On Fire for the Truth

Ein philosophischer Sammelband zu der beliebten Fernseh-Serie „Veronica Mars“ ist nicht nur für Fans ebenso erhellend wie unterhaltend

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Welt der Teeny-Serien lässt sich wohl kaum eine Heldin finden, die einen ähnlich desillusionierten Blick auf ihre Serien-Welt hat wie Veronica Mars. Angesichts der florierenden Korruption ihres von Verbrechen, Sexismus und Rassismus geprägten Heimatstädtchens, dem südkalifornischen Ort Neptune, ist dies allerdings auch kein Wunder. Zumal ihre persönlichen Erlebnisse, etwa die Vergewaltigung der 16-Jährigen auf einer Party, ein Übrigens tun.

Sunnydale könnte gerade um die nächste Ecke liegen und Veronica eine nahe Verwandte Buffys sein. Und das nicht nur, weil beide blond und zu Beginn der nach ihnen benannten Serien Studierende an der örtlichen High School sind. Auch ansonsten haben sie zwar durchaus nicht alles, aber doch einiges gemeinsam. So sind beispielsweise sowohl über die Vampirjägerin als auch über die Detektivin philosophische Sammelbände erschienen. Buffy wurde diese Ehre bereits 2003 zuteil. Die Beitragenden des von James B. South herausgegebenen Buches schreckten nicht davor zurück, sich „Fear and Trembling in Sunnydale“ zu stellen und vielleicht sogar dem Höllenschlund ins Auge zu schauen. Der Band erreichte damals binnen kurzem mehrere Auflagen.

Und nun, ein dutzend Jahre später, spüren die AutorInnen des von George A. Dunn herausgegebenen Bandes über Veronica Mars den „Mysteries of Life“ in Neptune nach. Das Buch klopft die Serie nicht auf eventuelle philosophische Statements, Argumente oder Diskurse hin ab, deren Validität es zu beurteilen gälte, sondern untersucht die Charaktere, ihre Einstellungen und Handlungen sowie all die zweifelhaften Vorgänge in Neptune unter philosophischen Aspekten und Fragestellungen. Das kann auch schon einmal heißen, eine prägnante Sentenz der Protagonistin oder ihre Kenntnisse über Occam’s Razor auf ihre philosophische Bedeutung hin zu befragen und sie philosophiegeschichtlich zu verorten. Der Herausgeber goutiert Veronicas Interpretation von Alexander Popes Versen „Hope springs eternal in the human breast:/ Man never is, but always to be blest./ The soul, uneasy and confined from home,/ rests and expactiates in a life to come“ offenbar mehr als ihre Lehrerin Mrs. Murphy. „Life’s a bitch until you die“, lautet Veronicas pointierte Zusammenfassung der Zeilen des englischen Poeten des 18. Jahrhunderts. Pope selbst hätte zwar wohl eher der hoffnungsfrohen Lesart von Mrs. Murphy applaudiert, doch macht Dunn in der Einleitung eine Gemeinsamkeit zwischen der „petit blonde detective“ und „spunky heroine“ Veronica und sich und seinen ZunftgenossInnen aus. Denn sie alle seien „on Fire for the truth, make ample use of tools of logic, and recognize that things aren’t always as they appear“.  Dereck Coatney fragt sich und die Lesenden in seinem Beitrag über „The Value of Truth in Veronica Mars“ allerdings: „is truth always worthy of our praise“, und bereitet die Lesenden zu Beginn seines Aufsatzes schon einmal darauf vor, dass „like the truth about so many other things in Neptune, the truth about the truth is hardly that simple“. Andrew Zimmermann Jones wiederum erteilt „a brutal lesson in how tenuous our grasp on the truth is“. Genauer gesagt ist nicht er es, der sie uns erteilt, sondern das Leben hält sie für Veronica bereit. Zimmermann Jones zeigt uns nur, wie und warum. Daniel A. Wilkenfeld komplettiert auf fundierte Weise die Reihe der erkenntnistheoretische Fragen erörternden Beiträge, indem er erläutert, „What Veronica Knew but Didn’t See“, und wie es überhaupt möglich ist, um etwas zu wissen, das man nicht gesehen hat.

