Ozeanische Gefühle?

Évelyne de la Chenelière erzählt in „Das Meer, von fern“ eine außergewöhnliche Liebesgeschichte

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine rätselhafte, fein gesponnene Liebesgeschichte legt die kanadische Schriftstellerin Évelyne de la Chenelière vor – oder berichtet sie von der Einsamkeit zu zweit, die schließlich unausweichlich in eine Trennung mündet, münden muss? Die Vorstellung einer Liebesbeziehung, in der die Liebenden zu einer geistig-leiblichen Einheit verschmelzen, gründet in der antiken Philosophie. Platon schildert im Gastmahl die leidenschaftlich sich verzehrende Sehnsucht eines Liebenden nach dem komplementären Partner, dem Geliebten. Dem Mythos nach bildeten die Liebenden ursprünglich ein Ganzes, wurden geschieden in zwei Hälften, die einander beherzt und ruhelos suchen. Auf die vorliegende Geschichte gewendet: Pierre suchte Nicole, und Nicole suchte Pierre. Platon fokussiert die Ausschließlichkeit einer solchen erotischen Beziehung. Die Suche findet gewissermaßen ein bacchantisch-dionysisches Glück enthemmter, ekstatischer Lustbarkeiten – von einer späteren Trennung ist nicht die Rede. Im Roman werden wir nicht über Abgründe und Aufschwünge der Liebe philosophisch unterwiesen, aber die Liebesbeziehung von Pierre und Nicole, die sich aufzulösen beginnt, kennzeichnet die Autorin auch sprachlich als eng verknüpft: „Pierre-und-Nicole“. Wie kein anderes Paar scheinen diese beiden zueinander zu gehören – eine Zweisamkeit, die sich auch in einer gemeinsamen Sprache abbildet.

Aus Anschauung und Bewunderung erwachsen Freude und Wohlgefallen am anderen, Begegnungen werden als bereichernd, belebend, erfrischend erfahren – und aus der Vertrautheit erwächst behutsam eine Sprache, die für Begegnungen in liebender Zweisamkeit sehr bestimmte Wörter hat. Pierre also liebt Nicole ganzheitlich, aber nicht für immer – und umgekehrt. Nicole lacht herzlich, küsst Pierre, „ungestüm und voll ungeduldiger Neugier auf das, was kommen würde“. Pierre sagt, sie sei „charmant“. Nur wie können wir Charme verstehen? Pierre erzählt, wie Nicole einem linkischen, gebrechlichen Greis die Schnürsenkel binden würde, der zu fallen drohte, während er, zögernd und unsicher, ins Nachdenken verstrickt bliebe:

Du hättest ihn nicht einmal um Erlaubnis gefragt, du hättest mit einem Lächeln zu ihm gesagt: „Erlauben Sie, Monsieur, ich mach das schon“. Und das wäre charmant gewesen. Charmant. Ich kann das nicht, charmant sein, das hast du mir schon zu verstehen gegeben, aber ich kann deinem Beispiel folgen, also blieb ich nach einer Sekunde – oder eine Woche, je nachdem – stehen und sagte: „Erlauben Sie, Monsieur, ich mach das schon.“ So war das.

Nicoles Anmut leuchtet, der etwas täppische, aber bemühte Pierre folgt ihr, und sie liebt ihn, lächelnd. Nicole denkt darüber nach, wie Partner sich trennen. Bevor sie getrennte Wege gehen, beginnen sie „mit getrennten Rechnungen“: „Anschließend wird er mir die Schlüssel zurückgeben.“ Nicole bleibt etwas skeptisch, Pierre liebt sie vielleicht mehr, zumindest anders, emphatischer? Ekstatischer? Er mag ihre Unbeschwertheit, die er nicht ganz versteht: „Du hast gelacht und mich mit vor Erstaunen rund geweiteten Augen angestarrt, als wäre ich staunenswert, und das hat mir sehr gefallen, diese Art Blick, der da auf mir lag, als wäre ich alles andere als eine Selbstverständlichkeit.“

Zeigen und begegnen sich Liebende einander ohne Maske? Wenn die Liebes- und Lebenspartner sinnieren, kommen sie ins Grübeln, verlieren die spielerische Leichtigkeit und stranden in philosophischen Diskursen, die sie mit sich selbst und mit anderen führen. Liebe kennt keine Argumente, für die Trennung aber gibt es immer Gründe. Was zu der Entzweiung führt, lässt sich zunächst nicht exakt benennen. Natürlich mag es Überlegungen geben, angestrengte Reflexionen. Die Schwerelosigkeit der Sprache, mit der Évelyne de la Chenelière die Beziehungsweisen schildert, täuscht nicht über das bestehende, möglicherweise unauflösliche Rätsel hinweg:

Wer sind wir wirklich füreinander? Schmeichelhafte Spiegel, die noch unsere kleinsten Makel verklären, bis sie es müde sind, uns schöner zu machen, als wir in Wahrheit sind, bis sie sich trüben und zu Scherben zerspringen und unser Spiegelbild für immer zerstören. Und dann versucht man vergeblich, es wieder zusammenzusetzen, aber die Stücke geraten durcheinander und unser Gesicht wird nie mehr dasselbe sein. Nie mehr.

