Zwischen süddeutscher Genügsamkeit und Berliner Luxus

In „Effingers“ entfaltet Gabriele Tergit ein Panorama jüdischen Lebens zwischen 1878 und 1948

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Effingers am Ende einer langen und zermürbenden Suche nach einem Verlag 1951 zum ersten Mal erschien, hatte die Gerichtsreporterin und Journalistin Gabriele Tergit, alias Elise Hirschmann (1894–1982), mehr als 20 Jahre daran gearbeitet. Dies war kein Garant für Erfolg, denn kaum ein Buchhändler wollte den Roman in sein Sortiment aufnehmen – auch nicht einige Jahre später beim Erscheinen einer gekürzten Fassung. Die Zeit sei noch nicht reif gewesen für eine Auseinandersetzung mit der ausgelöschten jüdischen Kultur, so heißt es heute.

Vor kurzem ist Effingers, laut Gisa Funck ein „autobiographisch grundierter Familienroman“ in voller Länge neu erschienen, angereichert mit einem höchst informativen Nachwort von Nicole Henneberg. Die knapp 900 Seiten zerfallen in 151 meist kurze Kapitel und einen Epilog. In den vorderen und rückwärtigen Umschlaginnenseiten ist – sehr hilfreich – der Familienstammbaum abgedruckt.

Die Effingers, das sind zunächst Mathias und Minna Effinger, die Eltern von Benno, Karl, Paul, Helene, Willy und Bertha. Mathias, Uhrmacher und praktizierender Jude, führt im süddeutschen Kragsheim ein bescheidenes und beschauliches, von festen Rhythmen durchzogenes Leben. Im Jahr 1878 ist sein ältester Sohn Benno bereits in England verheiratet, seine älteste Tochter Helene steht kurz vor der Trauung mit dem erfolgreichen Geschäftsmann Julius Mainzer und wird ihren Geburtsort ebenfalls verlassen. Willy und Bertha bleiben ihr Leben lang unverheiratet in Kragsheim, Karl und Paul ziehen nach Berlin und machen dort als Fabrikanten ihr Glück. Obwohl zu Beginn immer wieder Rückschläge zu verzeichnen sind, obwohl in der Gründungszeit so manche Kreditanfrage fehlschlägt, mausert sich das Unternehmen, das mit der Herstellung von Schrauben beginnt, im Laufe der Zeit zu einem Motorenwerk und schließlich zur Produktionsstätte von sogenannten Volksautos.

Karl heiratet Annette Oppner, Tochter von Emmanuel Oppner, der nach seiner persönlichen Sturm- und Drangphase während der 1848er Revolution Selma Goldschmidt, Tochter des Bankiers Markus Goldschmidt, ehelichte und damit die Bankgeschäfte übernahm. Annettes Geschwister sind Theodor, Klärchen und Sofie. Klärchen heiratet Paul Effinger, sodass die Familie Goldschmidt-Oppner gleich doppelt mit der Familie Effinger liiert ist.

Während zu Beginn des Romans der Eindruck entsteht, dass der Schwerpunkt der Darstellung auf Paul liege, wird man bei fortschreitender Lektüre eines Besseren belehrt. Zwar bleibt Paul im Fokus, dennoch fängt Tergit eine bunte Palette von unterschiedlichsten Ereignissen ein, schildert realistisch und lebendig, was den einzelnen Familienmitgliedern in unruhigen Zeitläuften widerfährt. Dabei ist kein Plot im klassischen Sinne auszumachen, keine logische Sequenz von fiktionalen Ereignissen, eher eine additive Zusammenschau des Besonderen, des Exemplarischen insofern, als so gut wie immer im durchaus Balzacschen Sinne das Individuelle typisiert und das Typische individualisiert erscheint. Sehr unmittelbare Brüche ergeben sich nicht selten zwischen den einzelnen Kapiteln, in denen die Familiengeschichte sukzessive als sehr buntes und breitgefächertes Sittengemälde entrollt wird, das in dieser Multiperspektivität gleichermaßen zwischen den Polen eines einfachen, genügsamen Lebensstils und eines dekadenten, ästhetizistischen Luxus oszilliert. Paul beklagt sich, dass die Sparethik der Effingers bei seinem Bruder und seiner Schwägerin zunichte gemacht werde, während er immer und unbedingt an dieser festhalte. In der Politik, so wird es im Roman formuliert, offenbart sich diese Disjunktion mit der Zäsur zwischen der Epoche Wilhelms I., der „Epoche des eisernen Soldatenbettes“ und dem „Barockglanz Wilhelms II.“. Über allem schwebt zudem von Anfang an das Damoklesschwert des Antisemitismus, das die AkteurInnen jedoch, wenn überhaupt, nur randständig wahrnehmen. Allein der Jurist Waldemar Goldschmidt, jüngster Sohn des Bankiers, hat mit manifesten Nachteilen zu kämpfen. Weil er sich nicht taufen lässt, darf er kein ordentlicher Professor werden. Genauso wie sein Neffe Theodor, Selmas einziger Sohn, liebt er es, in die Oper zu gehen, und ist gegenüber Liebeleien mit einer „Demi-mondaine“, konkret der Klavierlehrerin und „Opernsoubrette“ Susanna Widerklee, die sehr spät ein zweites Eheglück mit ihm finden wird, nicht abgeneigt. Wie streng demgegenüber der Moralkodex ist, muss Sofie, Selmas jüngste Tochter, spüren, die als verdorben gilt, weil sie im Alter von vierzehn Jahren ihrem Schwarm einen Liebesbrief sendet und daraufhin stante pede mit ihrer Schwester Klärchen in ein Mädchenpensionat verschickt wird.

