Tödliche Tests

Lina Frischs Debüt „Falling Skye“ entführt das anvisierte jugendliche Publikum in eine dystopische Zukunft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Chicks Rule!“, das war in den 1990er Jahren nicht nur eine beliebte Parole junger feministisch bewegter Frauen, sondern bald darauf auch der Titel eines Sammelbandes über heranwachsende Heldinnen in TV-Serien, die auf ein jugendliches Publikum abzielten. Am Beginn der inzwischen langen Tradition fiktionaler Kämpferinnen standen aber nicht etwa TV-Heroinen wie Buffy, Xena, Max Guevara oder Veronica Mars, die um die Jahrtausendwende auf so ziemlich allen Bildschirmen der west- und östlichen Hemisphäre Untote, miese GöttInnen und Kriminelle bekämpften, sondern Yoko Tsuno in den gleichnamigen Comics, die ab 1970 in zahlreichen Ländern erschienen. Barbarella, die sich von 1962 an in den nach ihr benannten Comics quer durch die Galaxis kämpfte und ‚liebte’, verkörperte hingegen eine sexistische Männerphantasie.

Spätestens seit den Erfolgen von Suzanne Collins’ Romanen um Katniss Everdeen sind junge Heldinnen auch aus den verschiedenen Genres phantastischer Jugendliteratur nicht mehr wegzudenken. Anfang 2020 fügte die junge deutsche Autorin Lina Frisch in ihrem Debüt der schon recht langen Reihe einschlägiger Protagonistinnen mit Skye eine weitere Kämpferin hinzu.

Die Heldin des dystopischen Romans Falling Skye lebt zwar in der allernächsten Zukunft, doch hat sich diese gegenüber der Gegenwart der LeserInnen grundlegend verändert. Denn fünf Jahre vor Handlungsbeginn hat es in den USA einen Umsturz gegeben. Seither nennen sich die ehemaligen Vereinigten Staaten „Gläserne Nationen“. Außerdem kürten sie New York zur neuen Hauptstadt. Die Stadt also, in der Skye und ihr Vater, der dem Parlament angehört, leben. Skyes Mutter, eine frühere Journalistin der New York Times, hat beide schon kurz nach dem Umsturz verlassen. Fortan wurde nichts mehr von ihr gehört.

Die Staatsführung propagiert „Offenheit und Vertrauen“ als höchste Tugenden – natürlich dem Staat gegenüber, der zum Wohle aller „aufrechte“ und „ehrliche“, kurz „gläserne Menschen“ brauche. Die Absichten der Herrschenden bleiben hingegen eher dunkel. Lauter werden sie kaum sein, wie den Lesenden im Unterschied zu Skye schnell klar sein dürfte. Jedenfalls werden die Menschen strikt in „Rationale“ und „Emotionale“ aufgeteilt. Nach offizieller Darstellung gelten beide als gleichwertig und einander ergänzend. Denn „[d]ie Welt braucht kühle Köpfe genauso wie sanftes Einfühlungsvermögen, um zu funktionieren, nur beides an seinem Platz“. Wie sich versteht, ist derjenige der Rationalen an den Schalthebeln der Macht, während das Leben der Emotionalen von eben diesen „gelenkt“ wird, um sie vor ihren Gefühlen zu schützen. So existiere eine „perfekte[.] Symbiose“ zwischen „Führern und Geführten, Denkern und Machern“.

Ob ein Mensch seinem angeblich unveränderlichen Wesen nach rational oder emotional ist, gilt zwar als biologisch bedingt, muss jedoch mittels eines Testverfahrens herausgefunden werden. Danach leuchtet am Handgelenk der betreffenden Person entweder ein weißes R oder E. Nun wird zwar niemand gezwungen, sich dem Test unterziehen, doch ist dies tunlichst anzuraten, will man nicht arbeitslos werden und allerlei andere Nachteile in Kauf nehmen. Jugendliche werden üblicherweise im Alter von 18 Jahren für die bei ihnen recht umfangreichen Tests in entsprechende Zentren verfrachtet, wo sie von aller Welt abgeschottet mehrere Wochen verbringen.

Die 16-jährige Skye hat also noch eine Weile Zeit sich darauf vorzubereiten. Doch wird das Testalter ganz unerwartet um zwei Jahre herabgesetzt, so dass sie und ihre KlassenkameradInnen Hals über Kopf von ihrer Highschool abreisen und die lange Fahrt zu einem der Zentren antreten müssen. Skye und ihr Freund Elias sind überzeugte AnhängerInnen der Staatsideologie und wollen unbedingt als „Rationale“ aus den Tests hervorgehen. Scheinbar bringen sie auch die allerbesten Voraussetzungen dafür mit. Doch handelt Skye von Beginn an keineswegs immer rational und auf ihren eigenen Vorteil bedacht, sondern gerade, wenn es darauf ankommt, spontan und selbstlos, wobei sie sich auch schon mal in akute Lebensgefahr bringen kann.

