Cellounterricht für Dave, Cellosaiten für Max

Peter Pirker und Matthias Breit legen mit „Schnappschüsse der Befreiung“ einen faszinierenden Fotoband über GIs in Tirol am Ende des Zweiten Weltkriegs vor

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da steht er also, David Baumgartner, Pfc., private first class, also ein Gefreiter, aufgenommen am 6. Mai 1945, jetzt ist alles vorbei, bis am 3. Mai Innsbruck erobert wird, gab es oft noch erbitterten Widerstand, ein blutjunger Kerl von 19 Jahren, ich würde wetten, dass man noch nicht einmal Bartflaum sieht, seit 14 Monaten Soldat, eher wie ein Pennäler, wenn da nicht das Armeehemd wäre, das er trägt und das auf dem rechten Ärmel das Emblem der Cactus Division zeigt (ja, einen Kaktus): Nickelbrille, brav gescheiteltes Haar. Baumgartner hat einen langen Fronteinsatz von mehr als 150 Tagen überstanden, er und seine Armeeeinheit hatten sich von Norden durch Bayern nach Österreich durchgekämpft (warum meine Beschreibung hier etwas zappelig wirkt, dazu später).

Wer ist Dave Baumgartner? Er kann, wie so manch anderer GI, noch etwas deutsch, kann bei der (so wichtigen) Verständigung helfen, sein Großvater wanderte im 19. Jahrhundert aus Baden-Württemberg in die USA aus. Baumgartner liebt Baseball, Coca Cola und klassische Musik, er selbst spielt Cello – bei einem Konzert für GIs in Innsbruck fragt er den Cellisten Max Becke, ob er ihm Unterricht geben würde, Becke hingegen braucht Cellosaiten, die Baumgartner postwendend in den USA bei seinen Angehörigen „bestellt“.

Baumgartners Porträtfoto findet sich in einem instruktiven Fotoband, mit dem Matthias Breit, Leiter eines Gemeindemuseums nahe Innsbruck, und der Historiker Peter Pirker nicht zuletzt eine Tiroler Legende zurechtrücken wollen. Man habe sich, so die Lokalmythologie, selbst vom Nationalsozialismus befreit – ja klar, der Nationalsozialismus kam auch in Österreich ohne Nazis aus. Das Buch, so Breit und Pirker, solle „einen Beitrag dazu leisten, bisher stark vernachlässigte Perspektiven zu eröffnen – jene der amerikanischen Soldaten“. Das wird zwar an der Legende wenig ändern, mutmaße ich, aber es setzt ihr etwas entgegen.  

Die Fotos stammen aus zwei unterschiedlichen Quellen. Zum einen gibt es die offiziellen Fotographien des US-Signal Corps, also Fotos von jenen Einheiten, die den Krieg für die amerikanische Öffentlichkeit bildlich darstellen, aber natürlich auch aufbereiten sollten, um Unterstützung zu erhalten: Man führte einen „good war“. Bei der Landung in Algerien 1942 gab es sieben Bildberichterstatter, am D-Day im Juni 1944 schon 100, im April 1945 sind es 200 units, die in mobilen Kommandos unterwegs waren, oft an vorderster Front: ein Kameramann, ein Fotograf, ein Fahrer. Zum anderen können Pirker und Breit auf private Fotos und Fotosammlungen zurückgreifen. Und was machen die GIs für Fotos so unter sich? Sehr wichtig ist es, die buddies im Foto festzuhalten, d.h. diejenigen, mit denen man monatelang zusammen war, sein musste – und vor allem: auf die man sich verlassen können musste. Diese Verbindung, emotional wie existentiell, sieht man in den Fotos, liest sie in den lässig-jungshaft- prahlerisch daherkommenden Bildunterschriften.

Da steht zum Beispiel Zip, lächelt und der Fotograf hält fest: „My buddy Zip – the best machine gunner in the E.T.O.“ (= European Theatre of Operations, europäischer Kriegsschauplatz), „ready for the Krauts.“ Sind das da nur „Kumpels“ – so kommt es natürlich daher. Aber diese Fotos, deren Bildmuster vielleicht auch bei einem Foto während einer Spritztour nach Atlantic City hätte vorkommen können (wären da nicht die Uniformen), erzählen auch etwas ganz anderes. Oft stehen ein paar GIs nebeneinander, wie bei einer Dorffußballmannschaft hat jeder seine Arme auf der Schulter des Nebenmanns: Die hier, diese jungen Männer, haben einen Krieg überstanden. Von Angst und auch Verlust von Kameraden sprechen diese Fotos nur scheinbar nicht – und damit tun sie es doch umso mehr. Verbindung, Einheit, Emotionalität: Das wird auch sichtbar bei Little Benham, dem Regimentshund. Viele amerikanische Einheiten lasen solch ein Maskottchen, Glücksbringer, auf: tierische Displaced Persons im European Theatre.