Sofies Ehe mit Udo Gerstmann, einem Leutnant der Reserve, ist kein Glück beschieden: Nach einer Fehlgeburt im späten Stadium der Schwangerschaft lässt sie sich vom spielsüchtigen Gerstmann, der ihr Vermögen durchgebracht hat, scheiden und zieht nach Paris, wo sie als selbstständige Künstlerin lebt. Derweil huldigen Annette und Karl dem „barocken Glanz“ der Jahrhundertwende. Sie ziehen in eine aufwendig renovierte Wohnung am Kurfürstendamm, deren Prunk jedoch von Theodors Haus, das er mit seiner Frau Béatrice bezieht, noch weit übertroffen wird. Theodor gilt als dekadent, als „Fin-de-siècle-Mann“, der in einer „entgötterten Zeit“ lebe, in seinem Haus aber „ausgewählt Bestes aus jeder Epoche“ gesammelt habe. Marianne, Annettes und Karls Tochter, entscheidet sich, ganz im Gegensatz zu ihren Eltern und ihrem Onkel, für eine Tätigkeit in einem Kinderhort. Zu dieser sozialen Arbeit und genauso zu ihrer feministisch-emanzipatorischen Einstellung animiert sie ebenfalls ihre zwei Jahre jüngere Cousine Lotte, Tochter von Paul und Klärchen.

Im Ersten Weltkrieg fallen die beiden Söhne von Ben Effinger. James, Annettes und Karls ältester Sohn, der begeistert in den Krieg zieht, überlebt nicht zuletzt aufgrund raffinierter Tricks zur Lebensmittelbeschaffung. Obgleich Paul und Karls Unternehmen unter den Wirren der Revolution zu leiden hat, geht es daraus einigermaßen unbeschadet hervor. Tragisch jedoch ist der Tod von Pauls Sohn Fritz, der innerhalb weniger Stunden der Spanischen Grippe erliegt. Sein Cousin Erwin, der in französische Kriegsgefangenschaft geraten ist, kann im Sommer 1919 fliehen. Lotte, die, so wie Marianne, manchmal als Alter Ego ihrer Autorin angesehen wird, studiert zunächst in München, wo sie Béatrice, Theodors inzwischen abtrünnige Ehefrau, und ihren Cousin James trifft. Mit ihrem Vater, der ihr die Kraft der Religion, insbesondere der jüdischen, in Erinnerung ruft, steht sie im Briefkontakt. Sie solle sich auf die Werte der „Einfachheit und Bescheidenheit, Genügsamkeit und Selbstbeherrschung“ besinnen. Gerade Lotte steht zwischen den Extremen, die sich bei ihr in den Polen der philosophischen Erkenntnis einerseits und der Hingabe an die Roaring Twenties andererseits konkretisieren. Nach München, wo sie die ersten Reden Hitlers mitbekommt, studiert sie in Heidelberg, heiratet zu guter Letzt ihren Cousin Erwin Effinger, schenkt einem kleinen Mädchen das Leben und arbeitet sodann als Schauspielerin. Mit Erwin führt sie eine offene Ehe. Erst nach einigen Jahren finden sie wieder zusammen und können mit ihren nunmehr zwei Kindern endlich in die erste gemeinsame Wohnung ziehen.

