaturkritik.de haben wir Andrew Ranickis Beitrag
Familiengeschichten nach dem Holocaust. Erinnerungen an Teofila und Marcel Reich-Ranicki“ veröffentlicht.