Auf der Fahrt zum Testzentrum lernt sie Luce kennen, die auf eine andere Highschool ging und sich in den Tests gerne als Emotionale erweisen würde. Auch ist sie weit weniger von der Staatsideologie überzeugt als Skye. Dennoch freunden sich beide schnell an. Im Zentrum angekommen, werden die Jungs und die Mädchen zu Skyes Überraschung streng voneinander getrennt. Überhaupt stellen sich ihr immer mehr Fragen. Denn offensichtlich kann es bei den oft demütigenden und nicht selten lebensgefährlichen Tests nicht nur darum gehen, ob jemand rational oder emotional ist. Worum aber dann? Und was hat es mit Alexander auf sich, einem Mitarbeiter des Zentrums, der offenbar seine schützende Hand über sie hält? Kann sie ihm wirklich vertrauen, oder ist das alles nur Teil eines weiteren Tests? Wohin werden die im Ranking abfallenden Mädchen in dunklen Nächten auf nimmer Wiedersehen gebracht? Und wozu dient das Ranking überhaupt? Was hat es mit dem Verschwinden von Skyes Mutter wirklich auf sich? Und noch einmal: Worum geht es im Testzentrum tatsächlich?

Auf der Suche nach Antworten stellt sich heraus, dass es eine geheime Organisation gibt, die sich „Ring“ nennt, und offenbar noch eine weitere, womöglich sogar revolutionäre Untergrundgruppe, die „Sonne“. Hat Skyes Mutter vielleicht sogar mit ihnen zu tun? So viel ist jedenfalls sicher: Nichts ist so, wie es scheint.

Wie sich leicht denken lässt, entwickelt sich die überzeugte Verfechterin der Staatsdoktrin Skye zu einer Gegnerin des Regimes. Dazu trägt nicht nur ihre Verunsicherung aufgrund des Widerspruchs zwischen ihrem Anspruch eine Rationale zu sein und ihren emotionalen Entscheidungen bei, sondern mehr noch die üblen Machenschaften des Testzentrums, die sie mit der Zeit in Erfahrung bringt.

Erzählt wird all dies aus der Sicht der Identifikationsfigur und Ich-Erzählerin Skye. Zunächst zumindest. Doch dann tritt eine zweite Erzählstimme hinzu, von der im ersten Moment nicht ganz klar ist, wem sie zuzuordnen ist. Doch klärt sich das schnell. Beide Erzählstimmen unterscheiden sich nicht wesentlich. Überhaupt ist der Roman sprachlich recht einfach gestrickt und ohne stilistische Finessen. Die darf man von einem Jugendbuch allerdings auch nicht unbedingt erwarten.

Das Personal des Buches ist recht umfangreich. Neben Skye sind da ihr Vater, sowie etliche ihrer MitschülerInnen an der Highschool inklusive der obligatorischen Figuren des weiblichen ‚Biests’, das der Heldin das Leben schwer macht, der Außenseiterin, mit der sie sich anfreundet, und des love interests der Protagonistin. Im Testzentrum kommen zahlreiche weitere Jugendliche hinzu sowie verschiedene MitarbeiterInnen. Einige der Figuren werden etwas näher vorgestellt, ohne dass allerdings sonderlich tief in ihren Charakter eingedrungen wird.

Dann und wann geraten die Figurenkonstellationen etwas klischeehaft; so fehlt die in Jugendbüchern übliche Dreieckskonstellation nicht, bei der sich das Mädchen für einen von zwei jungen Männern entscheiden muss. Die Gesellschaftskonstruktion ist insgesamt etwas schlicht und der Grund für den zu den Gläsernen Nationen führenden Umsturz scheint trotz seiner individuellen Tragik für den gravierenden Gesellschaftswandel, der eine Demokratie in ein totalitäres Regime stürzt, nicht hinreichend. Gegen Ende des Romans wird den Lesenden die frauenemanzipatorische Intention des Buches vielleicht etwas zu aufdringlich präsentiert, mag sie auch noch so berechtigt sein.

Zwar beschränkt sich der Roman keineswegs darauf, altbekannte Versatzstücke bisheriger Nahzukunfts-Dystopien neu zusammenzusetzen, doch wird KennerInnen des Genres etliches nicht ganz unbekannt vorkommen. Den Altersgenossinnen der Titelheldin mag es anders ergehen, aber auch sie dürften über die eine oder andere Ungereimtheit stolpern – etwa was die Überwachung der Jugendlichen im Testzentrum betrifft. Insgesamt tut das aber der Spannung und dem Unterhaltungspotential des Buches wenig Abbruch, die für einen Erstling nicht übel sind und durchaus Interesse für die bereits angekündigte Fortsetzung Rising Skye wecken können. Diese dürfte auch einige Fragen beantworten, die der vorliegende Band offen lässt. Etwa, ob Skye die Einzelkämpferin bleiben wird, zu der sie im Laufe der Handlung geworden ist, oder ob sie sich weiter entwickeln und mit MitstreiterInnen zu einem gemeinsamen Kampf verbünden wird, um dem patriarchalen System ein Ende zu setzen. Erst das wäre wirklich feministisch.

Titelbild

Lina Frisch: Falling Skye. Kannst du deinem Verstand trauen?
Coppenrath Verlag, Münster 2020.
461 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783649633440

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