Mit der rapiden Ausbreitung des Nationalsozialismus zu Beginn der 1930er Jahre geht der Niedergang des Bankhauses Goldschmidt, inzwischen von Theodor geleitet, einher. In den Effinger-Werken organisiert der Teilhaber Stiebel eine „Nazizelle“, deren Mitglieder gegen Paul opponieren und schließlich die Führung des Unternehmens an sich reißen. Gleich vier Todesfälle in der Großfamilie flankieren die politische Düsternis: Die inzwischen über 50 Jahre alte Sofie begeht im Jahr 1930 Selbstmord, weil sie unglücklich in einen sehr viel jüngeren Mann verliebt ist. Zwei Jahre später, bezeichnenderweise nur wenige Monate vor Hitlers Machtübernahme, versterben Selma Oppner, ihr Schwiegersohn Karl und ihr Enkel James. Wie stark die Nazis ihr Leben bestimmen, bekommen zuerst Marianne und Lotte zu spüren. Marianne, Regierungsrätin im Wohlfahrtsministerium, arbeitet noch so lange mit ihren streng nationalsozialistischen KollegInnen zusammen, bis ihre Vorgesetzte, die einstmalige Feministin Fräulein Dr. Koch, der Anordnung, alle Juden zu entlassen, Folge leistet. Lotte wiederum wird arbeitslos, als im Theater alle Rollen, die jüdische SchauspielerInnen innehaben, neu besetzt werden. Bereits 1934 zieht Marianne mit Susi und Emmanuel, den beiden Kindern von Erwin und Lotte, nach Palästina. In Deutschland überstürzen sich die fatalen Ereignisse: Julius Mainzer, Pauls Schwager, wird genauso deportiert wie Waldemar. Der nunmehr 81-jährige Paul schreibt kurz vor seiner Deportation einen Brief an seine Verwandten in Palästina. Er bereue, dass er nicht auf seine Frau gehört habe, die Deutschland hätte verlassen wollen. Vor allem jedoch spricht aus diesem Text eine tiefe Frömmigkeit.

Der Epilog führt in das zerstörte Berlin des Jahres 1948. Nur die „alte Frieda“, Angestellte der Familie Goldschmidt, ist in dieser Trümmerlandschaft zu sehen. Sie steckt Samenkörnchen in die Erde.

Während die erzählte Zeit in circa der ersten Hälfte des Romans eher gemächlich dahinfließt und somit die Intensität der Sprungraffungen geringer ausfällt, überschlagen sich danach die Ereignisse, die Figuren scheinen kaum Luft zum Atmen zu haben. „Dass das äußere Geschehen überwuchert, ist vom Künstler so gewollt. Das gerade, dass wir alle mehr oder weniger seit 1914 gelebt worden sind, dass wir nicht mehr Herr und Meister unsres Schicksals waren, das soll eines der Charakteristiken dieser Schilderung sein“ – so schreibt Tergit 1948 an Walter von Hollander, einen Kollegen. Daraus leitet Nicole Henneberg ganz zu Recht ab, dass „der unbarmherzige Motor und eigentliche Held des Romans“ die Zeit sei, die aber erst – so muss man ergänzen – mit der apokalyptischen Gewalt des Antisemitismus zur schicksalhaften Macht, zu einem unausweichlichen, dabei aber alles andere als transzendentalem Fatum avanciert. Das Aufkommen des Antisemitismus verläuft als Klimax – zuerst im Hintergrund als leise Bedrohung, später sich als unkontrollierbarer Leviathan aufbäumend und als unsagbare Macht viele Mitglieder der Familie vernichtend. Tergit lässt Paul und Klärchen, daneben seine Schwester Bertha, Klärchens Onkel Waldemar und dessen Schwägerin Eugenie im Jahre 1942 deportieren und ermorden. Es sind Figuren, die, abgesehen vom jovialen Skeptiker Waldemar, besonders fest in ihrem jüdischen Glauben stehen. Paul mit seiner Genügsamkeit, seiner pragmatischen Entschlusskraft, seiner Experimentierfreudigkeit, Loyalität und Liberalität, Klärchen mit ihrem Witz und ihrer Tatkraft, Bertha mit ihrer Hingabe, Waldemar mit seinem analytisch-intellektuellen Duktus und nicht zuletzt Eugenie, in deren Haus sich alle zu jüdischen Familienfeiern versammeln konnten, personifizieren ohne Ausnahme die jüdische Kultur und führen aufs Krasseste ihre Vernichtung vor Augen. Das Schicksal, gegen das diese Menschen keine Chance hatten, geht auf das Konto unsagbarer Brutalität und Ungerechtigkeit. Der tiefste Irrtum seines „verfehlten Lebens“, so Paul in seinem berührenden und tragischen Abschiedsbrief, sei es gewesen, „an das Gute im Menschen“ zu glauben.