Sicher, man muss nicht jedes Foto zwanghaft auf den Krieg hin befragen. Es sind tatsächlich „Schnappschüsse“, Bilder, auf denen nichts getan wird, was mit Krieg zu tun hat. Haareschneiden, auf einem Jeep schlafen. Jungs, die rumalbern, jetzt faul sein dürfen. Jungs, die das tun, was Jungs tun. Da sind viele Fotos, manche etwas missglückt, die die jungen GIs beim Volley- oder Baseballspielen zeigen. Und doch sind auch diese privaten Fotos instruktiv. Hier sind die GIs unter sich, Einheimische kommen darauf nicht vor. Hier also ist ihr Refugium, Sport, Bewegung, vielleicht vergessen sie, dass sie gerade nicht in Ohio oder Minnesota sind, sondern irgendwo am Arsch der Welt (heißt: Innsbruck oder Celle oder Marbach am Neckar – von Minnesota oder New York aus betrachtet: Arsch der Welt). Es beeindruckt mich immer noch – Wehrpflicht hin oder her, die in den USA am 16. September 1940 eingeführt wurde –, dass sich die jetzige Demokratie in der Bundesrepublik (auch) dem Mut dieser Milchbubis verdankt. Immerhin kämpften sie, im Gegensatz zum Beispiel zu russischen Soldaten, nicht um ihr Land, verteidigten nicht ihre Heimat. Sie setzten sich Tod, Angst, Verstümmelung aus in einem Krieg, der wahrscheinlich irgendwie nicht der ihre war. Das ist so eine Assoziation, die auftaucht, wenn man auf diese Schnappschüsse von Sportskanonen, buddies und Regimentspromenadenmischungen blickt.

Natürlich gibt es andere Fotos. Nur wenige zeigen Krieg-in-Bewegung – zum Beispiel jene ikonographische Darstellung, bei der Soldaten, geduckt aus einem Straßengraben kommend, das vulnerable Feld der Straße kreuzen, denn geduckt gerannt, um nicht zerfetzt zu werden, wurde im vergangenen Jahrhundert ja viel.

Und dann gibt es Fotos, die schwer deutbar sind. Nehmen wir das Umschlagfoto: Von rechts im Bild marschieren einige GIs mit US-Flagge auf einer Art Landstraße, am Rand stehen Kinder, etwa zwischen fünf und acht Jahre alt, einige salutieren – doch ein kleiner Junge tut das nicht; das Mädchen neben ihm greift seinen rechten Arm und will ihn wohl zum Salutieren nach oben ziehen. Und wie guckt der Junge? Wenn man das wüsste. Versteht er nicht, was da passiert? Ist er zu jung? Drückt sein Gesicht aber nicht auch Abwehr aus? Ist er einfach von der raschen Bewegung der GIs überrumpelt und würde auch brav den rechten Arm heben? Was denkt er? Denkt er überhaupt etwas? Wir werden es nie erfahren, eingefroren ist das Foto, eingefroren bleibt das Rätsel.

Dann gibt es einige Fotos, die die Exhumierung von sechs sowjetischen und zwei polnischen Zwangsarbeitern zeigen, die in den letzten Tagen vor Kriegsende im Gestapo-Lager Reichenau getötet wurden. Auf dem Bild wird der dafür verantwortliche Untersturmführer Martin Schott zum Ort der Exhumierung geführt. Er steht daneben, auf einem Foto blickt er zur Seite auf einen Mann, der etwas aufschreibt; auf einem anderen steht er etwas im Hintergrund und sieht auf die Exhumierung, sagt seine Miene nichts aus oder kann ich es nur nicht erkennen?   

So blättert man durch diesen Fotoband, manchmal hält man inne, das Auge verharrt , man blättert weiter, manches bleibt „nur“ interessant. Vielleicht ist dies Blättern der Ausgangspunkt von Roland Barthes Unterscheidung von punctum und studium in seinem klassischen Buch zur Fototheorie Die helle Kammer. Der Geist der Fotografie, geboren aus stummem Blättern. Selbstverständlich – und auch das macht den Wert dieses Buches aus – deklinieren Pirker und Breit das kleine Einmaleins der Fototheorie(n) durch (Realitätsabbild oder Konstruktion?), aber das ist nicht mein Punkt.

