Varianten der Zukunft

Der erste Band der „Schriften zur kollektiven Anthropologie“ von Pierre Bourdieu enthält Bekanntes, das man neu lesen sollte

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die hier vorliegenden zehn Aufsätze Pierre Bourdieus (1930–2002) sind alle schon auf Deutsch erschienen. Sieben der französischen Originaltexte wurden zwischen 1959 und 1964 publiziert, ein Text stammt aus dem Jahr 1972, ein zweiter aus dem Jahr 1989, ein dritter ist von 2003, aber inhaltlich gehören sie sämtlich zur frühen Phase Bourdieus. Sie behandeln zwei Themenkomplexe, die mit seiner Biographie eng verbunden sind: 1930 in Denguin im Department Pyrénées-Atlantiques geboren als Sohn eines Landwirts und späteren Postangestellten, studierte Bourdieu Philosophie an der École normale supérieure. 1955 wurde er zum Militärdienst eingezogen und kam nach Algerien. Dort begann er sich für die Kultur der Kabylen, eine Teilgruppe der Berber, zu interessieren und führte während und nach seinem Militärdienst zwischen 1957 und 1960 ethnologische Feldforschung durch. Später forschte er im Béarn, einer Gegend in den Pyrenäen, die mit dem französischen Baskenland zusammen das Département Pyrénées-Atlantiques bildet, also jene Region, aus der Bourdieu selbst stammt.

Drei Arbeiten in Tradition und Reproduktion behandeln das Phänomen der Ehelosigkeit in der bäuerlichen Gesellschaft des Béarn, sie hängen, ebenso wie die Arbeiten zu Algerien, jeweils eng miteinander zusammen. Daher will ich auch nicht jeden Aufsatz en détail nachzeichnen. Es wäre auch nicht so interessant, nach Spuren jener Konzepte zu suchen, die mit Bourdieus Namen verbunden sind (u.a. Habitus; Kapitalsorten; soziales Feld), denn dies ist in vielen Kommentierungen und Erläuterungen geschehen; zur Theorie Bourdieus insgesamt kann man die hervorragende Einführung von Markus Schwingel, 2018 in achter Auflage erschienen, lesen. Ich will nur einen Aufsatz aus diesem zweiten Band der Schriften Bourdieus herausgreifen, der wiederum den ersten Band zur kollektiven Anthropologie darstellt, herausgegeben von Franz Schultheiss und Stephan Egger.

Der zentrale Gedanke in Die traditionale Gesellschaft. Einstellung zur Zeit und ökonomisches Verhalten besteht darin, dass Bourdieu meint, das „Funktionieren eines Wirtschaftssystems“ setze die Existenz eines bestimmten Sets mentaler Einstellungen gegenüber Welt und Zeit voraus. In jeder Gesellschaft sind Art des Wirtschaftens und „Einstellungen […]. aufeinander abgestimmt“. Die westliche Wirtschaftstheorie behauptet, sie basiere auf den anthropologisch vorgegebenen „Einstellungen des Wirtschaftssubjekts“. Doch ist ihr das konkrete Wirtschaftssubjekt auch unserer Gesellschaften fremd (und das fremder Kulturen allemal). Die Wirtschaftstheorie versteht sich nicht als Kapitel der Anthropologie, vielmehr erscheint diese als „Anhängsel der Ökonomie“. Aber die Einstellungen, die in einer kapitalistischen Marktwirtschaft herrschen (sollen), sind nicht universell, sie werden bloß als universell unterstellt.

Die koloniale Überwältigung durch die europäische Zivilisation stellt das traditionale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Algeriens radikal in Frage. Individuen westlicher Gesellschaften werden über homogenisierende Dressurmaßnahmen (Erziehung in der Primärfamilie, Schul-, Ausbildungssystem) in die kapitalistische Ökonomie so hineinsozialisiert, dass sie idealiter keine Diskrepanz zwischen Einstellung und Ökonomie wahrnehmen. Individuen, deren Kultur usurpiert wurde, müssen sich, weil anders sozialisiert, mühselig an kapitalistisches Denken anpassen. Die koloniale Herrschaftsbeziehung sanktioniert sie überdies mit Entwertung, Unterwerfung, Strafen.