Ein großes Vorbild für Tergit seien Thomas Manns Buddenbrooks gewesen, und Effingers seien ihnen in der Tat ähnlich, lautet der Tenor einiger Rezensionen. „Aus mehreren Gründen“ sei dies aber ein „unglücklicher Vergleich“, so Juliane Liebert in der Zeit. Dem ist zuzustimmen, obgleich an einem Punkt auch die Nähe zu Thomas Mann zu spüren ist. Lässt man die immensen Differenzen im narrativen und stilistischen Bereich sowie die Schilderung der Katastrophe beiseite, dann zeigen sich Parallelen in der Schilderung einer Dekadenz, für die in keiner Weise das Judentum, sondern vielmehr das verantwortlich zeichnet, was viele Autoren der Jahrhundertwende als typischen Lebensstil des Fin de siècle kritisieren. Neben Karl Effinger, der sich nach dem Auszug aus seiner Kragsheimer Provinz sehr schnell an den Luxus der Hauptstadt adaptiert, sind in erster Linie Theodor und James die Protagonisten einer nahezu anachronistischen Fortdauer dieser Lebenshaltung. Theodor entspricht voll und ganz dem Bild des dekadenten Ästheten, der vermutlich sogar in guten Zeiten kein Händchen für das Geschäftliche gehabt hätte. Die Kunstschätze seines Hauses werden schließlich versteigert. Arbeiter seien dabei, „aus den Wänden die Tintorettos herauszureißen und die Gobelins aus dem Rokokosalon“. Die Menge flute durch das Haus, aus dem „der Hauch der Verwesung“ dringe. Dieser Hauch umgibt auch Theodors Neffen James, dessen Krankheit zwar nicht genannt wird, deren Symptome aber – ganz klassisch aufgrund seiner zahlreichen sexuellen Abenteuer – Syphilis nahelegen. Im Zuge seines Siechtums, das unter anderem mit Erblindung einhergeht, besucht ihn eine Vielzahl von Frauen. Ein letztes Mal fährt er mit Mutter, Schwester und Onkel an den Kurfürstendamm, trifft sich dort mit einer Mimi, die er in ein Restaurant ausführt. Kurz vor Beginn seines Todeskampfes lächelt er „das abgründig heitere Lächeln der vollendeten Schönheit“. Es grüßt an dieser Stelle unter anderen Gustav Aschenbach aus Thomas Manns Der Tod in Venedig.

Effingers auf die Bipolarität von Katastrophe und Dekadenz zu verkürzen, auf das abrupte Ende der jüdischen Kultur einerseits und auf das Thema des allmählichen Schwindens bis hin zu dem Topos des Sterbens in Schönheit andererseits, würde bedeuten, den Optimismus zu missachten, den der Roman trotz allem ausstrahlt. Im Jahr 1938 lebt Marianne mit ihrer Nichte Susi in einer palästinensischen „Gemeinschaftssiedlung“, wo sich beide wohlfühlen. Marianne ist glücklich mit ihrer Arbeit im Kinderhaus, die 17-jährige Susi, „derb wie die Effingers und so gesund“, fühlt sich in der Siedlung ebenfalls wohl und behauptet, bereits verlobt zu sein. Im Gegensatz zu ihr ist ihr Bruder Emmanuel begeistert vom Lesen und Lernen. In Susi und Emmanuel, die, grob gesagt, für die Ambivalenz von vita activa und vita contemplativa stehen, ist ein vornehmlich heiterer Blick auf die Zukunft des jüdischen Volkes begründet.

