Leichtigkeit resultiert aus Hoffnung

Gertrud Leuteneggers Roman „Späte Gäste“ überwindet Grenzen der Zeit

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erzählerin in Gertrud Leuteneggers neuem Roman Späte Gäste reist an einem kalten Februarabend in ein Dorf im Tessin, um dort am nächsten Tag ihrem langjährigen Partner Orion die letzte Ehre zu erweisen. Sie betritt ein Gasthaus am Waldrand, eine ihr gut bekannte Renaissancevilla, in der sie die Nacht vor der Totenmesse verbringen will. Das Haus ist verlassen – der Wirt ist in seiner sizilianischen Heimat, die Wirtschafterin Serafina beim Fastnachtsauftakt im Dorf. So kauert sich die Erzählerin zunächst im Gartensaal, später im Festsaal der Villa zusammen und horcht in die Dunkelheit. Erinnerungen an Orion, an warme Vorsommer, den süßen Duft von Johannisbeeren, Kindheitslandschaften und eine Sizilienreise mischen sich während ihrer Totenwache mit Halluzinationen. Die Erzählerin versucht, „geborgen von der Trauer“ wach zu bleiben, dämmert, träumt, meint vom Fenster aus Gestalten zu sehen, die in den Garten eindringen. Aus den Fresken an der Wand schälen sich Tiere, immer neue Figuren werden lebendig, eine Spinne erscheint an der Decke. Paralysiert starrt sie, in ein Kaninchenfell gehüllt, auf die Wände. Es scheint, als nähere sich ihr mit der Nacht das Verderben, der Tod.

Bilder wechseln sich in hoher symbolischer Dichte ab. Tief in der Versenkung erinnert sich die Erzählerin, dass der Tod einer Eidechse einem Kind eine „schreckliche und luzide Ahnung vom tiefen Leid dieser Welt“ vermittelte. Hernach erinnert sie sich, dass der Lebenskünstler und Architekt Orion, der auch in der größten Sommerhitze mit Mantel und Hut „auftauchte“ – Attribute ewiger Suche und Pilgerschaft –, mehrfach den Tod überlistete und beispielsweise betrunken gegen eine Mauer raste und überlebte. Die Erzählerin will leidend abwinken: „Der letzte Akt ist blutig. […] Schließlich wirft man uns Erde aufs Haupt, und das ist für immer.“

Die Nacht mit ihren unscharfen Schatten und unbekannten Geräuschen schafft aber nicht nur Raum für Angstträume und Trauer. Schließlich komme, so sagen die Sizilianer, „alles“ vom Meer – das Leben und der Tod. Man solle sich nicht mit dem „tiefen Leid dieser Welt abfinden“. Die Erzählerin weiß, dass der Wirt des Gasthauses, der früher als Restaurator arbeitete, seine Pinsel beiseite warf, um Flüchtlingen zu helfen. In Träumen erscheinen ihr vollbesetzte Schlauchboote vor der Küste Siziliens, der erschütternde Friedhof aus aufgetürmten Schwimmwesten auf Lesbos, Flüchtlinge, die sich mit Holzmasken verkleiden und sich unter die in der Fastnacht traditionell als „Schöne“ und „Hässliche“ Feiernden mischen. Die Erzählerin beschließt sich zu weigern, „Furcht zu empfinden vor dem liebsten Menschen“, Menschen zu verdinglichen und zu animalisieren. Sie erkennt, dass eine Versöhnung mit der Welt möglich ist: „Angesichts des Todes wird manches so leicht.“

Leichtigkeit resultiert aus Hoffnung – aus der Gewissheit, dass ein friedliches Zusammenleben mit den Fremden möglich ist, und aus der Aussicht auf Erlösung von allen Ängsten. Die Erzählerin überwindet auch ihre Angst vor dem Tod. Plötzlich sieht sie auf den sie umgebenden Wänden eine Darstellung des Paradieses und erhält eine Ahnung des Unendlichen. In den Sälen der Villa bilden sich entrückte „Gegenräume zur verrinnenden Zeit“ von Weite, Stille und „rettender Schwerelosigkeit“. Die bedrückende Gegenwart, in der Orion kein Teil des Lebens mehr sein kann, erlischt ebenso wie die Erinnerungen an durchnässte und verkotete Kleidung gestrandeter Flüchtlinge. Gertrud Leutenegger lässt die Dunkelheit in den Sälen der Villa zum Resonanzraum für eine Weltflucht in eine „wirklichere Zeit“, die „Sternenzeit“, werden. Die auf dem Boden kauernde Frau wird in ihrem Roman erfüllt von einem gedankenverlorenen Fernweh und romantischen „Staunen darüber, wie anders ein Leben hätte verlaufen können“.

Das Eigentümliche dieses schmalen Romans ist, dass seine Handlung zwar nur eine Nacht umfasst, zugleich aber in Traumwelten Konflikte der Gegenwart erscheinen und aus diesen ein Netz gewoben wird, das dem Leser einen faszinierenden und bemerkenswert positiven Blick auf die Rätselhaftigkeit des Seins erlaubt. Am Ende der imaginierten Rückkehr in die Vergangenheit sowie Phantasiewelten keimt mit dem Sonnenaufgang die Frage, was jetzt zu tun sei. Sie wird vom wiederkehrenden Wirt beantwortet, der die Frau auffindet und auffordert, nun zur Totenmesse für Orion zu gehen. Die Nacht und die Rückschau werden vollendet. Der Sonnenaufgang ist somit ein Symbol für den Neubeginn. Gertrud Leuteneggers Roman ist ein Zweiklang aus Weltabkehr und Weltzuwendung, Selbstvergewisserung und Zuversicht. Motive der Romantik – die Weltflucht, die wunderbar magische Betrachtung des Vergangenen und das Streben nach der Unendlichkeit am Schauplatz der Renaissancevilla während der Nacht – werden bewusst aufgenommen und raffiniert mit der Flüchtlingsthematik der Gegenwart in Verbindung gesetzt. So gelingt Gertrud Leutenegger ein außergewöhnliches Plädoyer für das Leben. Mit dem Aufgang der Sonne wird unterstrichen, dass der Lebenshunger immer stärker sein muss als die Schatten der Vergangenheit.

Titelbild

Gertrud Leutenegger: Späte Gäste. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
174 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429587

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