Das wichtigste Moment unserer ökonomischen „Rationalität“ ist eine spezifische Einstellung zur Zeit, genauer: zur Zukunft resp. ein spezifisches Konstrukt der Relation zwischen Gegenwart und Zukunft. Die „gesamte Existenz“ muss sich „im Hinblick auf einen abwesenden, abstrakten und imaginären Punkt hin“ organisieren. Zentral dabei sind (vermeintliche) „Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit“. Die Zukunft scheint „dem Menschen ein Feld zahlloser, seiner Kraft oder Berechnung zugänglicher und beherrschbarer Möglichkeiten“ zu bieten, sie erscheint in diesem Sinne offen, weil durch uns herbeiführbar. Das ist unser Konzept von Zukunft: Vorausplanung.  

Das Konzept des algerischen Individuums von Zukunft ist nicht das der Vorausplanung, sondern das der Vorsorge. Man legt Vorräte an (z.B. Weizen, Gerste), aber nicht als „Kapital“, das einen Surplus erzeugen soll. Was von der Ernte bleibt, wird nicht als Saatgut benutzt, um höhere Erträge zu erzielen. Weizen etc. wird aufbewahrt, um ihn für späteren Verzehr aufzusparen. Das algerische Individuum lebt also nicht nur für den Augenblick, unterwirft sich nicht bloß quietistisch den Unwägbarkeiten der Zukunft, wie es ein rassistisches Klischee behauptet, das die kognitive Unterlegenheit des Kolonisierten „beweisen“ soll.

Das westliche Konzept versteht Zukunft als durch eigene Handlungen in der Gegenwart plan-, beherrsch- und kontrollierbar. Zukunft wird durch unser jetziges Tun gesichert. Bei unserer Art des Wirtschaftens liegen zwischen Anfang und Ende des Produktionsprozesses eine große Zeitspanne und komplexe Zwischenschritte. Dabei soll die „rationale Berechnung den fehlenden Gesamtüberblick ersetzen“. Gegenwart ist hier (das impliziert das Konstrukt des „Fortschritts“) lediglich eine defizitäre Zukunft: ein Nochnicht des stets Erreichbaren. Das ist eine offensive Vorstellung von Zukunft. Beispiel: Ich mache jetzt, mit zwanzig, eine Ausbildung über bestimmte zertifizierte Zwischenschritte (B.A., M.A., Dr.), um nach Abschluss einen guten, gesicherten Job zu erhalten.

Traditionale Gesellschaften haben ein defensives Verständnis der Zukunft. Es soll verhindert werden, was in der Zukunft nicht kommen soll: Hunger. Die Zukunft ist ein in der Gegenwart „virtuell enthaltenes ‚Kommendes‘“, das „mit der Gegenwart durch ein unmittelbar der Erfahrung entnommenes oder durch frühere Erfahrungen geknüpftes Band vereint“ ist. Die Gegenwart ist hier nicht defizitäre Zukunft, sondern das, was schon aus der Vergangenheit bekannt war und sich in die Zukunft fortschreiben wird.

Die Motive, die Vorsorge vs. Vorausplanung steuern, sind unterschiedlich. Vorsorge wird nicht bestimmt durch eine (individualistische) „Zielvorstellung“, sondern durch das „Bemühen, sozialen Geboten zu entsprechen“, Ehre ist dabei zentral. Das Individuum in der traditionalen Gesellschaft ist nicht egoistisch-kalkulierend, sondern sieht sich eingebettet in den kollektiven oikos einer Gruppe oder der Familie. Angenommen, Verwandte müssten ein Grundstück verkaufen, dann bemüht man sich, dieses Grundstück zu kaufen, um es der Familie zu erhalten – selbst wenn man sich dabei ruiniert. Ein zweites kollektives Motiv kann soziale Distinktion sein. Man kauft ein zweites Ochsenpaar, obwohl es gerade nicht benötigt wird und obwohl man es vielleicht wieder verkaufen muss. Es geht um Bewunderung, Anerkennung.

Zentral also sind die unterschiedlichen Zeitauffassungen zwischen traditionaler und kolonisierender westlicher Gesellschaft. Für die traditionale Gesellschaft ist die Zukunft „ein Nichtsein“, das „erfassen zu wollen vergeblich wäre, ein Nichts, das uns nicht gehört“. Die Arbeit des Bauern dient nicht dazu, Gewinn zu erzielen. Es geht um Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse, ums Überleben. Das hängt auch damit zusammen, dass der Bauer Arbeit in einem bestimmten, von der Natur abhängigen Rhythmus vollführt und dass er auf das Wohlwollen der Natur angewiesen ist. Das impliziert andere Zeittaktungen und -auffassungen, aber auch ein anderes Verständnis von der Beherrschbarkeit der Zukunft: „Die traditionale Gesellschaft versichert sich der Zukunft, indem sie sich bemüht, sie mit den ihr eigenen Mitteln zu modeln, nämlich nach dem Vorbild der Vergangenheit; indem sie versucht, den Umfang des Möglichen, in dem alle unbekannten und ahnend vorweggenommenen Bedrohungen stecken, auf die beruhigende, da überwundene und beispielgebende Vergangenheit zu reduzieren“, die traditionale Gesellschaft sichert sich gegen die Unvorhersehbarkeit der Zukunft ab.