Der Herausgeber selbst ist (ebenso wie Paul Hammond) mit zwei Beiträgen vertreten. Unter dem Titel des Veronica-Zitates „I’m Old School, an Eye for an Eye“ beleuchtet er das Verhältnis der Serien-Heldin zur „Vengeance“, während er in „Breaking Bad in Neptune“ anhand des fiktiven Gefangenen-Experimentes in der Episode „My Big Fat Greek Rush Weekend“ und des realen von Philip Zimbardo 1971 durchgeführten Stanford-Prison-Experiments der moralphilosophischen Frage nachgeht, „why do people – not just in Neptune but everywhere – do so many bad things“. In der Veronica Mars-Episode wie auch in Zimbardos realem Experiment werden Studierende in zwei Gruppen (‚Gefangene‘ und die sie beaufsichtigenden ‚Wächter‘) getrennt, wobei die Serie die Situation noch dadurch verschärft, dass die ‚Wächter‘ von den ‚Gefangenen‘ in Erfahrung bringen müssen, wo ein Bombe platziert ist, die 48 Stunden nach Beginn des Experimentes explodieren wird. In beiden Fällen begannen ‚Wächter‘ die ‚Gefangenen‘ binnen kurzer Zeit zu misshandeln, wobei das reale, auf zwei Wochen angelegte Experiment zum Schutz der ‚Gefangenen‘ nach sechs Tagen abgebrochen werden musste. Die Antwort auf seine Eingangsfrage sucht und findet George A. Dunn mit der Philosophin Hannah Arendt.

Paul Hammond wiederum nähert sich dem Verhältnis von „Time, Memory and Mystery in Veronica Mars“ mithilfe des von Gilles Deleuze entwickelten Konzepts von Vergangenheit, während Catlyn Origitano untersucht, wie sich die Freundschaften Veronicas in das dreigliedrige Freundschaftssystem der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles einpassen, und zu dem Ergebnis kommt, dass weder eine der Freundschaften der Protagonistin noch überhaupt eine zwischen den Figuren der Kategorie der „Perfekten Freundschaft“ zugerechnet werden kann. Wer hätte in einer Stadt wie Neptune aber auch etwas anderes erwartet? Auf zwei ausgesprochene Geistesriesen der Philosophiegeschichte rekurriert Hammond in seinem zweiten Beitrag, in dem er unter Bezugnahme auf Platon und Immanuel Kant erklärt, „why it may be okay for Veronica Mars to break the law“, und dabei festhält, dass Veronicas Heimatstadt „Neptune is a place where obeying the law isn’t always the best way to promote justice.“

Nicht alle Aufsätze des Bandes sind genuin philosophisch. Die an der University of Arkansas lehrende afroamerikanische „assistant professor of criminal justice“ Rejena Saulsberry untersucht etwa die Darstellung von „racial diversity“ in der Serie vor dem Hintergrund des von dem Linguisten Ferdinand de Saussure entwickelten Konzepts hierarchisch organisierter Binaritäten.

Daniel Wack wiederum behandelt in seinem Beitrag „Noir Neptune“ das Verhältnis von Genre und Geschlecht in der Serie und konstatiert höchst angetan, dass „one of the most radical and interesting ways in which Veronica Mars reimangines the genre is by reversing the gender between the film noir’s protagonist and its femme fatal“. Denn in der Serie ist „the noir detective a teenage girl“, während die im Genre obligatorische ‚femme fatale‘ ein „homme fatale“ ist und Logan Ecolls heißt.

Angesichts der Handlung und der Figurenkonstellation kann es nicht verwundern, dass Fragen der Geschlechterverhältnisse in etlichen Beiträgen eine prominente Rolle spielen, treiben doch mehrere Vergewaltiger (unter ihnen mindestens ein Serien-Vergewaltiger) ihr Unwesen. Zudem werden jungen Frauen reihenweise KO-Tropfen verabreicht, andere werden heimlich beim Sex gefilmt, etwa um sie mit den intimen Aufnahmen zu erpressen. Die meisten dieser Untaten werden auch an der Titelheldin begangen, der von einer Figur mit dem sprechenden Namen Dick (Casablancas) sogar noch beschieden wird, an alldem sei sie doch nur selber schuld. Victim Blaming ist denn auch das Thema eines gemeinsam von James Rocha und Mona Rocha verfassten Aufsatzes. Ihr Beitrag „Veronica’s Trip to  the Dentist“ zeichnet sich durch eine sehr differenzierte und genaue Argumentation aus. So führen sie drei zu klärende Faktoren „in determining someone’s responsebility“ an: Gab es einen Kausalzusammenhang zwischen der Handlung und dem infrage stehenden Ereignis, wusste der Handelnden um diesen Zusammenhang und intendierte er das Übel?  Sodann nennen sie einige Kriterien, nach denen sich die jeweilige Schwere der eventuellen Schuld aller irgendwie Beteiligten bemisst, um schließlich zu zeigen, dass ein Vergewaltiger für sein Verbrechen zwar ganz fraglos „fully to blame“ ist, dies jedoch keineswegs heißt, dass andere Personen, welche die Tat ermöglichten oder auch nur begünstigen, darum frei von Schuld seien. Denn „responsibility and blame aren’t zero-sum reckonings“. Das Opfer einer Vergewaltigung oder eines anderen Verbrechens aber, so zeigen sie, ist selbst dann nicht ‚selber schuld‘, wenn es durch sein  unkluges oder moralisch fragwürdiges Verhalten mit zu der Situation beitrug, durch die das Verbrechen ermöglicht wurde. Nebenbei erfährt von man Rocha und Rocha zudem, dass 88 Prozent aller Männer, die sich dem amerikanischen Strafrecht gemäß einer Vergewaltigung schuldig gemacht haben, ihre Tat nicht als Vergewaltigung verstanden wissen wollen.

