Kafka, Konecny und andere

Erstaunliche Entdeckungen – „Böhmische Spuren in München“

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man wundert sich, dass bisher niemand den böhmischen Spuren in München nachgegangen ist, und man freut sich, dass Jozo Džambo es endlich getan hat. Wer sonst als dieser kluge und kenntnisreiche langjährige Mitarbeiter des Adalbert Stifter Vereins hätte diese Aufgabe auch übernehmen sollen? Džambo charakterisiert das schon durch sein schönes Umschlagbild ansprechende Buch als „eine Mischung aus Dokumentation, Kulturführer, eine Essaysammlung, gewissermaßen auch ein Nachschlagewerk, auf jeden Fall eine Orientierungshilfe bei der Suche nach böhmischen Spuren in München“, und er weist darauf hin, dass mit „Böhmen“ nicht nur das ehemalige Kronland gleichen Namens gemeint ist, sondern auch Mähren und Österreichisch-Schlesien. Eine Mischung also, kein Werk aus einem Guss. Darin liegt auch ein Problem. Wer liest schon Nachschlagewerke?

Speziell im 19. und 20. Jahrhundert war die Stadt München vielen Böhmen eine Reise wert, erfährt man von Jozo Džambo. Der Sprachwissenschaftler Ján Kollár, der Dichter Jan Erazim Vocel, der Historiker František Palacký und andere Böhmen besuchten den berühmten Johann Andreas Schmeller, den Verfasser des legendären Bayerischen Wörterbuchs. Dem großen Jan Neruda, dessen Kleinseitner Geschichten man immer wieder gerne liest, kam München 1863 „wie eine Kleinstadt“ vor, bewohnt von Menschen, denen Bier und Wirtshaus das Familienleben ersetzen.

Thomas Raff bringt uns Künstler und Kunststudenten aus Böhmen näher, die Bleibendes in München hinterlassen haben, Gabriel (von) Max etwa, Joseph (von) Führich, Adolf Hölzel, Alfred Kubin oder Anton Pruska, dem wir die Kirche St. Anna im Lehel verdanken; Dieter Klein sichtet weitere kunsthistorische Spuren. Peter Becher stellt deutschböhmische Literaten vor – wer weiß schon, dass Gustav Meyrinks Prag-Roman Der Golem in München entstand, dass der Verlag von Kurt Wolff, ein wichtiger Partner der Prager Literaten, fast zehn Jahre in München residierte, dass Autorinnen wie Barbara König, Barbara von Wulffen oder Ursula Haas ihre Kinderjahre in Böhmen verbrachten, dass Manfred Bieler und viele andere Dichter ohne ihre böhmischen Prägungen kaum vorstellbar sind? Den ganz Berühmten, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka, sind jeweils eigene Kapitel gewidmet, und wer Rilkes 1898 entstandene Novelle Ewald Tragy nicht kennt, der wird von Jozo Džambo neugierig gemacht und in Zukunft das Hotel Marienbad in der Barerstraße mit anderen Augen betrachten.

Nicht nur deutschböhmische, auch tschechische Schriftsteller haben breite Spuren in der Landeshauptstadt hinterlassen, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – Zuzana Jürgens macht sie sichtbar und würdigt das Wirken von Ivan Binar, Ota Filip, Ludvík Aškenazy, Karel Kryl und einigen anderen, auch das des stadtbekannten Poetry-Slamers Jaromír Konecny. Zahlreiche böhmische Regisseure, Filmproduzenten und Schauspieler/innen gab und gibt es auch in München, und Zuzana Jürgens stellt sie vor – Haro Senft etwa, Rolf Wanka und seine Tochter Irina oder Friedrich von Thun und seinen Sohn Max. Musikalischen Fährten geht Franz Adam nach, von den böhmischen Hofmusikern der klassischen Mannheimer Schule um Johann Stamitz bis zu Fritz Rieger und Rafael Kubelík.

Außerordentlich interessant ist Ortfried Kotzians Beitrag über die Vertreibung der Sudetendeutschen in den Jahren nach 1945 und deren Ankunft in Bayern, oft am offiziellen Zielbahnhof München-Allach – und über die vielen kleinen Schritte zur Integration. „Nicht überall waren die Vertriebenen gern gesehene Neubürger, auch in München nicht.“ Wolfgang Schwarz informiert über die vielen Tschechen in München – wer kennt die Skulptur von Zdeněk Němeček im Olympiapark, wer die Website www.mnichov.de? Unübersehbare böhmische Spuren findet man unweit des Chinesischen Turms, von wo aus von 1950 bis 1995 Radio Free Europe Sendungen ausstrahlte, denen heute, wie Anna Bischof schreibt, „ein bedeutender Beitrag zur politischen Wende“ von 1989/90 zugeschrieben wird. Ingrid Sauer stellt das Sudetendeutsche Archiv vor, und was die Münchner Straßennamen von Böhmen und Mähren erzählen, erfährt man von Jozo Džambo, der sich unter anderem die Siedlung Am Hart genauer angesehen hat und nicht nur die Schwabinger darüber aufklärt, was es mit dem Namen Soxhlet auf sich hat.

Und auch die „kulinarischen Brücken“ tragen – Ulrike Zischka nimmt sich, engagiert und amüsant, der „Böhmischen Küche in München“ an. Wobei den Lesenden nicht nur Olmützer Quargeln, Karlsbader Oblaten, Böhmische Knödel oder Budweiser Bier gehörig Appetit machen werden, sondern gewiss auch die zahlreichen interessanten Fotos, die übrigens den ganzen Band wunderbar illustrieren.

Das letzte Drittel des Buchs ist ein akribisch die einschlägigen Institutionen und Vereine auflistendes sowie siebzig verdiente Münchner Persönlichkeiten mit böhmischem Hintergrund würdigendes Nachschlagewerk, dem die Sorge anzumerken ist, um Himmels willen nichts und niemanden zu übergehen. Was im Großen und Ganzen gelungen zu sein scheint. Hier wird klar, was Jozo Džambo eingangs betont hatte – dieses Buch ist eine „Mischung“, eine „Orientierungshilfe“. So weit so gut. Dazu wünschte man sich, sozusagen als Folgeprojekt, einen Band voller spannender Biografien. Über Leben und Werk von Historikern wie Friedrich Prinz und Ferdinand Seibt, Germanisten wie Herbert Cysarz und Antonín Kratochvil, Politikern wie Volkmar Gabert und Peter Glotz oder Künstlern wie Leo Greiner, Julius Fučík, Alfons Mucha und vielen anderen ist noch lange nicht alles gesagt. Der Projektleiter steht bereits fest – wer, wenn nicht Jozo Džambo?

Titelbild

Jozo Dzambo: Böhmische Spuren in München. Geschichte, Kunst und Kultur.
Volk Verlag, München 2020.
280 Seiten , 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783862223275

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