Sicher ist Bourdieus Darstellung der Unterschiede zwischen „traditionaler“ und „moderner“ Gesellschaft zu dichotom (und meine versimpelnde Verknappung entdifferenziert noch mehr). Man findet leicht Einwände. Erstens verfügen nicht alle Subjekte einer Gesellschaft über jenen „bestimmten Typ ökonomischen und […] zeitlichen Bewusstseins“, wie es der vorherrschenden Ökonomie entspricht (weshalb diese mit unterschiedlichen Mitteln zur jeweiligen Räson gebracht werden: Tratsch im Dorf, „Geschnittenwerden“ des Nichtangepassten, soziale Ächtung: Sperrung von Hartz-IV bei Nichtbefolgen der Regeln). Zweitens hat jede Gesellschaft Reglements für Individuen, die zum Beispiel aufgrund von Krankheit den jeweiligen Anforderungen nicht folgen können (früher Almosen, heute u.a. Frühberentung bei Einschränkungen). Drittens funktionieren Ökonomien nie nur nach einer Räson. Es gibt auch bei uns andere Zeitrhythmen und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein „traditionale“ Verhaltensweisen. Zukunft als Vorsorge: Das Ernten der Äpfel im Herbst im eigenen Garten, deren Einlagerung (um ein triviales Beispiel zu nennen). Viertens spielt der Wunsch nach sozialer Distinktion auch eine zentrale Rolle: man braucht einen dickeren Benz im Carport als der Nachbar – auch wenn man sich den nicht leisten kann.

Gleichwohl ist Bourdieus pointierte Unterscheidung interessant. Zum Schluss einige heterogene Assoziationen dazu. Die Entwertung von Berufsabschlüssen seit etwa Mitte der 1990er Jahre (Stichwort: lebenslanges Lernen) macht die eigene Biographie tendenziell unbeherrschbar. Vielleicht sprechen die Finanzkrise 2008/9, der Klimawandel und die jetzige Corona-Pandemie der Vorstellung „rationaler“ Kalkulierbarkeit Hohn. Die Zukunft ist nicht planbar. Bei der Finanzkrise schredderte die schiere Komplexität der ökonomischen Faktoren die Vorstellung einfacher von A-nach-B-Zweckrationalität. Das wird bleiben. Beim Klimawandel schlägt sich eine seit 200 Jahren laufende Entwicklung nieder, die Komplexität der Einflussfaktoren, die global wirken, machen auch hier Planbarkeit unmöglich. Die Corona-Pandemie schließlich zeigt u.a., dass eine von Menschen in die Menschenwelt integrierte Natur ihrer eigenen Wege geht. Natur lässt sich, das zeigen Klimawandel und Pandemie, nicht einfach als Faktor einer rationalen Rechnung begreifen. Ihre Eigenwilligkeit ist nicht beherrschbar.

Die Entwicklung der Komplexität(en) der globalen Wirtschaft, des Klimawandels und der Corona-Pandemie verweisen überdies darauf, dass wir neben gewusstem Nichtwissen auch nicht-gewusstes Nichtwissen produzieren. Es bleibt dabei: Das moderne Wirtschaften ist das Resultat menschlicher Handlungen aber nicht menschlicher Planung – wie es Adam Ferguson formulierte. Aber eine unsichtbar ordnende Hand existiert nicht. Heißt das, man sollte eher auf den Modus Vorsorge umschalten und „traditionaler“ denken? Immerhin hätten wir dann im Frühjahr mehr Masken zur Verfügung gehabt und manche Länder mehr Intensivbetten. Nein, darum ging es mir nicht. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass „Rationalität“ ein relativer Begriff ist. Und, bezogen auf Bourdieus Schriften, dass es sich lohnen könnte, den einen oder anderen Aufsatz darin neu zu lesen.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Tradition und Reproduktion. Schriften zur kollektiven Anthropologie 1.
Hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
450 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298961

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