Paranoia, Palindrome und virtuelle Welten

Matthias A. K. Zimmermann entwirft in „Kryonium“ ein verschachteltes Verwirrspiel

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine namenlose Erzählfigur erwacht orientierungslos in einem mittelalterlich anmutenden Schloss inmitten eines winterlich verschneiten Parks. Weder weiß sie, wie sie dorthin gelangt ist, noch was von ihr erwartet wird. Nur eines ist ihr klar: sie wird gefangen gehalten und muss um jeden Preis entkommen. Doch ihr fehlen jegliche Erinnerungen und die nachfolgenden chaotischen Ereignissen und mysteriösen Begegnungen – darunter ein König mit seinen Rittern, ein schreckliches Ungeheuer, das den Schlosspark unsicher macht, und eine bösartige Hexe – sind für die Figur nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Sie alle verdichten bloß das Rätsel, das alle Geschehnisse umgibt, und erschweren die heiß ersehnte erfolgreiche Flucht.

Diese rätselhafte Märchenwelt ist freilich nur der erste, Amnesie genannte Teil eines groß angelegten Verwirrspiels, das der Autor in den beiden folgenden Teilen, genannt Monotonie und 1, 10, 11, 100, 101, 110, 111, 1000, 1001 konsequent fortsetzt. Während sich so manches im Fortschreiten der Geschichte stückweise erhellt, verdichten sich die übrigen Mysterien und das mitunter paranoid anmutende Fluchtbedürfnis der Hauptfigur nimmt stetig und über alle Ortswechsel hinweg zu. Erst der Schluss der Geschichte rückt die verstreuten Puzzleteile schließlich an ihren richtigen Platz, sodass ein vielschichtiges, aber letztlich stimmiges Gesamtbild entsteht. An diesem Punkt wird dann auch deutlich, wie kunstvoll konstruiert der Roman tatsächlich ist, welche Bedeutung scheinbar nebensächliche Episoden und Elemente haben und welche Signifikanz den wiederkehrenden Zahlen und Codes, den Namen und Wortspielen, Metaphern und Palindromen tatsächlich innewohnt.

Diese Komplexität der Romankonstruktion ist dabei so sehr Stilelement wie logische Konsequenz des facettenreichen Hintergrunds des Schweizer Autors Matthias Zimmermann. Dieser ist, wie die letzte Seite des Buches informiert, nämlich zugleich auch Maler und Medienkünstler und hat musikalische Komposition, Kunst & Vermittlung, Game Design, Art Education und Pädagogik studiert. Dass das Buch ferner dem griechischen Mathematiker Archimedes von Syrakus gewidmet ist, dessen Formel zur Berechnung eines Kugelvolumens den Roman inspiriert hat, fügt sich entsprechend nahtlos in diesen literarischen Kosmos ein. Es ist freilich ein Kosmos, zu dem, bei aller Leichtigkeit der Sprache, vorwiegend LeserInnen mit viel Durchhaltevermögen und Freude an logischen Verwirrspielen Zugang finden dürften. Diese werden beim konsequenten Mitverfolgen der Flucht- und Suchbewegung der Hauptfigur dann aber auch mit einem künstlerisch und inhaltlich gehaltvollen Medienmix belohnt, der Medien- und Gesellschaftskritik gekonnt miteinander vereint und schwierige Fragen stellt nach der Verlässlichkeit der eigenen Erinnerungen und der Existenz einer allgemein verbindlichen Realität.

Titelbild

Matthias Alexander Kristian Zimmermann: Kryonium. Die Experimente der Erinnerung.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2019.
324 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783865994448

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