Wer sich auf Effingers einlässt, benötigt Durchhaltevermögen. Die harten Schnitte zwischen den einzelnen Kapiteln und brüsken Sprünge zwischen den Handlungssequenzen bilden eine Art narrative Disparität und sind in dieser Eigenheit nicht immer leicht zu verkraften. Man merkt, so möchte man unterstellen, dem Roman bisweilen seine lange Entstehungszeit an. In diesen leicht holzschnittartigen und statischen Stil ist ein auktorialer Erzähler eingebunden, der kaum in Erscheinung tritt, seine Allwissenheit mitnichten ausspielt, sondern sich hinter ausgeprägter Figurenrede verbirgt. Wenn er jedoch dazu kommt, aus seiner Distanz heraus offener zu agieren, dann manifestieren sich unzweifelhafte Ressourcen vor allem als feine, an detaillierte Beobachtungen gekoppelte Ironie. Damit stellt sich eine zweite Ebene der Narration ein, ein regelrechtes Schweben über den Dingen. Fehlt zwar mitunter das sprachlich Mitreißende, das je ne sais quoi, das eine wirklich gelungene Fiktion ausmacht, so sind doch diese immer wieder einmal aufscheinenden ironischen und/oder metaphorischen Spitzen unbedingt wertzuschätzen. Um nur wenige Beispiele zu geben: Ein „bauchloses Geschlecht“ wachse heran, so klagt Onkel Waldemar, eine Jugend, die nicht mehr in der Lage sei, gutes Essen zu würdigen; James hat „Baedeker vom Balkan, von Rußland, von allen Ländern, in die man eventuell hätte kommen können“ mit in den Krieg genommen. Dies sei viel nützlicher als die „Generalstabskarten“ und das müsse man „sich merken für den nächsten Weltkrieg“. Tergit verknüpft Ironie manchmal mit Situationskomik, so etwa, als Lotte einen drögen Vortrag im „Rat geistiger Arbeiter“ hört und urplötzlich das Licht ausgeht, weil die Arbeiter des Elektrizitätswerks streiken. Ironie verhärtet sich indessen zu bitterer Tragik und düsterer Parodie, als eine der ersten Reden von Hitler präsentiert wird. In ihrem Verlauf dominieren antisemitische Diffamierungen, die Worte „der Jude, der Jude, der Jude“ werden unablässig skandiert. In dieselbe Bresche einer solchen Ironie schlägt die niemals direkt thematisierte, aber dennoch sehr deutlich akzentuierte Wendehalsigkeit zweier Nebenfiguren: die Wandlung von Fräulein Dr. Koch, der nach dem Ersten Weltkrieg so kämpferisch veranlagten Sozialistin und Feministin, zur linientreuen und geistentleerten Nationalsozialistin sowie vor allem die Entwicklung von Mariannes früherem Sozialistenfreund Schröder zu einem „Edel-Nazi“ (Nicole Henneberg).

Warum titelt Gabriele Tergit Effingers und nicht Die Effingers? So genau lässt sich das nicht sagen, es darf aber angenommen werden, dass der Wegfall des bestimmten Artikels die Rolle der Zeit noch einmal besonders pointiert. Effingers sind nicht die partikularen Menschen, auf die man deuten kann. Sie sind zwar individualisiert, nehmen aber vor allem den Stellenwert von Typen ein. Dafür sprechen auch einige Kapitel mit repetitiven Strukturen, mit Leitmotiven, die ein Tableau des jeweiligen Tages im Besonderen und ein Panorama des Entfliehens der Zeit im Allgemeinen skizzieren. Die Kapitel 25, 68, 131 sowie der Epilog, angesiedelt jeweils an einem Samstag in den Jahren 1887, 1913, 1930 und 1948, beginnen stereotyp mit „Was für ein Frühlingstag, dieser Sonnabend im Mai…“. Es folgt die Jahreszahl und darauf „Was für eine Süße, morgens um…“, dann die Uhrzeit. Die Wendungen werden in unterschiedlicher Häufigkeit im Laufe der Kapitel wiederholt. Auf den ersten Blick scheint dieser Stereotypie keine Zahlenlogik oder -mystik innezuwohnen, dennoch zeigt sich hier eine mathematische Komposition, ein Innehalten in der Fiktion sowie eine prononcierte Ironisierung an sensiblen Punkten der fiktionalen Entwicklung insofern, als die „Süße“ des Tages nahezu durchweg einen Kontrapunkt zu den jeweiligen Handlungssequenzen bildet.

Gabriele Tergit wartet insgesamt mit einer tragischen und verdichteten Dokumentation auf, mit einer sich sachlich gebenden, ironisch gerahmten Fiktion, in die man sich einfinden muss und von deren Durststrecken man sich keineswegs entmutigen lassen sollte. Selbst zentrale Ereignisse werden nicht zu Spitzen der Spannung überhöht, sondern sind dem ruhigen Erzählfluss tendenziell unterschiedslos eingestaltet. So ergibt sich nach und nach ein Fresko, das sich aus vielen Miniaturen zusammensetzt. Sein Fluchtpunkt ist die Zeit und in seinem Mittelpunkt steht eine exemplarische Großfamilie, in deren Reichhaltigkeit und Besonderheit die Intensität jüdischen Lebens zu spüren ist. In der Art und Weise, wie die Effingers, Oppners und Goldschmidts präsentiert werden, sind sowohl die Tragik der Auslöschung einer Kultur als auch die Hoffnung auf ihr neues Erblühen lebendig.

Titelbild

Gabriele Tergit: Effingers. Roman.
Mit einem Nachwort von Nicole Henneberg.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
899 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783895614934

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