Für Barthes gab es zwei Arten von Fotos: jene, die man mit „höflichem Interesse“ ansieht, zum Beispiel, weil wir eine bestimmte historische Situation sehen, weil für uns etwas, was wir so noch nicht kannten, dokumentiert wird. Wir sehen, aber es trifft uns nicht – das punctum ist ungefähr das, was passieren kann, wenn uns ein Foto, das Detail eines Fotos fasziniert, es trifft uns etwas, weil es etwas in uns trifft, betrifft. Ein beunruhigender und zugleich beglückender Moment, denn oft weiß man nicht, was da trifft, ins eigene Herz des Blickes trifft. Das liegt vielleicht daran, dass was man sieht, zuerst stumm ist. Sätze kommen später oder sie sind so assoziativ hüpfend wie meine obige Beschreibung, sie entspricht einem etwas ungerichteten Wahrnehmungsprozess.

Barthes Unterscheidung ist klassisch, sie ist wichtig, aber sie kam mir immer auch irritierend unrichtig vor, vielleicht verstehe ich sie einfach nicht. Aber angesichts dieses Fotobands ein paar wirre Gedanken dazu zu äußern, könnte vielleicht helfen. Oft also blättert man in einem Fotoband oder sieht mehrere Fotos hintereinander. Oft wird von Bilderflut gesprochen, davon, dass das ja gar nichts mehr hängen bleibe. Das scheint mir falsch. Erstens, weil in der Wahrnehmung sowieso das meiste weggefiltert wird, das betrifft nicht nur Fotos. Zweitens hat jedeR von uns womöglich (s)ein/ihr Imaginäres Museum der Fotobilder im Kopf: private, öffentliche, dies und das, selbstverständlich ist das zuerst einmal eine piktorielle Rumpelkammer. Aber diese Rumpelkammer wird immer wieder neu geräumt, kommt ein neues Foto dazu, dann wird es verlötet, in Beziehung gesetzt zu vielen anderen, wieder stumm, meist versprachlicht man das wohl nicht.

Was also könnte passieren, wenn man durch diesen Band blättert? Oder Fotos an sich vorbeidefilieren lässt? Studium: ja. Weiterblättern. Aber dann – der Wahrnehmungsprozess ist verzögert, zuerst waren wir dem Foto gegenüber höflich, begrüßten es freundlich,  einige Sekunden, weiter. Doch dann, beim nächsten Foto, taucht vielleicht nochmals das vorherige als Bild-im-Kopf auf. Vielleicht. Hier, beim neuen Foto, gibt es ein Detail, das sich assoziativ mit einem Detail des Vorherigen verbindet. Oder auch nicht. Wir blättern zurück. Nein, da war doch nichts. Blättern weiter. Das Auge ermüdet, man wird den Band am nächsten Tag nochmals durchblättern – und langsam setzen sich Dinge zusammen. Vielleicht trifft hier im Nachhall mehr, anderes, immer wieder Neues. Es wird nicht alles zum punctum, aber vielleicht ist Barthes` Unterscheidung zu schroff? Die Wahrnehmung oszilliert vielleicht von punctum zu studium  und wieder zurück. Geht es da nicht dynamischer, diffuser zu? Dunkeln Bilder nicht nach? Was ein studium-Bild war, kann morgens unter der Dusche, nachts beim Aufwachen, plötzlich ein punctum-Bild werden: Ausgangspunkt weiterer Assoziationen, Überlegungen, Fragen. Und das lässt sich, glaube ich, kaum auf wenige Aspekte einschränken. Das Kopfkino baut weiter um.

Und was hat all das mit dem vorliegenden Fotoband zu tun? Vielleicht: Von diesem instruktiven Fotoband blieb mehr hängen (auch wenn das das Wichtigste sein könnte) als: Dave Baumgartner, Cellosaiten, geducktes Rennen. Und beim nochmaligen Blättern wurde anderes wieder wichtig. Mal sehen, wie das morgen in meinem Kopf aussieht.

Titelbild

Peter Pirker / Matthias Breit: Schnappschüsse der Befreiung. Fotografien amerikanischer Soldaten im Frühjahr 1945.
Tyrolia Buchverlag, Innsbruck 2020.
304 Seiten , 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783702238506

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