Kasey Butcher und Megan M. Peters wiederum würdigen Veronica Mars als „a Feminist Icon“. Selbstverständlich thematisieren und kritisieren sie dabei auch die wirklich üble Darstellung der Lilith House-Feministinnen in der dritten Staffel der Serie, die nicht einmal davor zurückschrecken, eine Vergewaltigung vorzutäuschen, um einen Serienvergewaltiger dingfest zu machen. Mit dieser Kritik sind Butcher und Peters – wenig erstaunlich – nicht die ersten. Auf dem Zusatzmaterial der DVD gesteht Rob Thomas, der Macher von Veronica Mars, ein, dass die Darstellung der Lilith House-Feministinnen „really did set off our fan base“. Doch habe er irrtümlich geglaubt, „[to] build up enough feminist cache with the Veronica Mars character that it was ok to play some politically Left women as less then aboveboard“. Thomas versucht seine Darstellung der Serien-Feministinnen damit zu verteidigen, dass „certainly almost every character in our show exists sort in this noir category“ und dass die meisten Figuren der Serie „have something underhanded going“. Immerhin würden sich „at the end of the day“ alle „main villains“ als „white males“ herausstellen. Das trifft zwar alles zu, die jedes üble Klischee übertreffende Darstellung der Serien-Feministinnen kann dies allerdings keineswegs rechtfertigen. Auch Butcher und Peters sehen das so: „With Lilith House, we’re treated to one of the most stereotypical and damaging portraits of feminists in recent years. The Women are presented as  unjustifiably angry, humorless, and militant.“ Damit evozierten sie Vorstellungen über Feministinnen, die oft mit der zweiten Welle der Frauenbewegung in Verbindung gebracht werden. Nun kritisieren Butcher und Peters zwar völlig zu Recht, dass die negative Darstellung der Lilith House-Feministinnen „does a real disservice to the progress made by second-wave-feminists on behalf of women“, doch wenn sie selbst die Feministinnen der 1970er-Jahre in die Nähe der Vorstellung rücken, „that sexuality is necessarily dangerous, harmful, or shameful“, so ist diese ebenso „grossly unfair“ wie die Darstellung der Lilith House-Feministinnen in der Serie. Denn wie Ulrike Heider unlängst zeigte, wurde die Ideologie, Sexualität sei an sich gefährlich und verletzend, in sozialen Bewegungen erst um 1980 virulent, als die feministische Welle bereits abzuebben begann. Vertreten wurde sie vor allem von Maskulinisten und Antifeministen der linken Szene, die sich auf frühere Schriften von Georges Bataille und Michel Foucault beriefen. Die (meisten) Feministinnen der 1970er-Jahre hatten hingegen ein durchaus positives Verhältnis zur Sexualität, wenngleich nicht immer zu sexuellen Interaktionen mit Männern oder der männlichen Sexualität.

Mag man auch mit Butchers und Peters’ These, die Feministinnen der zweiten Frauenbewegung seien sexualfeindlich gewesen, nicht einverstanden sein, so ist ihr Beitrag insgesamt doch ebenso lesenswert, wie es diejenigen aller anderen in diesem Band versammelten AutorInnen sind. Zudem sind die Texte ausnahmslos voller verdeckter Anspielungen, die all jene, die mit der Serie vertraut sind, immer wieder schmunzeln lassen werden. Überhaupt zeigt das Buch einmal mehr, wie unterhaltsam, ja vergnüglich US-amerikanische PhilosophInnen schreiben können.

Titelbild

George A. Dunn (Hg.): Veronica Mars and Philosophy. Investigating the Mysteries of Life (Which is a Bitch Until You Die).
Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2014.
226 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9781118843703

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