Von Erinnerungen wird berichtet, von einer Vergangenheit, schmerzhaften Erfahrungen, die bis in die Gegenwart hineinreichen und sich weder verdrängen noch bewältigen lassen.

Warum gehen Liebende, wie Pierre und Nicole, auseinander? Platons Mythos ist eine betörende Fantasie für Romantiker, die Liebe aber ein undurchsichtiges Gewebe, das feiner wird, fast durchsichtig, bis es sich auflöst. Ekstatische Momente mochten noch wiederkehren, aber die Ahnung von Fremdheit und Entfremdung ist schon gegenwärtig. Pierre und Nicole „träumten dieselben Träume“ – und beginnen beide, sich davor zu fürchten. Zeigt diese traumhafte Verbundenheit nicht eine besondere Innigkeit? Illusionslos und skeptisch bleibt die Schriftstellerin, wenn sie solchen berückend erscheinenden Empfindungen und Erfahrungen nicht ganz, im Grunde ganz und gar nicht traut. Die Zweisamkeit wirkt noch ausnehmend erfüllend:

Anfangs hat uns das geschmeichelt, unserem Stolz als Liebende geschmeichelt, dem schlimmsten unter allen Arten des Stolzes. Da wir dieselben Träume träumten, fühlten wir uns enger verbunden als alle anderen. Wir brüsteten uns damit, verliebter zu sein als alle Verliebten, da wir selbst im Traum zur selben Geschichten gehörten.

So wenig wie die Hochzeit der schönste Tag des Lebens ist – einer von den anstrengendsten ganz bestimmt –, so wenig können auch diese Gemeinsamkeiten dauerhaft tragend sein. Aller Stolz vergeht. Nicole bemerkt dies früher als Pierre, nämlich dass die „Symbiose kulminierte, wo der Schlaf Liebende normalerweise voneinander trennt“: „Wir, er und ich, träumten oft von diesem Kind, das wir nicht haben würden. Wir wurden nachts zu Eltern in dieser Parallelexistenz, von der alle anderen nichts wussten.“ Das Ende der Beziehung naht unausweichlich, auch wenn sie noch nicht auseinandergehen. Ihre Freunde bemerken nichts: „Ihre beiden Vornamen waren seit Langem miteinander verknüpft, selten sprach man den einen ohne den anderen aus, und so wurden sie, zumindest für ihre gemeinsamen Freunde, zu einer eigenständigen Wendung: Pierre-und-Nicole.“ Die „Klangschönheit“ des Namens bleibt, die „mehr oder weniger bewusst den Bund von Pierre und Nicole oder die Liebe zwischen Nicole und Pierre oder sogar Pierres Ausschließlichkeit für Nicole und umgekehrt bezeichnete“. Das Spiel geht noch weiter, auch wenn es eigentlich längst vorbei ist. Sie glichen einem „Denkmal, vor dem man sich verneigt, ein goldenes Kalb der Zweisamkeit“.

Diese traurige Liebesgeschichte ist außergewöhnlich schön erzählt, ja nuanciert konturiert und komponiert. Von innen her nur lässt sich erahnen, erkennen und ein wenig verstehen, was Évelyne de la Chenelière ihren Leserinnen und Lesern aufzeigt, die eben nicht – wie die Freunde des Paares Pierre und Nicole – ein Ideal der Zweisamkeit lobpreisen, sondern die Bruchlinien zwischen den Liebenden wahrnehmen, ohne zu vergessen, wie sie sehr die beiden einander entdeckten und auch leidenschaftlich zugetan waren. Die Frage, ob die Beziehung von Pierre und Nicole nicht doch eine Zukunft haben könne, drängt sich auf – gaben beide nicht das Bild eines perfekten Paares ab? Was nach außen hin sichtbar ist, genügt nicht, genügt nie. Schwierig genug bleibt es – und Liebende wissen davon –, auf Dauer miteinander verbunden zu sein oder ohne einander auszukommen. Nicole und Pierre verlieren einander nicht verbittert aus dem Blick. Doch wenn das „goldene Kalb“ einmal als solches erkannt ist, wird man dem Götzen – hier der Zweisamkeit – nicht auf Dauer huldigen können. Dieser kurze, tief beeindruckende und berührend erzählte Roman empfiehlt sich vielleicht nicht als Lesestoff für Romantiker, aber umso mehr für alle, die nicht aufhören möchten, sich von Liebesgeschichten sehr besonderer Art literarisch verführen zu lassen.

Titelbild

Évelyne de la Chenelière: Das Meer, von fern. Roman.
Aus dem Französischen von Gerda Poschmann-Reichenau.
Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2019.
135 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783990141854

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