Bereit, der Welt zu trotzen

Die kanadische Autorin Helen Weinzweig schildert in „Von Hand zu Hand“ die Selbstbefreiung eines Brautpaars mit belasteter Vergangenheit

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihren großartigen Debütroman hat Helen Weinzweig (1915–2010) ihrem Lektor Jim Polk als Loseblattsammlung übersandt, die er nach Belieben sortieren sollte. In einem gemeinsamen Schaffensprozess wurde daraus im Jahre 1973 ein „ordentliches“ Buch. Die Reihenfolge der unbenannten Kapitel scheint nicht in Stein gemeißelt. Der Originaltitel Passing Ceremony wurde einem Roman entlehnt, in dem ein Hochzeitsgottesdienst nur eine „vorüberziehende Zeremonie“ ist.

In einer Steinvilla im schicken Ortsteil Rosedale von Toronto wird eine Hochzeit gefeiert. Das ehemalige Herrenhaus kann für Events gemietet werden. Außen ein Miniaturschloss mit Türmchen, wirkt es innen wie ein gutes Hotel. Die Braut, junges altes Gesicht und geschorenes Haar, sieht schockierend aus und ist als Flittchen „von Hand zu Hand“ gegangen, wie einige Gäste wissen. Der Bräutigam ist depressiv und schwul und denkt sehnsüchtig an seinen Leon mit der olivbraunen Haut.

Ein kleines Schlafzimmer bleibt der dementen Hausbesitzerin vorbehalten, die von ihrem Enkel Tony und dessen Partnerin Edie lieblos versorgt wird. Sie erkennt niemanden mehr, was durch die ständig wechselnden Gäste nicht besser wird. Der Psychopath Tony bekommt einen Orgasmus, wenn er sich vorstellt, dass er gefangen ist und man ihm Handschellen anlegt. Edie hat für ihn das Haus in ein Gefängnis mit Komfort verwandelt; das gute Essen und die aufregenden Partys gehen zu Lasten der zahlenden Kunden.

Nach der Trauung durch einen falschen Geistlichen fordert der Bürgermeister alle zum Gehen auf, die nicht mit ihm auf die Braut anstoßen wollen. Das plötzliche Erscheinen der Hausbesitzerin im Nachthemd und mit nackten Füßen hält man für einen Einfall der erfinderischen Edie. Der Brautvater hatte den Liebhaber seiner ersten Frau ermordet und war jahrelang nicht mehr in Toronto. Wegen des Harndrangs infolge vergrößerter Prostata krümmt er sich auf seinem Sitz. Begleitet wird er von seiner 18-jährigen zweiten Frau, die aus Mexiko stammt und ihr Neugeborenes am Boden liegend stillt.

Nicht alle Gäste können hier erwähnt werden. Die meisten sind einander und auch dem Leser widerwärtig. Mehrere Männer erinnern sich daran, wie die Braut unter ihnen lag. Ein Gast hat sechs neue Handtücher gekauft und möchte mit der Braut durchbrennen. Sie lehnt ab, und er spuckt ihr ins Gesicht. Ein anderer Mann ist überzeugt, dass man die Psyche der Frauen entjungfern muss, hat aber Angst, in seinem Alter das Begehren nicht mehr stillen zu können. Zwei Körper klammern sich keuchend auf gefrorenem Boden im dunklen Garten. Am Ende wird die Braut durch Edie um die fünf Minuten voller Hochrufe und Luftschlangen betrogen, für die sie bezahlt hat. Der einfühlsame Bräutigam kümmert sich besorgt um sie, und sie küsst ihm die Hände. Sie wird fortgehen und mit einem Baby zurückkommen. Alle werden denken, er sei Vater geworden. Beide sind bereit, trotz ihrer problematischen Vorgeschichte gemeinsam der Welt zu trotzen. Zur schonungslosen, oft satirischen Beschreibung des Panoptikums, aus dem sie sich befreien müssen, bedient sich die Autorin einer souveränen Sprache, die vom Übersetzer Hans-Christian Oeser überzeugend ins Deutsche gebracht wird.

Das Leben von Helen Weinzweig, wie Jim Polk es im Nachwort skizziert, böte selbst Stoff für einen bewegenden Roman. Neunjährig mit der Mutter aus Polen nach Toronto in Kanada emigriert, reiste sie später nach Europa, um den Vater zu suchen. Das endete böse, Helen kehrte nach Kanada zurück und erkrankte an Tuberkulose. Die Heilstätte wurde zwei Jahre lang ihre „Universität“. Sie las die bedeutenden englischen Autoren, aber auch den französischen nouveau roman. Nach der Heirat mit dem Komponisten John Weinzweig widmete sie sich ganz der Familie. Erst als die beiden Söhne erwachsen waren, begann sie mit dem Schreiben, nicht als Hobby, sondern als Obsession. Ihre erste Kurzgeschichte erschien 1967. Jim Polk schildert seine Überraschung darüber, dass die Autorin dieses anspruchsvollen und gelungenen literarischen Experiments eine jüdische Hausfrau fortgeschrittenen Alters war. Gern schließt man sich seine Voraussage an, dieser skurrile Roman voller Scharfblick und Weisheit werde Bestand haben.

Titelbild

Helen Weinzweig: Von Hand zu Hand.
Aus dem kanadischen Englisch Hans-Christian Oeser.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133281

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